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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 05.02.2007
Aktenzeichen: 9 LA 11/06
Rechtsgebiete: NWG


Vorschriften:

NWG § 149 Abs. 3
Bei der im Rahmen des § 149 Abs. 3 NWG gebotenen Bewertung, ob ein Versickern von Niederschlagswasser auf dem Grundstück möglich ist, sind auch Extremniederschläge zur berücksichtigen, die nur innerhalb einer bestimmten Wiederkehrzeit auftreten.
NIEDERSÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT LÜNEBURG BESCHLUSS

Aktenz.: 9 LA 11/06

Datum: 05.02.2007

Gründe:

Der Kläger wendet sich dagegen, dass die Beklagte den Beigeladenen hinsichtlich der Niederschlagswasserbeseitigung auf dessen Grundstück vom Anschluss- und Benutzungszwang befreit hat. Er hält die Befreiung für rechtswidrig, weil sie dazu führe, dass seinem Grundstück Gefahren durch Vernässung oder Überschwemmung drohten. Das Verwaltungsgericht hat seine Klage mit dem angefochtenen Urteil als unbegründet abgewiesen. Es hat dabei auf ein Urteil des Amtsgerichts Neustadt a. Rbge. vom D. E. 2001 - F. - verwiesen, das in einem Rechtsstreit zwischen dem Kläger und dem Beigeladenen nach Einholung eines Sachverständigengutachtens vom 14. Juli 2000 ergangen war. Zur Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens hat sich das Verwaltungsgericht nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung nicht veranlasst gesehen, weil der Kläger nicht substantiiert dargelegt habe, dass sein Grundstück gefährdet sei.

Der dagegen gerichtete und auf § 124 Abs. 1 Nrn. 1, 3 und 5 gestützte Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Weder liegen die in erster Linie geltend gemachten Verfahrensfehler vor, noch bestehen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils, oder hat die Rechtssache eine grundsätzliche Bedeutung.

Der Kläger erblickt Verfahrensfehler im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO darin, dass sich das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung des Amtsgerichts ohne weitere Nachprüfung zu Eigen gemacht habe, obwohl von ihm ausdrücklich geltend gemacht und unter Beweis gestellt worden sei, dass das vom Amtsgericht eingeholte Sachverständigengutachten falsche Regelwerke fehlerhaft anwende und von einer falschen Tatsachenermittlung ausgehe. Zusätzliche Erwägungen des Verwaltungsgerichts seien im Hinblick darauf erforderlich gewesen, dass sich das Amtsgericht nur mit zivilrechtlichen Fragestellungen befasst und er sich gegenüber dem Verwaltungsgericht substantiiert mit den Erwägungen des Amtsgerichts auseinandergesetzt habe. Hätte das Verwaltungsgericht über die von ihm aufgeworfenen Einzelfragen Beweis erhoben, wäre ein Sachverständiger voraussichtlich zu dem Ergebnis gekommen, dass die behauptete Gefährdungslage für sein Grundstück tatsächlich bestehe und das eingeholte Sachverständigengutachten nicht zu Grunde gelegt werden könne.

Dieses Vorbringen vermag das Vorliegen von Verfahrensfehlern nicht zu begründen. Wird ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) geltend gemacht, muss substantiiert dargelegt werden, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären; weiterhin muss dargetan werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist. Ein Gericht verletzt seine Pflicht zur erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts nämlich grundsätzlich nicht, wenn es von einer Beweiserhebung absieht, die eine durch einen Rechtsanwalt vertretene Partei nicht ausdrücklich beantragt hat. Etwas anderes gilt nur dann, wenn sich die Notwendigkeit einer Beweiserhebung offensichtlich hätte aufdrängen müssen, das Verwaltungsgericht sich eine Sachkunde zuschreibt, die es nicht haben kann, oder seine Entscheidungsgründe auf mangelnde Sachkunde schließen lassen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.8.1987 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 (n.F.( Nr. 26 S. 14 m.w.N. = NJW 1997, 3328, Beschl. v. 31.8.2001 - 9 B 38/01 - KStZ 2001, 234; Nds. OVG, Beschl. v. 27.6.2002 - 9 LA 275/02 - und v. 19.4.2006 - 12 LA 80/05 -).

Nach diesen Maßstäben führt der Umstand, dass der Kläger wohl im schriftlichen Verfahren, nicht aber in der mündlichen Verhandlung Beweisanträge gestellt hat und das Verwaltungsgericht den schriftlichen Anregungen nicht gefolgt ist, nicht zu einem Verfahrensfehler. Bei den schriftlichen Beweisanträgen handelt es sich lediglich um Ankündigungen für ein mögliches späteres prozessuales Vorgehen. Erst wenn in der mündlichen Verhandlung ein ausdrücklicher Beweisantrag gestellt wird, bedarf es gemäß § 86 Abs. 2 VwGO dessen Bescheidung durch einen Beschluss (vgl. z.B. Beschl. d. Sen. v. 8.7.1998 - 9 L 1439/98 -). Ein derartiger Beweisantrag ist ausweislich des Sitzungsprotokolls in der mündlichen Verhandlung am 14. Dezember 2005 vom Prozessbevollmächtigten des Klägers nicht gestellt worden.

Die soeben dargelegten Gründe, aus denen gleichwohl eine Beweiserhebung geboten gewesen sein kann, liegen nicht vor. Die Entscheidung darüber, ob ein weiteres Gutachten eingeholt werden soll, steht nach § 98 VwGO i.V.m. §§ 404 Abs. 1, 412 ZPO im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Dieses Ermessen wird nur dann verfahrensfehlerhaft ausgeübt, wenn das Gericht von der Einholung eines - weiteren - Gutachtens oder eines Obergutachtens absieht, obwohl die Notwendigkeit dieser weiteren Beweiserhebung sich ihm hätte aufdrängen müssen. Die Nichteinholung eines weiteren Gutachtens ist daher in aller Regel nur dann verfahrensfehlerhaft, wenn das bereits vorliegende Gutachten auch für den nicht Sachkundigen erkennbare Mängel aufweist, es insbesondere von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht oder unlösbare Widersprüche enthält, wenn Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit des Sachverständigen besteht, wenn ein anderer Sachverständiger über bessere Forschungsmittel verfügt oder es sich um besonders schwierige Fragen handelt, die umstritten sind oder zu denen einander widersprechende Gutachten vorliegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 6.2.1985 - BVerwG 8 C 15.84 - BVerwGE 71, 38 ff.; ebenso der o. g. Beschl. vom 18.2.1994 - BVerwG 5 B 136.93 -). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.

Das vom Amtsgericht eingeholte Sachverständigengutachten vom 14. Juli 2000 und die Erläuterungen des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht sind in sich widerspruchsfrei. Berechtigte Zweifel an der Sachkunde des Gutachters liegen nicht vor. Zu Zweifeln an seiner Unparteilichkeit besteht ebenfalls kein Anlass. Die Gründe, aus denen das Amtsgericht (und ihm folgend das Verwaltungsgericht) das Gutachten als überzeugend ansehen, sind eingehend und - wie sich aus den Ausführungen unten ergibt - gut nachvollziehbar dargelegt. Dass das Verwaltungsgericht unter diesen Umständen die Einholung eines weiteren Gutachtens nicht für erforderlich gehalten hat, ist nicht zu beanstanden.

Zur Geltendmachung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils sowie einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache trägt der Kläger vor: Aus seinen Darlegungen zum Vorliegen eines Verfahrensfehlers folge, dass in den vorangegangenen Gerichtsverfahren Tatsachenfeststellungen und rechtliche Würdigungen fehlerhaft vorgenommen worden seien. In einem Berufungsverfahren müssten vor allem die Rechtsfragen geklärt werden, ob für die Schadlosigkeit der Niederschlagswasserbeseitigung auf Grundstücken andere Bemessungskriterien (Bezugsregenereignisse) gelten würden als für die Dimensionierung von zentralen Niederschlagswasserbeseitigungsanlagen und ob bei der Prüfung der Versickerungsmöglichkeiten auf den Grundstücken 5-, 10-, 20- oder 100-jährige Starkregenereignisse zu berücksichtigen seien. Auch dieses Vorbringen rechtfertigt die begehrte Zulassung der Berufung nicht, wie folgende Überlegungen zeigen.

Das Verwaltungsgericht hat im angefochtenen Urteil vom rechtlichen Ansatz her zutreffend auf § 5 Abs. 1 der Abwasserbeseitigungssatzung der Beklagten vom 5. Dezember 1996 (ABl. LK Hannover 1997, S. 41) abgestellt. Danach werden vom Anschluss- und Benutzungszwang für die zentrale Niederschlagswasserbeseitigung solche Grundstücke befreit, auf denen das Niederschlagswasser versickern kann, so dass ein gesammeltes Fortleiten im Sinne von § 149 Abs. 3 NWG nicht erforderlich ist. Ein Versickern muss nicht nur bezüglich der üblicherweise während eines Jahres anfallenden Niederschlagswassermengen, sondern auch hinsichtlich in größeren Abständen auftretender Extremniederschläge möglich sein. Ob die statistische Wiederkehrzeit, bei der ein Versickern von Extremniederschlägen noch gewährleistet sein muss, 5, 10, 15 oder gar 20 Jahre beträgt, lässt sich nicht verallgemeinernd sagen, so dass auch die vom Kläger gewünschte grundsätzliche Klärung dieser Frage in einem Berufungsverfahren nicht in Betracht kommt. So ist bereits angesichts des stattfindenden Klimawandels gar nicht genau prognostizierbar, welche Häufigkeit bestimmte Stärken von Extremniederschlägen in den nächsten Jahrzehnten aufweisen werden. Darüber hinaus ist die Festlegung der statistischen Wiederkehrzeit von Extremniederschlägen, deren Versickerung sichergestellt sein muss, von den Umständen des Einzelfalles abhängig, insbesondere auch davon, in welchem Gebiet ein Grundstück liegt (ländliche Gegend mit weitläufiger Bebauung oder Wohngebiet mit dichter Bebauung und Grundstücksgrößen von beispielsweise unter 1000 qm) und ob von dem Grundstück (z.B. wegen einer Hanglage) ein besonderes Gefährdungspotenzial für die Nachbargrundstücke ausgeht.

Als grober Richtwert für die Bemessung der maßgeblichen Wiederkehrzeit von Extremniederschlägen können die dazu vorhandenen Zeitangaben in der DIN 1986 Teil 2, der DIN EN 752-2 und -4 sowie in den Arbeitsblättern der Abwassertechnischen Vereinigung (Nr. 138) herangezogen werden. Die DIN 1986 Teil 2 befasst sich mit der Entwässerung von Grundstücken; sie berücksichtigt das Vorkommen von Extremniederschlägen insoweit, als es um die Bemessung der notwenigen Durchmesser von Abflussrohren geht. Die Arbeitsblätter der Abwassertechnischen Vereinigung enthalten Empfehlungen für Versickerungseinrichtungen; bei zentralen Versickerungsanlagen werden die Berechnungen für den Regelfall auf sich alle 10 Jahre wiederholende Extremniederschläge bezogen. In den DIN EN 752-2 und -4 wird eine Überflutungshäufigkeit von einmal in 10 Jahren bei ländlichen Gebieten, also Gebieten mit weitläufiger Bebauung, und von einmal in 20 Jahren bei Wohngebieten mit dichterer Bebauung, etwa Grundstücken von durchschnittlich unter 1000 qm Größe, als hinnehmbar eingestuft. Diesen Einschätzungen entspricht es, dass in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. z.B. BGH, Urt. v. 22.4.2004 - III ZR 108/03 - zit. n. juris; OLG Karlsruhe, Urt. v. 7.10.1999 - 19 U 93/98 - BauR 2001, 120) Starkregenfälle mit einer geschätzten Wiederkehrzeit von ca. 10 Jahren nicht als höhere Gewalt im Sinne von § 2 Abs. 3 Nr. 3 Haftpflichtgesetz angesehen werden. Katastrophenartige Unwetter gelten erst dann als höhere Gewalt, wenn mit ihnen statistisch gesehen allenfalls einmal in 100 Jahren gerechnet werden kann.

Soweit die genannten Regelungen auf eine gewisse Häufigkeit von Extremniederschlägen abstellen, beziehen sie sich auf die Anforderungen, denen zentrale Niederschlagswasserbeseitigungsanlagen im Interesse einer gesicherten Abwasserbeseitigung genügen müssen. Da die Schutzgüter von zentraler und dezentraler Niederschlagswasserbeseitigung einander ähnlich sind, ist es vom Grundsatz her sachgerecht, für beide Beseitigungsformen jedenfalls in etwa von einer gleichen Häufigkeit von Extremniederschlägen auszugehen. Besonderheiten ergeben sich allerdings daraus, dass Niederschlagswasser bei einer Versickerung nicht mit der gleichen Plötzlichkeit und Sturzartigkeit auftritt wie bei einer Ableitung über Abflussrohre. Dieser Umstand legt es nahe, die hinzunehmenden Wiederkehrzeiten von Extremniederschlägen für eine Versickerung auf den Grundstücken tendenziell großzügiger zu bemessen als für zentrale Ableitungssysteme.

Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, dass das Verwaltungsgericht mit seiner Bezugnahme auf das amtsgerichtliche Urteil und das vom Amtsgericht eingeholte Sachverständigengutachten zu Recht angenommen hat, dem Grundstück des Klägers drohten grundrechtsrelevante Gefahren vom Grundstück des Beigeladenen nicht. Der Sachverständige hat auch nach Ansicht des Senats in seinem Gutachten überzeugend dargelegt, dass das auf dem Grundstück des Beigeladenen anfallende Niederschlagswasser mit großem Sicherheitsspielraum hinreichend versickern kann. Nach den Feststellungen des Sachverständigen kann das Grundstück des Beigeladenen eine einmalige Niederschlagsmenge von 40 % der mittleren Jahresniederschlagsmenge aufnehmen. Seinen nachvollziehbaren Angaben zufolge liegt das statistisch zu erwartende Ereignis, bei dem eine vollständige Versickerung auf dem Grundstück des Beigeladenen nicht mehr möglich wäre, "deutlich über einem 5-Jahres-Zeitraum". Da das Grundstück des Beigeladenen in einer ländlichen Gegend liegt und kein besonderes Gefährdungspotenzial aufweist, kann nach Auffassung des Senats bei der bestehenden Möglichkeit, innerhalb der genannten Wiederkehrzeit auftretende Niederschläge dort versickern zu lassen, von einer schadlosen Abwasserbeseitigung im Sinne des § 149 Abs. 3 NWG ausgegangen werden.

Ende der Entscheidung

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