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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 12.09.2006
Aktenzeichen: 4 LA 505/04
Rechtsgebiete: SGB VIII


Vorschriften:

SGB VIII § 89 c Abs. 2
SGB VIII § 89 d
Zum vorläufigen Tätigwerden nach § 86 d SGB VIII ist der örtliche Träger der Jugendhilfe des jetzigen tatsächlichen Aufenthalts des Kindes, Jugendlichen oder jungen Volljährigen verpflichtet; nur bei Leistungen nach § 19 SGB VIII ist auf den tatsächlichen Aufenthalt des Leistungsberechtigten "vor Beginn der Leistung" abzustellen.
Gründe:

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung ist zulässig, aber nicht begründet.

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte mit dem angefochtenen Urteil verurteilt, an die Klägerin 79.072,75 EUR nebst 5 % Zinsen über dem jeweils gültigen Basiszinssatz auf 59.304,56 EUR ab dem 17. April 2004 zu zahlen. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt: Die Klägerin habe gemäß § 89 c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII einen Anspruch darauf, dass die Beklagte ihr die Kosten in Höhe von 59.304,56 EUR erstatte, die sie im Zeitraum vom 20. August 2000 bis zum 30. April 2002 als Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege für die Unterbringung von sieben Kindern der Familie A. aufgewendet habe. Nach § 89 c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII seien Kosten, die ein örtlicher Träger aufgrund seiner Verpflichtung nach § 86 d SGB VIII aufgewendet habe, von dem örtlichen Träger zu erstatten, dessen Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach § 86 SGB VIII begründet werde. Zuständiger örtlicher Träger sei die Beklagte gewesen. Nach § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII richte sich die Zuständigkeit für die Gewährung von Jugendhilfe nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe, wenn den getrennt lebenden Elternteilen gemeinsam das Sorgerecht zustehe. Eine Leistung im Sinne von § 86 Abs. 2 SGB VIII beginne dann, wenn eine dort als Leistung der Jugendhilfe definierte und damit von anderen Hilfen abgegrenzte Hilfemaßnahme eingeleitet werde, d.h. wenn Handlungen des Jugendhilfeträgers vorlägen, die darauf ausgerichtet seien, eine erzieherische Hilfe zu konkretisieren, z.B. durch Aufnahme von Hilfeplangesprächen, das Stellen eines Antrags auf Sorgerechtsentzug oder die Suche nach einer Pflegestelle. Danach habe die Leistung "Vollzeitpflege" spätestens am 3. August 2000 begonnen. Am 3. August 2000 habe der Kindesvater der von der Kindesmutter zuvor in Zusammenarbeit mit Frau B. und der Beklagten gefundenen Lösung zugestimmt, dass die Kinder von Frau B. in dem angemieteten Haus in C. betreut werden. Unabhängig von der von der Beklagten gefundenen Wortwahl habe diese Lösung die Gewährung von Jugendhilfe in Form von Vollzeitpflege dargestellt. Die Erklärungen der Kindeseltern vom 6. Juli 2000 und 3. August 2000 seien materiell als Anträge auf Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege zu verstehen. Sei für den Leistungsbeginn auf den 3. August 2000 abzustellen, richte sich die örtliche Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindesvaters. Die Kinder hätten sich bis zu dessen Inhaftierung am 23. Mai 2002 beim Kindesvater aufgehalten, der unstreitig seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Hannover gehabt habe. Die Hilfegewährung durch die Klägerin sei auch nicht rechtswidrig gewesen. Die sorgeberechtigten Eltern hätten die Form der Hilfegewährung (Vollzeitpflege) gewünscht. Es lägen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Frau B. als Pflegemutter ungeeignet gewesen sei. Nach Einschätzung der Beklagten habe die Betreuung durch Frau B. die einzige sinnvolle Alternative dargestellt. Die Beklagte könne nicht mit ihrem Vorbringen durchdringen, die Klägerin sei nicht gemäß § 86 d SGB VIII vorleistungspflichtig gewesen. Im Zeitpunkt des Tätigwerdens sei die Klägerin von einer örtlichen Zuständigkeit der Beklagten ausgegangen. Die Beklagte habe ihre örtliche Zuständigkeit bestritten und auf die Haftorte Vechta und Hildesheim verwiesen sowie auf die Pflicht der Klägerin, ggf. nach § 86 d SGB VIII tätig zu werden. Damit habe für die Klägerin die örtliche Zuständigkeit nicht festgestanden. Auch die Voraussetzungen des § 89 c Abs. 2 SGB VIII lägen vor, wonach der eigentlich zuständige örtliche Träger zusätzlich zu den tatsächlich aufgewendeten Kosten einen weiteren Betrag in Höhe eines Drittels der Kosten zu erstatten habe, wenn der örtliche Träger pflichtwidrig gehandelt habe. Die Beklagte habe es jedenfalls nach der Inhaftierung des Kindesvaters unterlassen, die Familie auf die Möglichkeit einer Vollzeitpflege durch (nicht unterhaltspflichtige) Verwandte hinzuweisen, was zur Beschleunigung der Jugendhilfegewährung in Form von Vollzeitpflege durch Frau B. geführt hätte. Weiterhin habe sie es pflichtwidrig unterlassen, die Erklärungen der Eltern vom 6. Juli 2000 und 3. August 2000 als Anträge auf Gewährung von Vollzeitpflege anzusehen und entsprechend zu bearbeiten.

Die Beklagte hat ihren Zulassungsantrag auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils gestützt. Dieser Zulassungsgrund liegt jedoch nicht vor.

Die im Zulassungsantrag angeführten Erwägungen sind nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO aufzuzeigen.

Die Beklagte hat zur Begründung ihres Zulassungsantrages vorgetragen, das Verwaltungsgericht habe die Vorschrift des § 86 d SGB VIII unrichtig angewandt. Gehe man wie das Verwaltungsgericht vom 3. August 2000 als Beginn der Leistung aus, hätte nur sie - die Beklagte - und nicht die Klägerin zur Vorleistung verpflichtet sein können, da sich die Kinder unstreitig bis zum 7. August 2000 - und damit vor Beginn der Leistung - im Stadtgebiet D. aufgehalten hätten. Dieses Vorbringen führt nicht zu ernstlichen Zweifeln an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts.

Nach § 86 d SGB VIII ist, wenn die örtliche Zuständigkeit nicht feststeht oder der zuständige örtliche Träger nicht tätig wird, der örtliche Träger vorläufig zum Tätigwerden verpflichtet, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche, der junge Volljährige oder bei Leistungen nach § 19 der Leistungsberechtigte vor Beginn der Leistung tatsächlich aufhält. Nach dem Wortlaut der Vorschrift kann sich "vor Beginn der Leistung" sowohl nur auf den Leistungsberechtigten nach § 19 als auch auf die davor genannten Leistungsberechtigten Kind, Jugendlicher und junger Volljähriger beziehen. Nach Auffassung des Senats ist nur bei Leistungen nach § 19 SGB VIII auf den tatsächlichen Aufenthalt des Leistungsberechtigten "vor Beginn der Leistung" abzustellen und ist im Übrigen der örtliche Träger des jetzigen tatsächlichen Aufenthalts des Kindes, Jugendlichen oder jungen Volljährigen zum vorläufigen Tätigwerden verpflichtet (so auch: Schellhorn, SGB VIII, § 86 d Rn. 4 f., 7). Dafür sprechen die Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Vorschrift.

Die ursprüngliche Fassung dieser Bestimmung in § 85 Abs. 3 KJHG a.F. lautete: "Steht die örtliche Zuständigkeit nicht fest oder wird das zuständige Jugendamt nicht tätig, so ist das Jugendamt zum Tätigwerden verpflichtet, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche aufhält." Nach der Regierungsbegründung (BT-Drucks. 11/5948) sollte die Vorschrift im Interesse einer schnellen und wirksamen Hilfe an den tatsächlichen Aufenthalt des Kindes oder des Jugendlichen anknüpfen. Die Neufassung als selbständige Vorschrift in § 86 d SGB VIII durch das 1. Änderungsgesetz von 1993 ersetzte "Jugendamt" durch "örtlicher Träger" und ergänzte den Tatbestand durch Einbeziehung der sonstigen Leistungsberechtigten, die im ersten Unterabschnitt über die örtliche Zuständigkeit für Leistungen genannt sind, d.h. der jungen Volljährigen (§ 86 a SGB VIII) und der Leistungsberechtigten bei Leistungen nach § 19 SGB VIII (§ 86 b SGB VIII). Nach der Regierungsbegründung (BT-Drucks. 12/2866) sollte diese Vorschrift § 85 Abs. 3 der geltenden Fassung ersetzen und für alle Zuständigkeiten dieses Unterabschnitts anwendbar sein. Insofern liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Neufassung der Bestimmung in § 86 d SGB VIII dazu führen sollte, nunmehr auch bei Kindern und Jugendlichen im Falle eines vorläufigen Tätigwerdens nicht mehr an den tatsächlichen Aufenthalt, sondern an den tatsächlichen Aufenthalt vor Beginn der Leistung anzuknüpfen.

Dagegen sprechen auch Sinn und Zweck des § 86 d SGB VIII. Diese Regelung dient dem Interesse der Leistungsberechtigten, da wegen der komplizierten Zuständigkeitsregelungen in §§ 86 - 86 b SGB VIII vor allem zur Klärung schwieriger Aufenthaltsverhältnisse umfangreiche Ermittlungen erforderlich sein können (vgl. Schellhorn, SGB VIII, § 86 d Rn. 1). Dem würde es widersprechen, wenn für das vorläufige Tätigwerden des Jugendhilfeträgers nicht auf den derzeitigen tatsächlichen Aufenthalt des Kindes oder Jugendlichen, sondern auf den tatsächlichen Aufenthalt vor Beginn der Leistung abzustellen wäre. Der Beginn einer Jugendhilfemaßnahme bezieht sich auf den Beginn der Gesamtmaßnahme. Dabei ist als "Beginn" deren Einleitung durch eine Handlung des Jugendhilfeträgers anzusehen, die darauf gerichtet ist, eine erzieherische Hilfe zu konkretisieren, z.B. durch Aufnahme von Hilfeplangesprächen, Anträge auf Sorgerechtsentzug, Suche nach einer zur Aufnahme geeigneten Familienpflegestelle (Schellhorn, SGB VIII, § 86 Rn. 34 m.w.N.; Wiesner / Mörsberger / Oberloskamp / Struck, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl., § 86 Rn. 18). Somit müssten schon für ein vorläufiges Tätigwerden ggf. umfangreiche Ermittlungen darüber angestellt werden, ob bereits ein Jugendhilfeträger eine Jugendhilfemaßnahme eingeleitet hat und wenn ja, wo sich der Minderjährige vor Beginn dieser Maßnahme tatsächlich aufgehalten hat. Dies würde dem Zweck der Vorschrift widersprechen, unabhängig von der Frage, wer als örtlich zuständiger Träger letztendlich die Kosten zu tragen hat, eine schnelle und wirksame Hilfe für das Kind oder den Jugendlichen zu gewährleisten. Letztere ist nur dann gesichert, wenn der örtliche Träger am tatsächlichen Aufenthaltsort des Minderjährigen zum vorläufigen Eintreten verpflichtet ist.

Dass § 86 d SGB VIII nur bei den Leistungsberechtigten nach § 19 SGB VIII an den tatsächlichen Aufenthalt vor Beginn der Leistung anknüpft, macht auch deshalb Sinn, weil es sich bei den Leistungen nach § 19 SGB VIII um die gemeinsame Unterbringung und Betreuung von allein personensorgeberechtigten Müttern oder Vätern mit ihren Kindern in Einrichtungen oder sonstigen geeigneten Wohnformen und damit um voll- oder teilstationäre Leistungen handelt. Insofern dient diese Regelung wie § 86 b SGB VIII dem Schutz der Einrichtungsorte.

Die Beklagte macht zur Begründung des Zulassungsgrundes des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO außerdem geltend, sie habe nicht pflichtwidrig gehandelt, so dass kein Anspruch nach § 89 c Abs. 2 SGB VIII bestünde. Eine nur "objektive Pflichtwidrigkeit", also ein Handeln ohne jegliches Verschulden reiche im Hinblick auf den Sanktionscharakter der Vorschrift nicht aus. Eine Fahrlässigkeit könne ihr nicht vorgeworfen werden, da die Kindeseltern zunächst ausdrücklich jede Hilfe zur Erziehung abgelehnt hätten und später - nach dem 11. September 2000 - lediglich ein Irrtum über die örtliche Zuständigkeit vorgelegen habe. Auch dieses Vorbringen vermag ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht zu begründen.

Nach 89 c Abs. 2 SGB VIII hat, wenn der örtliche Träger die Kosten deshalb aufgewendet hat, weil der zuständige örtliche Träger pflichtwidrig gehandelt hat, dieser zusätzlich einen Betrag in Höhe eines Drittels der Kosten zu erstatten. Pflichtwidrig ist das Verhalten eines örtlich und sachlich zuständigen Trägers, wenn er entgegen den Regelungen des SGB VIII durch inkorrektes Verwaltungshandeln die Wahrnehmung seiner Zuständigkeit ablehnt oder verzögert, so dass hierdurch die Verpflichtung zum vorläufig Tätigwerden nach § 86 d SGB VIII des erstattungsberechtigten Trägers ausgelöst wird. Dass das Verwaltungsgericht hier ein pflichtwidriges Handeln der Beklagten angenommen hat, ist nicht zu beanstanden. Das Verwaltungsgericht hat dazu ausgeführt, die Beklagte habe es jedenfalls nach der Inhaftierung des Kindesvaters unterlassen, die Familie auf die Möglichkeit einer Vollzeitpflege durch (nicht unterhaltspflichtige) Verwandte hinzuweisen, und sie habe es pflichtwidrig unterlassen, die Erklärungen der Eltern vom 6. Juli 2000 und 3. August 2000 als Anträge auf Gewährung von Vollzeitpflege anzusehen und entsprechend zu bearbeiten. Statt die gebotenen jugendhilferechtlichen Schritte einzuleiten, habe die Beklagte vielmehr versucht, durch eine sozialhilferechtliche Konstruktion den offensichtlich bestehenden jugendhilferechtlichen Bedarf zu ignorieren und durch Abwarten und Zögern die Fallbearbeitung dem damaligen Landkreis D. zuzuschieben. Soweit die Beklagte dagegen einwendet, die Kindeseltern hätten Hilfe zur Erziehung abgelehnt, lässt sich dies den vorliegenden Verwaltungsvorgängen nicht entnehmen. Vielmehr haben die Eltern die jetzt praktizierte Betreuung ihrer Kinder durch andere Familienmitglieder ausdrücklich gewünscht und standen lediglich einer Fremdunterbringung ablehnend gegenüber. Wie das Verwaltungsgericht zu Recht dargelegt hat, hätte die Beklagte daher spätestens mit Eingang der Erklärung des Vaters am 3. August 2000 und damit vor dem Umzug der Kinder in den Landkreis D. die Angelegenheit jugendhilferechtlich behandeln und über die Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege entscheiden müssen. Dass sie dies nicht getan hat, hat dazu geführt, dass der Landkreis D. bzw. die Klägerin als Rechtsnachfolgerin nach § 86 d SGB VIII zum vorläufigen Tätigwerden verpflichtet wurden.

Ende der Entscheidung

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