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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 01.07.2008
Aktenzeichen: 2 ME 324/08
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 80
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

1. Der Hauptantrag hat - ausgehend von dem durch § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO vorgegebenen Prüfungsrahmen - Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat das Rechtsschutzbegehren unzutreffend als unzulässig angesehen.

Der im Beschwerdeverfahren gestellte Hauptantrag ist statthaft (§ 123 Abs. 5 VwGO) und auch im Übrigen zulässig. Wird durch einen Bescheid der Prüfungsbehörde mit der darin enthaltenen Feststellung des Prüfungsergebnisses das Prüfungsverfahren noch vor der abschließenden (mündlichen) Prüfung vorzeitig beendet, so ist im Verwaltungsstreitverfahren die Aufhebung dieses Bescheids insgesamt im Wege der Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) und die Fortsetzung des Prüfungsverfahrens zu beantragen (BVerwG, Urteil vom 16. März 1994, - BVerwG 6 C 5.93 -, NVwZ-RR 1994, 582). Denn die Antragstellerin verfolgt das Ziel, dass die Entscheidung über das Nichtbestehen der Prüfung des Zweiten Staatsexamens für das Lehramt an Gymnasien aufgehoben und die mündliche Prüfung durch Anberaumung eines Termins zum Prüfungsunterricht II fortgeführt wird. Hierfür wäre in einem Hauptsacheverfahren eine Anfechtungsklage gegen den Bescheid über das Nichtbestehen der Zweiten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien statthaft. Hindert - wie hier - ein negativer Prüfungsbescheid den Fortgang der Prüfung, die im Fall der Antragstellerin bereits nach den Prüfungsbestandteilen Ausbildungsnote, Hausarbeit und Prüfungsunterricht I für nicht bestanden erklärt und abgebrochen worden ist, muss in erster Linie dessen Aufhebung begehrt werden. Insbesondere kommt in der vorliegenden Konstellation keine Verpflichtungsklage dahingehend in Betracht, dass nach einer Wiederholung etwa des Prüfungsunterrichts I über das Bestehen der Staatsprüfung erneut entschieden wird, weil der Prüfungserfolg nicht ohne weiteren Fortgang des Verfahrens festgestellt werden kann. Insoweit wäre noch die (erfolgreiche) Ablegung des - nachdem das Nichtbestehen aus Sicht des Antragsgegners feststand - abgesetzten Prüfungsunterrichts II erforderlich (vgl. zur richtigen Klageart Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, Band 2, Prüfungsrecht, 4. Auflage 2004, Rn. 808ff.).

2. Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg. Bei der nach § 80 Abs. 5 VwGO zu treffenden Entscheidung hat das Gericht die Interessen des Antragstellers und der Antragsgegnerin sowie betroffene Interessen der Allgemeinheit gegeneinander abzuwägen. Dabei kommt den Erfolgsaussichten in der Hauptsache, soweit sie im Rahmen der hier nur möglichen und gebotenen summarischen Prüfung festgestellt werden können, besondere Bedeutung zu (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, RdNr. 152 zu § 80 VwGO).

Ob der in der Hauptsache erhobene Widerspruch der Antragstellerin Erfolg haben wird, ist derzeit offen.

(aa) Nach unbestrittener, einhelliger Auffassung in der Rechtsprechung ist die gerichtliche Kontrolle von Prüfungsentscheidungen allerdings eingeschränkt (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 17. April 1991, - 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83 -, BVerfGE 84, 34 [52]; BVerwG, Beschluss vom 13. Mai 2004, - BVerwG 6 B 25.04 -, NVwZ 2004, 1375 [1376]). Der Prüfer hat insofern einen weiten, dem richterlichen Einfluss weitgehend entzogenen Bewertungsspielraum. Die Möglichkeit gerichtlicher Kontrolle ist allerdings immer dann eröffnet, wenn dieser Bewertungsspielraum des Prüfers überschritten wird. Das ist dann der Fall, wenn Verfahrensfehler vorliegen, der Prüfer anzuwendendes Recht verkennt, von einem unrichtigen Sachverhalt ausgeht, allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe verletzt oder er sich von sachfremden Erwägungen leiten lässt. Im Falle von Prüfungen, die einen Berufszugang eröffnen, geht die Möglichkeit gerichtlicher Kontrolle über die (bloße) Einhaltung der Grenzen des Bewertungsspielraums hinaus und erstreckt sich auch auf die Kontrolle der Richtigkeit bzw. Vertretbarkeit der auf Fachfragen gegebenen Antworten. Damit hat das Bundesverfassungsgericht den aus Art. 12 GG folgenden "allgemeinen Bewertungsgrundsatz" dahin präzisiert, dass zutreffende Antworten und brauchbare Lösungen im Prinzip nicht als falsch bewertet werden und zum Nichtbestehen führen dürfen. Soweit danach die Richtigkeit oder Angemessenheit von Lösungen wegen der Eigenart der Prüfungsaufgabe nicht eindeutig bestimmbar sind, gebührt zwar dem Prüfer ein Bewertungsspielraum. Diesem steht aber ein entsprechender Antwortspielraum des Prüflings gegenüber: Eine vertretbare und mit gewichtigen Argumenten folgerichtig begründete Lösung darf somit nicht als falsch gewertet werden. Überschritten wird der Beurteilungsspielraum ferner, wenn eine Bewertung auf einer wissenschaftlich-fachlichen Annahme des Prüfers beruht, die einem Fachkundigen als unhaltbar erscheinen muss (BVerfG, Beschluss vom 17. April 1991, - 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83 -, BVerfGE 84, 34, [53 ff.]).

(bb) Bei - wie hier - berufseröffnenden Prüfungen folgt aus Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG jedoch auch ein Anspruch auf Überdenken einer Prüferentscheidung (BVerwG, Urteil vom 1. Juni 1995, - BVerwG 2 C 16.94 -, NVwZ 1997, 73) im Sinne einer "Komplementärfunktion" zur Durchsetzung des Grundrechts der Berufsfreiheit (Senat, Urteil vom 8. Mai 2002, - 2 L 6330/96 -, OVGE MüLü 49, 361-372). Ein Anspruch auf ein Überdenken durch die Prüfer setzt voraus, dass der Prüfling ihnen hierfür wirkungsvolle Hinweise gibt, indem er sich mit der beanstandeten Bewertung sachlich auseinander setzt und die Gründe darlegt, weshalb er sie für unrichtig hält (BVerwG, Urteil vom 24. Februar 1993, - BVerwG 6 C 35.92 -, BVerwGE 92, 132 [138 f.]; Beschluss vom 08. November 2005, - BVerwG 6 B 45.05 -, NVwZ 2006, 478-479).

Das Überdenken der Bewertungen in einem Prüfungsverfahren unter maßgeblicher Beteiligung der ursprünglichen Prüfer stellt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts einen unerlässlichen Ausgleich für den bei prüfungsspezifischen Bewertungen den Prüfern verbleibenden Entscheidungsspielraum und die deshalb nur eingeschränkt mögliche Kontrolle von Prüfungsentscheidungen durch die Verwaltungsgerichte dar (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. April 1991, - 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83 -, BVerfGE 84, 34 [45 ff.]; BVerwG, Urteil 24. Februar 1993, - BVerwG 6 C 35.92, BVerwGE 92, 132 [136 ff.] sowie Urteil vom 30. Juni 1994, - BVerwG 6 C 4.93 -, Buchholz 421.0 Nr. 334 und Urteil vom 01. Juni 1995, - BVerwG 2 C 16.94 -, BVerwGE 98, 324-334). Damit das Verfahren des "Überdenkens" der Prüfungsentscheidung seinen Zweck, das Grundrecht der Berufsfreiheit des Prüflings effektiv zu schützen, konkret erfüllen kann, muss gewährleistet sein, dass die Prüfer jedenfalls ihre Bewertungen von schriftlichen Prüfungsleistungen hinreichend begründen (vgl. dazu im einzelnen BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1992, - BVerwG 6 C 3.92 -, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 307), dass der Prüfling seine Prüfungsakten mit den Protokollen der mündlichen Prüfung und den Korrekturbemerkungen zu den schriftlichen Arbeiten einsehen kann, dass die daraufhin vom Prüfling erhobenen substantiierten Einwände den beteiligten Prüfern zugeleitet werden, dass die Prüfer sich mit den Einwänden des Prüflings auseinandersetzen und, soweit diese berechtigt sind, ihre Bewertung der betroffenen Prüfungsleistung korrigieren sowie alsdann auf dieser - möglicherweise veränderten - Grundlage erneut über das Ergebnis der Prüfung entscheiden (BVerwG, Urteil 24. Februar 1993, - BVerwG 6 C 35.92, BVerwGE 92, 132).

Im vorliegenden Fall hat die Antragstellerin gegenüber der Antragsgegnerin - ausweislich ihres Einwendungsschriftsatzes gegen die Beurteilungen zur Bildung der Vornote zum Zweiten Staatsexamen vom 19. Februar 2008, ihres Widerspruchs gegen den Prüfungsbescheid vom 6. März 2008 und ihres Befangenheitsantrags jeweils vom 18. März 2008 - umfängliche und - jedenfalls zum überwiegenden Teil - sachliche und substantiierte Einwendungen gegen die Festsetzung der Ausbildungsnote und gegen die Bewertung des Prüfungsunterrichts I im Fach Werte und Normen erhoben. Diesen - insgesamt mehr als zehn Seiten umfassenden - Einwendungen ist die Prüfungsbehörde zwar unter Beteiligung der jeweiligen ursprünglichen Prüfer B., C. und D. nachgegangen. Diese haben aber mit ihren Stellungnahmen allein pauschal die erhobenen Einwendungen zurückgewiesen, ohne sich mit den in ihnen enthaltenen sachlichen Kritikpunkten auch nur ansatzweise auseinanderzusetzen. Dieses Vorgehen genügt nicht den oben genannten Anforderungen, die gemäß der angeführten Rechtsprechung zur unerlässlichen Ergänzung des nur eingeschränkt möglichen gerichtlichen Rechtsschutzes gestellt werden müssen.

(cc) Dass im verwaltungsinternen Kontrollverfahren über die von der Antragstellerin erhobenen Bedenken der Sache nach nicht entschieden worden ist, führt jedoch zu keinem Fehler im Prüfungsverfahren selbst. Nicht einmal dann, wenn dieses Kontrollverfahren gänzlich unterblieben wäre, würde daraus folgen, dass schon allein deshalb der Prüfungsbescheid aufzuheben wäre (BVerwG, Urteil vom 24. Februar 1993, - BVerwG 6 C 35.92 - NVwZ 1993, 681, LS 6. und S. 684; Urteil vom 16. April 1997, - BVerwG 6 C 9.95 -, DVBl 1997, 1235-1238). Es handelt sich dabei nämlich um ein eigenständiges Verfahren. Sein Fehlen oder ein dabei unterlaufener Formfehler kann sich auf die Rechtmäßigkeit der Prüfungsentscheidung nicht unmittelbar auswirken. Derartige Fehler führen lediglich dazu, dass eine Hauptsache für das Gericht regelmäßig noch nicht entscheidungsreif wäre. Denn die in Bezug auf etwaige Bewertungsspielräume notwendig unvollkommene und unvollständige Rechtskontrolle des Gerichts bedarf insoweit eines Ausgleichs und einer Ergänzung durch ein verwaltungsinternes Überdenken der Bewertungen in geeigneter Form (BVerwG, Urteil vom 16. April 1997, a.a.O.). Für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes bedeutet dies dann aber, dass der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen ist.

(dd) Da die Antragstellerin zum Teil substantiierte Einwendungen gegen die beanstandeten Prüfungsteile erhoben hat, denen die Antragsgegnerin nach dem bisherigen Akteninhalt bislang nicht sachlich begründet entgegengetreten ist, ist ein Erfolg der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren jedenfalls ernstlich möglich. Die damit gebotene Interessenabwägung fällt hier zu Gunsten der Antragstellerin aus. Denn die Folgen, die sie bei einem für sie ungünstigen Ausgang des Eilverfahrens und späterem Obsiegen im Verfahren der Hauptsache zu gewärtigen hat - wie etwa verzögerter Zugang zum Lehrerberuf oder der ihr bereits zugesagten Anstellung, dadurch niedrigeres Besoldungsdienstalter oder aber Wissensverminderung durch Zeitablauf - wiegen bei dieser der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG unterfallenden Prüfung schwerer als die Folgen, die für den Antragsgegner eintreten, wenn der Antragstellerin vorläufiger Rechtsschutz gewährt wird, ihre Klage gegen die Prüfungsentscheidung aber endgültig abgewiesen werden sollte.

Der Senat weist darauf hin, dass der Antragsgegner das Verfahren der Prüfung der Einwendungen der Antragstellerin pflichtgemäß wiederholen und derweil die Prüfung der Antragstellerin vorläufig fortzusetzen haben wird.

Ende der Entscheidung

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