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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 20.06.2006
Aktenzeichen: 2 ME 436/05
Rechtsgebiete: VwGO
Vorschriften:
VwGO § 123 | |
VwGO § 80 Abs. 5 | |
VwGO § 82 Abs. 2 | |
VwGO § 88 |
Gründe:
Die Beschwerde, mit der sich die Antragsgegnerin gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts vom 16. September 2005 wendet, mit der das Verwaltungsgericht im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung der Antragsgegnerin die Aufrechnung mit laufenden Bezügen des Antragstellers untersagt und die Rückzahlung bereits einbehaltener Bezüge angeordnet hat, bleibt erfolglos.
Auszugehen ist davon, dass der Senat in dem hier anhängigen einstweiligen Rechtsschutzverfahren gem. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO nur die von der Antragsgegnerin innerhalb der Frist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO mit ihrer Beschwerde dargelegten Gründe zu prüfen hat. Unter Beachtung des somit durch § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO eingeschränkten Prüfungsmaßstabes gibt das Beschwerdevorbringen, mit dem die Antragsgegnerin geltend macht, mangels ordnungsgemäßen Antrages habe zu Gunsten des Antragstellers eine einstweilige Anordnung nicht erlassen werden dürfen, weiter sei durch die erlassene einstweilige Anordnung in unzulässiger Weise die Hauptsache vorweggenommen worden, weil weder angesichts der Einkommensverhältnisse des Antragstellers die hierfür erforderliche Notlage noch eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit des Obsiegens im Hauptsacheverfahren vorliege, dem Senat keinen Anlass, den angefochtenen Beschluss vom 16. September 2006 zu ändern. Dies ergibt sich aus Folgendem:
Soweit die Antragsgegnerin meint, die in dem angefochtenen Beschluss erlassene einstweilige Anordnung habe nicht ergehen dürfen, weil das Verwaltungsgericht den von dem anwaltlich vertretenen Antragsteller gestellten Antrag in Wahrheit nicht nur ausgelegt, sondern - unzulässigerweise - umgedeutet habe, kann dies nicht zum Erfolg ihrer Beschwerde führen. Allerdings trifft es zu, dass der anwaltlich vertretene Antragsteller - zunächst (Schriftsatz v. 20.5.2005) - gegen die von der Antragsgegnerin vorgenommene Aufrechnung mit seinen laufenden Dienstbezügen (Bescheid v. 6.1./10.5.2005) mit einem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO um die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nachgesucht hat und dass ein derartiger Antrag, wäre an ihm festgehalten worden, als unzulässig hätte abgewiesen werden müssen, weil die Aufrechnung überzahlter Dienstbezüge mit laufender Besoldung grundsätzlich keinen Verwaltungsakt darstellt (OVG Lüneburg, Beschl. v. 7.12.1981 - 5 OVG B 52/81 -, OVGE 36, 484; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 27.10.1982 - BVerwG 3 C 6.82 -, BVerwGE 66, 218 = Buchholz 451.55 Subventionsrecht Nr. 71 = NJW 1983, 776 = BayVBl. 1983, 218), mithin auch hier einstweiliger Rechtsschutz nicht nach § 80 Abs. 5 VwGO, sondern nur nach § 123 VwGO gewährt werden kann (OVG Lüneburg, aaO, S. 485). Des Weiteren ist der Beschwerde insoweit beizupflichten, dass ein von einem anwaltlich vertretenen Antragsteller im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gestellter (eindeutiger) Antrag durch das Verwaltungsgerichts grundsätzlich nur ausgelegt, nicht aber umgedeutet werden kann (Puttler, in: Sodan/Ziekow, 2. Aufl. 2006, RdNr. 66 zu § 123), so dass etwa die Umdeutung eines Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO in einen solchen nach § 123 VwGO ausscheiden muss (Jank, in; Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl. 1998, RdNr. 297; HessVGH, Beschl. v. 24.8.1994 - 7 TG 2135/94 -, NVwZ-RR 1995, 33f.). Dieses (grundsätzlich bestehende) Umdeutungsverbot schließt es aber nicht aus, dass das Verwaltungsgericht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach § 82 Abs. 2 VwGO analog auf eine ordnungemäße Antragstellung hinwirkt und einen daraufhin umgestellten Antrag ggf. im Rahmen der ihm durch § 88 VwGO analog eingeräumten Befugnisse auslegt (Puttler, aaO, RdNr. 66 m. w. Nachw.). So ist das Verwaltungsgericht hier verfahren, so dass entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin nicht davon gesprochen werden kann, das Verwaltungsgericht habe durch den Erlass der von der Antragsgegnerin bekämpften einstweiligen Anordnung einen von dem Antragsteller nur nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellten Antrag unzulässigerweise in einen solchen nach § 123 VwGO umgedeutet.
Das Verwaltungsgericht hat die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers mit Verfügung vom 29. Juli 2005 darauf hingewiesen, dass der Antragsteller gegen die Einbehaltung seiner Dienstbezüge einstweiligen Rechtsschutz hier allenfalls nach § 123 VwGO würde erlangen können, und ihn gebeten, ggf. seinen Antrag entsprechend umzustellen, auch hat es den Antragsteller aufgefordert, - für den möglichen Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO - eine etwaige unzumutbare Einschränkung seiner Lebensführung glaubhaft zu machen. Dem hat der Antragsteller durch Schriftsatz vom 18. August 2005 entsprochen; denn er hat zum einen durch eine eidesstattliche Versicherung vom 17. August 2005 die nach § 123 Abs. 1 und 3 VwGO erforderliche Glaubhaftmachung seiner Notlage nachgeholt, zum anderen hat er - bzw. hat seine Prozessbevollmächtigte - beantragt, "im Wege der einstweiligen Anordnung die aufschiebende Wirkung anzuordnen". Diesen Antrag konnte das Verwaltungsgericht zulässigerweise (s. o.) noch als Antrag nach § 123 VwGO auslegen. Zwar ist der Antrag, obwohl er von einer Rechtsanwältin formuliert worden ist, insoweit missverständlich, als er Elemente eines Antrages nach § 123 VwGO ("einstweilige Anordnung") und eines Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO (Anordnung der aufschiebenden Wirkung) enthält, aber angesichts der Hinweisverfügung des Verwaltungsgerichts und angesichts des Umstandes, dass in dem Antrag ausdrücklich (zunächst) der Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt wird, konnte das Verwaltungsgericht diesen Antrag noch als Begehren nach § 123 VwGO auslegen. Denn aus dem Antragsbegehren wurde noch hinreichend deutlich, dass der Antragsteller das Ziel der sofortigen Einstellung der von ihm als rechtswidrig bekämpften Aufrechnung mit seinen laufenden Bezügen verfolgt, ein Ziel, das durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung erreicht werden soll, wobei er lediglich (wieder) der irrigen Annahme war, die einstweilige Anordnung könnte in der Weise ergehen, dass durch sie auch eine aufschiebende Wirkung begründet werden kann. Die Ausgestaltung der von einem Antragsteller beantragten einstweiligen Anordnung betrifft aber ohnehin das Gestaltungsermessen des Verwaltungsgerichts, nicht aber den Charakter des Antrages (nach § 123 VwGO) als solchen, war also nicht geeignet, die Einordnung des Antrags nach § 123 VwGO in Zweifel zu ziehen.
Auch hinsichtlich der übrigen Einwände erweist sich die Beschwerde als unbegründet. Wie das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Beschluss im Einzelnen zutreffend dargelegt hat, worauf zur Vermeidung von Wiederholungen nach § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO Bezug genommen werden kann, soweit die Erwägungen des Verwaltungsgerichts im Nachfolgenden nicht korrigiert werden, hat der Antragsteller auch nach Ansicht des Senats glaubhaft machen können (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. den § 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO), dass er bei Aufrechterhaltung der hier umstrittenen zusätzlichen Aufrechnung (mit Rückforderungsansprüchen der Antragsgegnerin, die die in der Zeitspanne 1.1.2002 bis 31.7.2004 erfolgte Gewährung von kinderbezogenem Familienzuschlag als Besoldungsbestandteile betreffen) i. H. v. 598,00 € unzumutbar belastet und in eine wirtschaftliche Notlage geraten würde. Denn dem Antragsteller und den drei von ihm noch unterhaltenen Familienangehörigen (Ehefrau sowie die Töchter B. und C.) bliebe bei Einbehaltung der hier umstrittenen 598,00 € für die Bestreitung des notwendigen Lebensunterhalts lediglich noch ein Betrag, der unter dem (sozialhilferechtlichen) Existenzminimum oder allenfalls in dessen Höhe liegen würde. Der (sozialhilferechtliche) Regelbedarf nach § 28 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i. V. m. § 1 der nds. RegelsatzVO (v. 23.8.2005, Nds.GVBl. S. 275) beträgt nämlich für den Antragsteller und die übrigen drei Familienmitglieder insgesamt 1.173,00 € (= 345,00 € für den Antragsteller als sog. Haushaltsvorstand + 3 x 276,00 € für die übrigen Familienangehörigen, die alle das 14. Lebensjahr vollendet haben - das Verwaltungsgericht hat in dem angefochtenen Beschluss insoweit irrtümlich die Regelsätze für Familienangehörige unter 14 Jahren - 207,00 € - zu Grunde gelegt). Mithin läge der dem Antragsteller - auch unter Berücksichtigung des Einkommens seiner Ehefrau in D. i. H. v. 317,00 € - verbleibende Betrag mit 1.044,43 € mit rd. 128 € unter dem Existenzminimum. Bei dieser Sachlage kann in diesem lediglich auf eine überschlägige Prüfung der tatsächlichen Gegebenheiten ausgerichteten Verfahren offen bleiben, ob zu Lasten des Antragstellers etwa geringere Lebenshaltungskosten seiner Familienangehörigen in D. oder zu seinen Gunsten zusätzliche Kosten für seine doppelte Haushaltsführung zu berücksichtigen wären. Bliebe dem Antragsteller (und der von ihm unterhaltenen Familienangehörigen) bei Einbehaltung des zusätzlichen Betrages von 598,00 € aber nur noch ein Betrag unter oder allenfalls in Höhe des (sozialhilferechtlichen) Existenzminimums, so ist auch nach Ansicht des Senats eine den Erlass einer einstweiligen Anordnung rechtfertigende Notlage zu bejahen.
Schließlich kann Antragsgegnerin auch nicht mit dem Einwand gehört werden, das Verwaltungsgericht habe mit dem Erlass der einstweiligen Anordnung in dem Beschluss vom 16. September 2005 gegen das sog. Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache verstoßen. Es ist schon fraglich, ob das von der überwiegenden Auffassung gerade in der Rechtsprechung (Nachweise bei Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: Oktober 2005, RdNr. 141 zu § 123) im einstweiligen Anordnungsverfahren postulierte Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache mit der verfassungsrechtlich garantierten (s. Art. 19 Abs. 4 GG) Gewährung effektiven Rechtsschutzes zu vereinbaren ist (ablehnend zu dem Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache deshalb z. B. Schoch, aaO, RdNrn, 146ff. u. Puttler, aaO, RdNr. 105). Der Senat kann in diesem Verfahren aber offen lassen, ob im einstweiligen Anordnungsverfahren ein Vorwegnahmeverbot der Hauptsache überhaupt anzuerkennen ist; denn auch wenn man dies bejahen wollte, würde dies hier - auch nach der von der überwiegenden Ansicht vertretenen Auffassung - dem Erlass der einstweiligen Anordnung zu Gunsten des Antragstellers nicht entgegenstehen. Von den Befürwortern des Vorwegnahmeverbots wird nämlich eine Vorwegnahme der Hauptsache ausnahmsweise regelmäßig dann für zulässig erachtet, wenn existenzielle Belange des Antragstellers betroffen sind und ihm ohne die Vorwegnahme unzumutbare Nachteile drohen würde und wenn zusätzlich für die Hauptsache hohe Erfolgsaussichten prognostiziert werden können (vgl. Schoch, aaO, RdNr. 145 u. Jank, aaO, RdNr. 225 jeweils m. w. Nachw. aus der Rspr.). Ein derartiger Ausnahmefall liegt hier aber entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin vor.
Wie oben bereits dargelegt wurde, hat der Antragsteller glaubhaft gemacht, dass ihm und den von ihm zu unterhaltenen Familienangehörigen bei Aufrechterhaltung der Einbehaltung auch des monatlichen Rückforderungsbetrages von 598,00 € für die Bestreitung des notwendigen Lebensunterhalts nur noch ein Betrag unter oder allenfalls in Höhe des (sozialhilferechtlichen) Existenzminimums verbleiben würde, ihm also bei Aufrechterhaltung der Einbehaltung unzumutbare Nachteile drohen würden. Des Weiteren muss auch derzeit davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller, sollte eine Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren anstehen, in diesem Hauptsacheverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit obsiegen würde. Allerdings kann sich diese Prognose - der Senat sieht sich veranlasst, zur Vermeidung von Missverständnissen hierauf besonders hinzuweisen - nicht auf die Rechtmäßigkeit des Bescheides der Antragsgegnerin vom 6. Januar/10. Mai 2005 beziehen, wie die Antragsgegnerin in ihrem Beschwerdevorbringen meint. Gegenstand dieses einstweiligen Anordnungsverfahrens ist nämlich nicht die Frage, ob die Antragsgegnerin von dem Antragsteller mit dem genannten Bescheid zu Recht oder zu Unrecht die in der Zeitspanne vom 1. Januar 2002 bis 31. Juli 2004 als Besoldungsbestandteile gewährten kinderbezogenen Familienzuschläge zurückfordern kann. Vielmehr geht es hier nur um die Frage, ob die Antragsgegnerin zur Durchsetzung der von ihr insoweit behaupteten Rückforderungsansprüche derzeit einen Betrag von 598,00 € von der dem Antragsteller monatlich zustehenden Besoldung einbehalten, insoweit also die Aufrechnung ausüben kann. Die Zulässigkeit einer derartigen Aufrechnung ist aber, wie das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Beschluss insoweit auch zutreffend ausgeführt hat, zu verneinen, weil die Antragsgegnerin nur mit fälligen (Rück-)Forderungen wirksam aufrechnen könnte. Eine Fälligkeit der in dem Bescheid vom 6. Januar/10. Mai 2005 geltend gemachten Rückforderungsansprüche ist aber derzeit noch nicht eingetreten, weil hierzu erforderlich wäre, dass die kinderbezogene Familienzuschläge gewährenden Bescheide vom 21. November 1998 und 22. Januar 2004 unanfechtbar zurückgenommen wären (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.4.1959 - BVerwG VI C 91.57 -, BVerwGE 8, 261). Dies ist aber (noch) nicht der Fall; denn der Antragsteller hat den auch die Bescheide vom 21. November 1998 und 22. Januar 2004 zurücknehmende Bescheid vom 6. Januar/10. Mai 2005 mit der Klage - 2 A 2940/05 - angefochten, über die noch nicht entschieden ist, auch kann sich die in dem Bescheid vom 6. Januar 2005 nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO angeordnete sofortige Vollziehung der Rückforderung, die nur ex nunc, nicht aber ex tunc wirken kann (Jank, aaO, RdNr. 772; OVG Bremen, Beschl. v. 15.6.1961 - I V 361/61 -, DVBl. 1961, 678; HessVGH, Urt. v. 21.12.1961 - OS V 212/56 -, ZBR 1962, 230), nicht auf vor dem Januar 2005 liegende Rückforderungsansprüche - hier kinderbezogene Familienzuschläge für die Zeitspanne 1. Januar 2002 bis 31. Juli 2004 - beziehen. Besteht somit schon eine Aufrechnungslage nach § 387 BGB nicht (Nds. OVG, Beschl. v. 2.8.1991 - 5 M 2579/91 -), so kommt es für die hier zu betrachtende einstweilige Anordnung, die sich nur auf die Zulässigkeit bzw. die Unzulässigkeit der von der Antragsgegnerin vorgenommenen Aufrechnung bezieht, nicht darauf an, ob die geltend gemachten Rückforderungsansprüche der Antragsgegnerin bestehen oder ob dies nicht der Fall ist.
Ende der Entscheidung
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