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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 11.05.2006
Aktenzeichen: 12 ME 138/06
Rechtsgebiete: AufenthG, EMRK


Vorschriften:

AufenthG § 25 V
AufenthG § 60a II
EMRK Art. 8
Zur Gewährung von Abschiebungsschutz gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK nach jahrelangem (lediglich geduldeten) Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland ("faktische Inländer").
Gründe:

Die Beschwerde der Antragstellerin - einer 1985 geborenen und 1993 in Deutschland eingereisten mazedonischen Staatsangehörigen - ist zulässig. Das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis für die Gewährung von Abschiebungsschutz ist nicht dadurch entfallen, dass die für den 30. Januar 2006 vorgesehene Abschiebung der Antragstellerin gescheitert ist. Die Antragsgegnerin hat im Beschwerdeverfahren lediglich den Eltern und minderjährigen Geschwistern der Antragstellerin bis zum 19. Juli 2006 befristete Duldungen erteilt, nicht aber - im Hinblick auf ihre Volljährigkeit - der Antragstellerin, deren Abschiebung die Antragsgegnerin weiterhin für rechtmäßig hält. Unter diesen Umständen hat sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel, die Antragsgegnerin einstweilen zu verpflichten, von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegenüber der Antragstellerin abzusehen, nicht erledigt. Die Beschwerde hat aber in der Sache keinen Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsanspruch der (im erstinstanzlichen Verfahren noch vier) Antragsteller sei nicht gegeben. Sie hätten keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60 a Abs. 2 AufenthG, weil ihre Abschiebung weder aus rechtlichen noch aus tatsächlichen Gründen unmöglich sei. Der Mutter der Antragstellerin stehe Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG wegen der von ihr geltend gemachten Erkrankung nicht zu. Da auch der Vater bzw. Ehemann keinen Anspruch auf eine Duldung habe (vgl. dazu Beschluss des VG vom 26.1.2006 in dem Parallelverfahren 10 B 594/06), könnten die Antragsteller aus dem Schutz von Ehe und Familie nichts Günstiges herleiten. Aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 28. Januar 2005 ergebe sich, dass die Antragsteller als Rückkehrer nicht auf der Straße leben müssten. Gegebenenfalls würden sie in Gemeinschaftsunterkünften, Auffanglagern oder Flüchtlingszentren untergebracht. Die Antragsteller hätten auch keinen durch eine Duldung zu sichernden Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Da eine freiwillige Ausreise nach Mazedonien möglich sei, komme insbesondere ein Anspruch gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG nicht in Betracht.

Mit ihrer dagegen erhobenen Beschwerde macht die Antragstellerin geltend, das Verwaltungsgericht habe die Reichweite des Art. 8 EMRK und der dazu ergangenen Rechtsprechung insbesondere des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts verkannt. Sie sei in die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland integriert und als sogenannte faktische Inländerin anzusehen. Sie habe in Deutschland den Realschulabschluss erworben und habe eine Ausbildungszusage für August 2006 für die Ausbildung zur Altenpflegerin. Sie habe keinen Kontakt mehr zu ihrem Heimatland Mazedonien und sei mit den dortigen Lebensverhältnissen nicht vertraut. Sie spreche deutsch und beherrsche die mazedonische Sprache nicht. Ihre Muttersprache albanisch sei in Mazedonien eine Minderheitensprache, die sie lediglich bruchstückhaft verstehen und sprechen, nicht aber schreiben könne. Die Tatsache, dass ihre Eltern bei der Einreise in Deutschland nicht die richtige Staatsangehörigkeit angegeben hätten, könne ihr nicht zugerechnet werden, weil sie damals noch minderjährig gewesen sei.

Mit diesen Einwendungen, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, dringt die Antragstellerin nicht durch. Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch auf Aussetzung ihrer Abschiebung nach Mazedonien (weiterhin) nicht dargetan. Die Voraussetzungen für ihre Abschiebung gemäß § 58 AufenthG liegen vor, weil die freiwillige Erfüllung ihrer vollziehbaren Ausreisepflicht nicht gesichert ist.

Die Abschiebung der Antragstellerin ist nicht aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen im Sinne von § 60 a Abs. 2 AufenthG unmöglich. Insbesondere stellt sie keinen unzulässigen Eingriff in das Recht auf eine geschützte Privatsphäre gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK bzw. dem aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG ableitbaren Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dar. Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte - EGMR - garantiert die EMRK nicht das Recht eines Ausländers, in einen bestimmten Staat einzureisen oder sich dort aufzuhalten oder nicht ausgewiesen zu werden. Die Vertragsstaaten haben nach allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundsätzen das Recht, über die Einreise, den Aufenthalt und die Abschiebung fremder Staatsangehöriger zu entscheiden. Die Entscheidungen der Staaten können aber in bestimmten Fällen in das in Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingreifen (EGMR, Entscheidung vom 16.9.2004 - 11103/03 - (B. ./. Deutschland), NVwZ 2005, 1046). Dabei ist das Recht auf Achtung des Privatlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK weit zu verstehen und umfasst seinem Schutzbereich nach u.a. das Recht auf Entwicklung der Person und das Recht darauf, Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt anzuknüpfen und zu entwickeln und damit auch die Gesamtheit der im Land des Aufenthalts gewachsenen Bindungen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 11.1.2006 - 18 B 44/06 -, juris, unter Hinweis auf Rechtsprechung des EGMR). Die Vorschrift darf aber nicht so ausgelegt werden als verbiete sie allgemein die Abschiebung eines fremden Staatsangehörigen nur deswegen, weil er sich eine bestimmte Zeit im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates aufgehalten hat (EGMR, Entscheidung v. 16.9.2004, a.a.O.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 7.2.2006 - 18 E 1534/05 -, juris; Nds. OVG, Beschl. v. 11.4.2006 - 10 ME 58/06 -, juris). In das Recht kann im Einzelfall vielmehr nach Art. 8 Abs. 2 EMRK unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eingegriffen werden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 1.3.2004 - 2 BvR 1570/03 -, EuGRZ 2004, 317; BVerwG, Urt. v. 29.9.1998 - 1 C 8.96 -, InfAuslR 1999, 54; Nds. OVG, Beschl. v. 2.12.2005 - 5 ME 236/05 u.a. -). Dabei ist wesentlich zu berücksichtigen, ob der Betroffene über intensive persönliche und familiäre Bindungen im Aufenthaltsstaat verfügt und er faktisch nur noch hier sein Privatleben führen kann (EGMR, Urt. v. 16.6.2005 - 60654/00 - (C. ./. Lettland), InfAuslR 2005, 349; Nds. OVG, Beschl. v. 11.4.2006, a.a.O.).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe stellt sich die beabsichtigte Abschiebung der Antragstellerin nach Mazedonien nicht als unverhältnismäßig dar. An der Durchsetzung ihrer Ausreisepflicht besteht ein erhebliches öffentliches Interesse. Sie dient dem gesetzlichen Zweck der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Die Antragstellerin hält sich seit ihrer Einreise im Jahre 1993 in der Bundesrepublik Deutschland nicht rechtmäßig auf, ihr Aufenthalt wurde seitdem vielmehr nur geduldet. Ihr Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung ist erfolglos geblieben (vgl. den ablehnenden Bescheid der Antragsgegnerin vom 7.3.2002, Urteil d. VG vom 28.4.2003 - 10 A 4222/06 -, Beschluss d. Sen. v. 23.7.2003 - 12 LA 256/03 -). Ebenso hat eine Petition der Familie der Antragstellerin beim Niedersächsischen Landtag keinen Erfolg gehabt (vgl. Schreiben des Präsidenten des Nds. Landtages an den früheren Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin vom 7.12.2005). Die Antragsgegnerin hat die Antragstellerin mit ihren Eltern und Geschwistern nicht nur mit dem Bescheid vom 3. März 2002 zur Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland aufgefordert und ihre Abschiebung angedroht, sondern die Abschiebung mit weiteren Schreiben vom 3. September 2004 und 19. Oktober 2005 angekündigt. Auf einen dauerhaften Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland konnte und kann die Antragstellerin sich deshalb nicht einstellen. Erschwerend kommt hinzu, das ihr Aufenthalt zunächst jahrelang im Hinblick auf falsche Angaben ihrer Eltern, wonach sie bosnisch-herzegowinische Staatsangehörige seien, als Bürgerkriegsflüchtling geduldet wurde. Erst im Dezember 1999 wurde anlässlich einer Wohnungsdurchsuchung bekannt, dass die Familie aus Mazedonien stammt und damit auch von der mazedonischen Staatsangehörigkeit der Antragstellerin auszugehen ist. Die unzutreffenden Angaben ihrer Eltern muss die Antragstellerin sich zurechnen lassen, denn aufgrund ihrer damaligen Minderjährigkeit haben ihre Eltern die entsprechenden Erklärungen für sie als ihre gesetzlichen Vertreter abgegeben.

Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die wirtschaftliche Integration der Antragstellerin bisher nicht gelungen ist. Eigenen Angaben zufolge lebt sie von Sozialhilfe. Dass sich diese Situation in absehbarer Zeit ändert und sie ihren Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme von öffentlichen Sozialleistungen wird bestreiten können, ergibt sich nicht schon im Hinblick auf die von ihr erstrebte Ausbildung zur Altenpflegerin bzw. dem vorgelegten Ausbildungsangebot der AWO Hannover vom 7. Februar 2006 und ist auch sonst nicht ersichtlich.

Die von der Antragstellerin geltend gemachten persönlichen Belange, d. h. ihre seit 1993 - dem Zeitpunkt ihrer Einreise - entstandenen persönlichen Bindungen in der Bundesrepublik Deutschland, ihr in Deutschland erworbener Schulabschluss und die Aussicht auf eine Ausbildungsstelle sowie das behauptete Fehlen von Bindungen an ihr Heimatland Mazedonien sind demgegenüber nicht als derart schwerwiegend anzusehen, dass ihre Abschiebung mit Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht vereinbar wäre. Die Antragstellerin ist volljährig und ledig. Sie hat keine Kinder und ist in einem Alter, in dem ihr der Aufbau einer selbständigen Lebensgrundlage in ihrem Heimatland zumutbar ist. Auch wenn sie eigenen Angaben zufolge nicht die mazedonische Sprache spricht, so ist davon auszugehen, dass sie noch über Grundkenntnisse der albanischen Sprache und damit der in Mazedonien verbreiteten Sprache der zweitgrößten Ethnie in diesem Land verfügt bzw. diese sich innerhalb eines kurzen Zeitraums aneignen kann. Sie hat sich zwar dahin eingelassen, dass sie albanisch nicht schreiben und nur bruchstückhaft verstehen und sprechen könne, doch ist zu berücksichtigen, dass sie erst im Alter von etwa 8 1/2 Jahren mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach Deutschland ausgereist ist, d. h. in einem Alter, in dem die Sprachentwicklung (in ihrer Muttersprache) schon weit fortgeschritten gewesen sein dürfte. Selbst wenn das nicht der Fall gewesen sein sollte, können die geltend gemachten sprachlichen Defizite nicht als unüberwindbares Hindernis für eine Rückkehr nach Mazedonien angesehen werden. Entsprechendes gilt in bezug auf die familiären Bindungen der Antragstellerin. Unverheiratete und kinderlose Ausländer - wie hier - genießen einen schwächeren aufenthaltsrechtlichen Schutz (BVerfG, Beschl. v. 1.3.2004, a.a.O. unter Hinweis auf Rechtsprechung des EGMR). Die Antragstellerin ist inzwischen 21 Jahre alt, so dass ihr eine selbständige Lebensführung ohne ihre Eltern und Geschwister abverlangt werden kann. Dass sie aufgrund besonderer Umstände auf deren Unterstützung angewiesen wäre (vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 1.3.2004, a.a.O.) behauptet sie nicht und ist auch sonst nicht zu erkennen. Die notwendige Versorgung der Antragstellerin ist nach den vorliegenden Erkenntnissen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28. Januar 2005, S. 18 ff.) in Mazedonien hinreichend gesichert.

Die Abschiebung der Antragstellerin verstößt auch nicht gegen Art. 6 Abs. 1 GG oder Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG. Diese Grundrechte vermitteln der volljährigen Antragstellerin unter Zugrundelegung der zuvor dargelegten Erwägungen zu Art. 8 EMRK keinen weitergehenden Abschiebungsschutz. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist geklärt, dass die Beziehungen zwischen einem erwachsenen Kind und seinen Eltern keinen weitergehenden aufenthaltsrechtlichen Schutz durch Art. 6 Abs. 1 GG bzw. Art. 8 EMRK angezeigt erscheinen lassen, wenn nicht das erwachsene Kind auf die Hilfe der Eltern angewiesen ist und sich diese Hilfe nur im Inland erbringen lässt. Für ein derartiges Angewiesensein auf elterliche Hilfe fehlt es hier an Anhaltspunkten. Dass die Eltern (und Geschwister) der Antragstellerin selbst über keinen gesicherten Aufenthaltsstatus in der Bundesrepublik Deutschland verfügen und nach Ablauf der ihnen im Laufe des vorliegenden Beschwerdeverfahrens bis zum 19. Juli 2006 erteilten Duldungen möglicherweise (erneut) damit rechnen müssen, gleichfalls abgeschoben zu werden, bedarf deshalb keiner weiteren Vertiefung.

Der Abschiebung der Antragstellerin steht weiterhin nicht entgegen, dass - soweit ersichtlich - über ihren Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 13. Januar 2005 noch nicht entschieden worden ist. Da sich die Antragstellerin nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, führt der Antrag gemäß § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht dazu, dass ihr Aufenthalt bis zur Entscheidung über den Antrag als erlaubt gilt. Die Antragstellerin hat auch in der Sache einen durch eine Duldung zu sichernden Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis - insbesondere einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG - nicht dargetan, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt. Insbesondere ist die Ausreise nicht aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen im Sinne von § 25 Abs. 5 AufenthG unmöglich.

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