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Beginn der Entscheidung

Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 19.11.2009
Aktenzeichen: 13 MC 166/09
Rechtsgebiete: AsylVfG, GG, VO (EG) Nr. 343/2003


Vorschriften:

AsylVfG § 27a
AsylVfG § 34a Abs. 1
AsylVfG § 34a Abs. 2
GG Art. 16a Abs. 2 S. 3
VO (EG) Nr. 343/2003
Der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG, nach der ein Asylbewerber nach Griechenland als den zur Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll, stehen jedenfalls derzeit - aufgrund der aktuellen verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung - die Regelungen in § 34a Abs. 2 AsylVfG und Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG nicht entgegen.
Gründe:

I.

Der Antragsteller reiste über Griechenland in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte in Bremen einen Asylantrag. Nachdem Griechenland der Aufnahme des Antragstellers zur dortigen Durchführung des Asylverfahrens zugestimmt hatte, entschied die Antragsgegnerin, dass der Asylantrag nach § 27a AsylVfG unzulässig sei. Ferner ordnete sie gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG die Abschiebung des Antragstellers nach Griechenland an. Das Verwaltungsgericht hat einen Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wegen des in § 34a Abs. 2 AsylVfG gesetzlich geregelten Ausschlusses der gerichtlichen Aussetzung der Abschiebung abgelehnt. Im Klageverfahren hat das Verwaltungsgericht hingegen den angegriffenen Bescheid insgesamt aufgehoben, weil die sechsmonatige Überstellungsfrist nach Griechenland bereits vor Erlass des Bescheides abgelaufen und somit Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig geworden sei. Dagegen hat die Antragsgegnerin einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt, über den noch nicht entschieden ist. Am 16. November 2009 hat der Antragsteller im Hinblick auf die für den 23. November 2009 vorgesehene Abschiebung nach Griechenland die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt.

II.

1.

Dem Antragsteller ist nach § 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 119 Abs. 1, 121 ZPO Prozesskostenhilfe für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu bewilligen. Die für die Prozesskostenhilfebewilligung erforderlichen hinreichende Erfolgsaussichten des Rechtsschutzbegehrens des Antragstellers sind gegeben, wie sich aus den Ausführungen zu 2. ergibt.

2.

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, über den wegen des anhängigen Antrags auf Zulassung der Berufung das Oberverwaltungsgericht als Gericht der Hauptsache zu entscheiden hat, hat Erfolg.

Der Antrag, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Antragstellers nach Griechenland auszusetzen, ist nach Auffassung des Senats sachdienlich und im Interesse des Antragstellers dahingehend auszulegen, dass nach § 80 Abs. 7 und 5 VwGO unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 26. Januar 2009 die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 13. Januar 2009 gegen die im angegriffenen Bescheid der Antragsgegnerin vom 27. Mai 2008 enthaltene Abschiebungsandrohung ab dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung beantragt wird. Den Antrag, der Antragsgegnerin aufzugeben, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Griechenland nicht durchgeführt werden darf, versteht der Senat sachdienlich so, dass eine entsprechende Mitteilung sich nur auf den Zeitraum der zeitlichen Geltung der beantragten Anordnung der aufschiebenden Wirkung beziehen soll. Die so verstandenen Anträge sind zulässig und begründet.

a) Der (Abänderungs-)Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist statthaft, weil der Klage gegen den angegriffenen Bescheid der Beklagten nach § 75 AsylVfG von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung zukommt und der gesetzliche Ausschluss der Aussetzung der Abschiebung nach § 34a Abs. 2 AsylVfG, der in Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG seine verfassungsrechtliche Grundlage findet, nicht eingreift.

aa) Der Klage kommt ungeachtet des Umstands, dass der angegriffene Bescheid im Hauptsacheverfahren mit Urteil des Verwaltungsgerichts vom 13. März 2009 aufgehoben worden ist, keine aufschiebende Wirkung zu. Da die Antragsgegnerin gegen das Urteil vom 13. März 2009 am 19. Mai 2009 einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt hat, über den noch nicht entschieden ist (Aktenzeichen 13 LA 80/09), ist das Verfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen. Für die Vollziehbarkeit der in dem angegriffenen Bescheid enthaltenen Abschiebungsanordnung ist es daher bislang trotz des ergangenen Urteils bei der Regelung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 26. Januar 2009 geblieben, mit dem es die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt hat.

bb) Der Statthaftigkeit des Antrags stehen § 34a Abs. 2 AsylVfG und Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG nicht entgegen. Zwar hat der (Verfassungs-)Gesetzgeber bestimmt, dass insbesondere Abschiebungen in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft ungeachtet eines Rechtsbehelfs vollzogen werden können und die Abschiebung auch nicht nach §§ 80 oder 123 VwGO ausgesetzt werden darf. Eine solche Konstellation liegt hier auch vor, weil die Antragsgegnerin den Antragsteller nach Griechenland als den für die Durchführung des Asylverfahrens nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 ("Dublin II-Verordnung") zuständigen Staat abschieben will.

(1) Der Ausschluss der Möglichkeit, vorläufigen Rechtsschutz zu erlangen, gilt jedoch nicht uneingeschränkt. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in seinem Urteil vom 14. Mai 1996 (2 BvR 1938/93 u.a., BVerfGE 94, 49, juris Rdnr. 198, 233) in Bezug auf die Drittstaatenregelung des § 26a AsylVfG ausgeführt, dass der Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes nicht über die Grenzen hinausreiche, die dem der Drittstaatenregelung zugrunde liegenden Konzept der "normativen Vergewisserung" des (Verfassungs-)Gesetzgebers über die Sicherheit im Drittstaat gesetzt seien. Die Grenzen hat das Bundesverfassungsgericht in der genannten Entscheidung unter Bezeichnung einzelner Fallgruppen dort gezogen, wo die Schutzbedürftigkeit durch Umstände begründet wird, "die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können und damit von vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzepts aus sich selbst heraus gesetzt sind" (BVerfG, a.a.O., juris Rdnr. 189). Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem der Sache nach eine teleologische Reduktion des (grund-)gesetzlichen Ausschlusses der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vorgenommen und auf dieser Grundlage die Vereinbarkeit der auf dem sog. "Asylkompromiss" beruhenden und 1993 eingeführten Neuregelung mit dem Grundgesetz festgestellt wurde, hat nach § 31 Abs. 2 Sätze 1 und 2 BVerfGG selbst Gesetzeskraft.

(2) Hinsichtlich einer auch im vorliegenden Fall streitgegenständlichen Abschiebungsanordnung zur Abschiebung eines aus dem Irak stammenden Asylantragstellers nach Griechenland als den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat hat das Bundesverfassungsgericht in seiner aktuellen Rechtsprechung (Beschl. v. 08.09.2009 - 2 BvQ 56/09 -, juris; Beschl. v. 09.10.2009 - 2 BvQ 72/09 -, V.n.b.) an die vorbezeichnete Entscheidung angeknüpft und im Rahmen einer Interessenabwägung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG die Vollziehung der Abschiebung nach Griechenland vorläufig untersagt, ohne sich daran durch Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG und § 34a Abs. 2 AsylVfG gehindert zu sehen. Diese Entscheidung ist nach Auffassung des Senats auch im Rahmen des fachgerichtlichen vorläufigen Rechtsschutzes zu verwirklichen, ohne dass dem das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG entgegenstehen würde. Zum einen geht es aus Sicht des Senats nach der erkennbaren Konzeption des Bundesverfassungsgerichts lediglich um eine weitere teleologische Einschränkung des (grund-)gesetzlichen Ausschlusses des vorläufigen Rechtsschutzes bei Abschiebungen in einen sicheren Drittstaat oder in einen zur Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat, die an die Gesetzeskraft entfaltende frühere Entscheidung anknüpft und diese fortführt. Mithin liegt schon im Ansatz keine Konstellation vor, die das Verwerfungsmonopol berühren könnte. Es steht nicht in Rede, eine Norm als verfassungswidrig einzustufen und sie deshalb nicht anzuwenden, sondern es geht nur um eine teleologische Normbetrachtung, die das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner Entscheidung 15. Mai 1996 für notwendig gehalten hat. Zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht durch die Gewährung vorläufigen (verfassungsgerichtlichen) Rechtsschutzes eine solche Einschränkung jedenfalls für gegenwärtig zu entscheidende Fälle von beabsichtigten Abschiebungen nach Griechenland unter Verweis auf die dies zulassenden Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts (Art. 19 Abs. 1 Satz 4 und Art. 20 Abs. 1 Buchstabe e Satz 4 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003) selbst vorgezeichnet. Im Übrigen ist ein Fachgericht grundsätzlich auch dann nicht daran gehindert, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn es ein entscheidungserhebliches formelles Gesetz nicht nur einschränkend auslegen will, sondern es für verfassungswidrig hält (vgl. Kopp/Schenke: VwGO-Kommentar, 15. Aufl., § 80 Rdnr. 161 m.w.N.). Die Statthaftigkeit fachgerichtlichen vorläufigen Rechtsschutzes zu verneinen und die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes deshalb zu versagen, hätte demgegenüber zur Folge, dass dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerden jedenfalls gegenwärtig aller Voraussicht nach erfolgreich wären. Dem kann auf fachgerichtlicher Ebene derzeit nur dadurch Rechnung getragen werden, dass in "Dublin II - Fällen", in denen es um Rücküberstellungen nach Griechenland geht, Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht bereits nach § 34a Abs. 2 AsylVfG und Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG als unstatthaft angesehen werden (vgl. auch OVG Münster, Beschl. v. 07.10.2009 - 8 B 1433/09.A -, juris, das im Ergebnis die Möglichkeit fachgerichtlichen vorläufigen Rechtsschutzes bei Überstellungen nach Griechenland ebenfalls bejaht).

b) Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die im angegriffenen Bescheid der Antragsgegnerin enthaltene Abschiebungsandrohung ist auch begründet. In materieller Hinsicht kann das Gericht der Hauptsache nach § 80 Abs. 7 und 5 VwGO unter Abänderung einer zuvor ergangenen Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs anordnen, wenn die vorzunehmende Interessenabwägung ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsaktes hinter das Interesse des Adressaten an einem Aufschub des Vollzugs desselben zurücktritt. Diese Interessenabwägung wird indessen nach Auffassung des Senats auch in materieller Hinsicht durch die Bewertung des Bundesverfassungsgerichts in seinen Entscheidungen vom 8. September 2009 und vom 9. Oktober 2009 (a.a.O.) vorgezeichnet, in denen es ausdrücklich auf die den Asylantragstellern drohenden Nachteile infolge einer Abschiebung nach Griechenland hingewiesen und eine Vollziehung der Abschiebung vorläufig untersagt hat. Der Senat sieht in Anbetracht der Aktualität der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen keinen Anlass, darüber hinaus noch weitere Erwägungen zu der Frage der dem Antragsteller individuell drohenden Nachteile infolge einer Rücküberstellung anzustellen. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass sich die Situation des Antragstellers in Griechenland besser darstellen würde, als die Situation der Asylbewerber in den vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fällen. Abgesehen davon spricht für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung im vorliegenden Fall, dass der Antragsteller in erster Instanz im Hauptsacheverfahren obsiegt hat. Diese prozessuale Situation, die zudem nichts mit den Verhältnissen in Griechenland zu tun hat, sondern mit dem Umstand, dass das Verwaltungsgericht den angegriffenen Bescheid bereits aus anderen Gründen für rechtswidrig gehalten und ihn deshalb aufgehoben hat, muss nunmehr zu Gunsten des Antragstellers "durchschlagen". Im Übrigen sind damit auch Umstände des Einzelfalls entscheidungserheblich gewesen, die sich außerhalb der Grenzen des oben skizzierten Konzepts der "normativen Vergewisserung" bewegen, das allein den tragenden sachlichen Grund für den (grundsätzlichen) Ausschluss der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes darstellt.

c) Auch der (flankierende) Antrag des Antragstellers, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Griechenland nicht durchgeführt werden darf, solange die Klage des Antragstellers vom 13. Januar 2009 gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 27. Mai 2008 enthaltene Abschiebungsanordnung aufschiebende Wirkung entfaltet, ist zulässig und begründet. Hinsichtlich der Statthaftigkeit des Antrags wird auf die Ausführungen unter a) bb) verwiesen. Der Senat hält eine entsprechende umgehende Mitteilung durch die Antragsgegnerin, auf deren Initiative die zuständige Ausländerbehörde - der Landkreis Verden - die Abschiebung eingeleitet hat, in Anbetracht des geringen bis zu der am 23. November 2009 geplanten Abschiebung verbleibenden Zeitraums für geboten, um zu gewährleisten, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung Beachtung findet.

Ende der Entscheidung

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