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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 02.08.2006
Aktenzeichen: 4 OB 171/06
Rechtsgebiete: GKG, GVG, SGG


Vorschriften:

GKG § 21
GVG § 17 a II 1
GVG § 17 b II 1
GVG § 17 I 1
GVG § 17 II 1
SGG § 51 I Nr. 6a
Unzulässigkeit einer Verweisung an das Sozialgericht nach § 17 a Abs. 2 Satz 1 GVG im Falle des möglichen Bestehens jugendhilfe- und sozialhilferechtlicher Ansprüche.
Gründe:

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts hat Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, in dem es um die vorläufige Übernahme der Kosten für die Betreuung des Sohnes der Antragsteller in der Integrationsgruppe eines Kindergartens geht, zu Unrecht an das Sozialgericht verwiesen. Diese Verweisung verstößt gegen §§ 17 a Abs. 2 Satz 1, 17 Abs. 2 Satz 1 GVG.

Ist der beschrittene Rechtsweg unzulässig, spricht das Gericht dies gemäß § 17 a Abs. 2 Satz 1 GVG nach Anhörung der Parteien von Amts wegen aus und verweist den Rechtsstreit zugleich an das zuständige Gericht des zulässigen Rechtsweges. Nach § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG entscheidet das Gericht des zulässigen Rechtsweges unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten. Bei einem sogenannten gemischten Rechtsverhältnis hat das Gericht des Rechtsweges, der für einen der möglichen Gründe des Rechtsschutzbegehrens gegeben ist, daher über alle anderen Gründe mitzuentscheiden, auch wenn diese bei isolierter Geltendmachung in einen anderen Rechtsweg gehören würden. Eine Verweisung des Rechtsstreits nach § 17 a Abs. 2 Satz 1 GVG ist deshalb nur dann zulässig, wenn der beschrittene Rechtsweg schlechthin, d. h. für das Rechtschutzbegehren mit allen in Betracht kommenden Gründen, unzulässig ist (BVerwG, Beschluss vom 15.12.1992 - 5 B 144/91 -, NVwZ 1993, 358; Kissel/Mayer, GVG, Kommentar, 4. Aufl. 2005, § 17 Rdnr. 48 m.w.N.; Kopp / Schenke, VwGO, Kommentar, 14. Aufl. 2005, § 41 Rdnr. 15; Ehlers in Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, VwGO, Kommentar, Stand: April 2006, § 41 Rdnr. 9). Auch gilt der in § 17 Abs. 1 Satz 1 GVG normierte Grundsatz der perpetuatio fori, wonach die Zulässigkeit des beschrittenen Rechtsweges durch eine nach Rechtshängigkeit eintretende Veränderung der sie begründenden Umständen nicht berührt wird, nur rechtswegerhaltend, so dass erst nachträglich die Zulässigkeit des Rechtswegs begründende Umstände (auch in der Rechtsmittelinstanz) berücksichtigt werden müssen (Kissel/Mayer, a. a. O., § 17 Rdnrn. 9 f.).

Hier kommt als Anspruchsgrundlage für das Rechtsschutzbegehren der Antragsteller nicht nur § 53 SGB XII - insoweit ist der Rechtsweg zu den Sozialgerichten gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 6 a SGG seit dem 1. Januar 2005 gegeben - sondern auch § 35 a SGB VIII - insoweit ist es bei der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte geblieben - in Betracht. Denn das Rechtsschutzbegehren der Antragsteller ist darauf gerichtet, dass ihr Sohn, der u. a. an einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom mit Hyperkinese (ADHS) leidet, Eingliederungshilfe für seine Betreuung in der Integrationsgruppe eines Kindergartens erhält. Dieses Rechtsschutzbegehren kann zum einen auf § 35 a SGB VIII - Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder - und zum anderen auf §§ 53 ff. SGB XII - Eingliederungshilfe für behinderte Menschen - gestützt werden. Hinsichtlich des Verhältnisses dieser beiden möglichen Anspruchsgrundlagen zueinander ist zu berücksichtigen, dass nach § 10 Abs. 4 Sätze 1 und 2 SGB VIII die Leistungen nach § 35 a SGB VIII für seelisch behinderte Kinder den Leistungen nach §§ 53 ff. SGB XII vorgehen. Angesichts der Art der Verhaltensauffälligkeit des Sohnes der Antragsteller, die wohl nicht als körperliche oder geistige Behinderung eingestuft werden kann, kommt als Anspruchsgrundlage für deren Rechtsschutzbegehren daher in erster Linie § 35 a SGB VIII (vorrangig) in Betracht.

Nach dem vorliegenden Sachverhalt - einschließlich des Vorbringens der Antragsteller im Verwaltungsverfahren vor dem Antragsgegner, im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes vor dem Verwaltungsgericht und im Beschwerdeverfahren vor dem beschließenden Senat - kann auch nicht angenommen werden, dass die Antragsteller nur einen Anspruch nach §§ 53 ff. SGB XII geltend machen wollen, für den allein der Rechtsweg zu den Sozialgerichten gegeben wäre:

Das von den Antragstellern am 8. Februar 2006 unterschriebene und offenbar vom Antragsgegner zur Verfügung gestellte Antragsformular ist mit "Antrag auf Gewährung von Eingliederungshilfe" betitelt. Hierunter könnte sowohl Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII als auch Eingliederungshilfe nach §§ 53 ff. SGB XII zu verstehen sein. Zwar enthält das Antragsformular am Ende den Zusatz, dass Änderungen der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unverzüglich dem "Sozialamt" mitzuteilen seien, und den weiteren Zusatz, den Antragstellern sei bekannt, dass die gemachten Angaben zur Berechnung der "Sozialleistungen" erforderlich seien, doch kann allein aus diesen vorformulierten Passagen nicht geschlossen werden, dass die Antragsteller mit ihrer Unterschrift unter dieses Antragsformular einen Antrag auf Gewährung von Eingliederungshilfe allein aus Sozialhilfemitteln und ausschließlich gestützt auf sozialhilferechtliche Ansprüche haben stellen wollen. Denn aus der Sicht der Antragsteller ist es unter keinem Gesichtspunkt von Bedeutung, ob der Kindergartenplatz ihres Sohnes aus Sozialhilfemitteln oder aus Jugendhilfemitteln finanziert und ob die Hilfegewährung auf sozialhilferechtliche oder jugendhilferechtliche Vorschriften gestützt wird.

Der Antragsgegner hätte daher in seinem, den Antrag der Antragsteller ablehnenden Bescheid vom 30. Mai 2006 den von diesen als gesetzliche Vertreter ihres Sohnes - in dem Antragsformular ist der Sohn der Antragsteller als "Leistungsbegehrende Person" aufgeführt - geltend gemachten Anspruch nicht allein als Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Betreuung ihres Sohnes aus Sozialhilfemitteln werten und diesen Anspruch nicht nur nach Maßgabe des § 53 Abs. 1 SGB XII beurteilen dürfen. Bei sachgerechter Einschätzung des Begehrens des Sohnes der Antragsteller hätte der Antragsgegner den Antrag auch nach Maßgabe des § 35 a SGB VIII prüfen und bescheiden müssen. Dies hat der Antragsgegner offenbar in der Zwischenzeit erkannt und sich dementsprechend in seiner Antragserwiderung in dem Schriftsatz vom 25. Juli 2006 sowohl mit dem eventuellen sozialhilferechtlichen als auch mit dem möglichen jugendhilferechtlichen Anspruch des Sohnes der Antragsteller auseinander gesetzt.

Auch das Vorbringen der Antragsteller in ihrem Schriftsatz vom 3. Juli 2006 zur Begründung ihres Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zeigt, dass sie nicht allein einen sozialhilferechtlichen Anspruch geltend machen wollen. So haben sie dort ausgeführt, dass die Parteien allein um die Frage stritten, ob im Falle ihres Sohnes eine Behinderung im Sinne von § 53 SGB XII bzw. § 35 a SGB VIII vorliege, und ihrer Einschätzung nach sowohl die Voraussetzungen des § 35 a SGB VIII als auch die Voraussetzungen des § 53 SGB XII erfüllt seien (Seite 5 dieses Schriftsatzes). Ferner haben die Antragsteller gerügt, dass das Jugendamt im Falle ihres Sohnes nicht beteiligt worden sei, obwohl die Frage, ob ihr Sohn zum Personenkreis der seelisch Behinderten gehöre, allein durch das Jugendamt nach den Vorgaben des Kinder- und Jugendhilferechts geklärt werden könne (Seite 3 dieses Schriftsatzes). Auch wenn die Antragsteller in demselben Schriftsatz an anderer Stelle ausgeführt haben, dass sie mit Antrag vom 8. Februar 2006 die Übernahme der Kosten "aus Sozialhilfemitteln" begehrt hätten (Seite 2 unten) und nach ihrem Dafürhalten die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme "aus Sozialhilfemitteln" vorlägen (Seite 3 unten), so kann jedenfalls bei einer Gesamtschau des Vorbringens der Antragsteller unter Berücksichtigung ihres (oben beschriebenen) Rechtsschutzziels nicht angenommen werden, dass sie ihren beim Verwaltungsgericht gestellten Antrag, der Antragsgegner habe die Kosten für einen Integrationsplatz ihres Kindes in der Integrationsgruppe des Kindergartens vorläufig zu tragen, allein auf §§ 53 ff. SGB XII und nicht auch auf § 35 a SGB VIII stützen wollen.

Schließlich haben die Antragsteller auch mit ihrem Vorbringen zur Begründung der Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts - der Anspruch werde auch auf Jugendhilferecht gestützt; eine Beschränkung auf die Anspruchsgrundlage nach § 53 SGB XII sei in ihrem beim Antragsgegner eingereichten Antrag nicht zu sehen - deutlich gemacht, dass sie eine umfassende - sowohl sozialhilferechtliche als auch jugendhilferechtliche - Prüfung des Anspruches ihres Sohnes auf Eingliederungshilfeleistungen begehren.

Dagegen spricht nicht, dass die Antragsteller in ihrer beim Verwaltungsgericht eingereichten Antragsschrift vom 3. Juli 2006 nicht als gesetzliche Vertreter ihres Sohnes aufgetreten sind. Denn zum einen ergibt sich hieraus kein Hinweis auf die von den Antragstellern geltend gemachte Anspruchsgrundlage und den hierfür zulässigen Rechtsweg, da die Antragsteller im Hinblick auf beide hier in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen nicht aktivlegitimiert sind. Zum anderen hätte diese fehlerhafte Antragstellung durch eine dem Rechtsschutzziel der Antragsteller entsprechende und daher sinnvolle Umstellung des Rubrums mit ihrem Sohn als Antragsteller und den jetzigen Antragstellern als gesetzliche Vertreter ihres Sohnes durch das Verwaltungsgericht korrigiert werden können und kann von diesem auch nach wie vor berichtigt werden, zumal die Antragsteller in der Begründung ihrer Beschwerde mit Schriftsatz vom 18. Juli 2006 klargestellt haben, dass die "leistungsbegehrende Person" ihr Sohn ist.

Auch der Antrag der Antragsteller in ihrem Schriftsatz vom 7. Juli 2006, den Rechtsstreit an das Sozialgericht zu verweisen, spricht nicht gegen die oben dargelegte Auslegung des Rechtschutzbegehrens der Antragsteller bzw. ihres Sohnes. Denn die Antragsteller haben damit lediglich auf den Hinweis in der gerichtlichen Verfügung vom 6. Juli 2006, wonach beabsichtigt sei, den Rechtsstreit an das Sozialgericht Lüneburg zu verweisen, weil in Angelegenheiten der Sozialhilfe die Sozialgerichte entscheiden würden, reagiert und offenbar der weiteren Bearbeitung ihres Antrages lediglich Fortgang geben wollen.

Der angefochtene Verweisungsbeschluss des Verwaltungsgerichts ist nach allem aufzuheben gewesen. Das Verfahren bleibt damit beim Verwaltungsgericht weiter anhängig, da die Wirkungen des § 17 b Abs. 1 Satz 1 GVG - Anhängigkeit des Verfahrens bei dem im Verweisungsbeschluss bezeichneten Gericht - wegen der fehlenden Rechtskraft des Verweisungsbeschlusses noch nicht haben eintreten können.

Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 188 Satz 2 VwGO, da nach dem oben Gesagten (auch) Angelegenheiten der Jugendhilfe Gegenstand des Verfahrens sind. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens sind gemäß § 154 Abs. 1 VwGO dem Antragsgegner aufzuerlegen gewesen. Denn die Vorschrift des § 17 b Abs. 2 Satz 1 GVG betrifft nur den - hier nicht vorliegenden - Fall, in dem ein Verfahren an ein anderes Gericht verwiesen wird, und kann zudem auf die Kosten eines Beschwerdeverfahrens nicht angewandt werden (Ehlers in Schoch / Schmidt-Aßmann / Pietzner, a. a. O., § 41 Rdnr. 35; Kopp / Schenke, a. a. O., § 41 Rdnr. 37 m. w. N.) -. Auch können die außergerichtlichen Kosten nicht gemäß § 21 GKG wegen einer (eventuellen) unrichtigen Sachbehandlung der Staatskasse auferlegt werden. Denn nach ihrem Wortlaut eröffnet diese Bestimmung dem Gericht nur die Möglichkeit, bei unrichtiger Sachbehandlung von der Erhebung gerichtlicher Kosten abzusehen, die hier wegen der Gerichtskostenfreiheit nach § 188 Satz 2 VwGO ohnehin nicht anfallen. Eine analoge Anwendung des § 21 GKG auf außergerichtlichen Kosten kommt nicht in Betracht, da es sich bei dieser Vorschrift bereits um eine Ausnahmeregelung handelt, die eine erweiternde Auslegung nicht zulässt (so auch die ständige Rechtsprechung des BVerwG zu § 8 GKG, Beschluss vom 4.6.1991 - 4 B 189/90 -, Buchholz 360 § 8 GKG Nr. 4 und Beschluss vom 20.8.2001 - 3 B 88/01 -, BayVBl. 2002, 125, und Nds. OVG, Beschluss vom 5.9.2005 - 2 OA 234/05 -, zu § 21 GKG).

Die weitere Beschwerde ist nicht zugelassen worden, da Zulassungsgründe im Sinne des § 17 a Abs. 4 Satz 5 GVG nicht vorliegen. Damit ist dieser Beschluss nicht anfechtbar (17 a Abs. 4 Satz 4 GVG).

Ende der Entscheidung

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