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Gericht: Oberlandesgericht Celle
Urteil verkündet am 02.11.2006
Aktenzeichen: 14 U 90/06
Rechtsgebiete: StVG, StVO
Vorschriften:
StVG § 7 | |
StVG § 17 | |
StVO § 5 |
Oberlandesgericht Celle Im Namen des Volkes Urteil
Verkündet am 2. November 2006
In dem Rechtsstreit
hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die mündliche Verhandlung vom 10. Oktober 2006 durch die Richterin am Oberlandesgericht ... als Vorsitzende sowie die Richterin am Oberlandesgericht ... und den Richter am Oberlandesgericht ... für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 10. März 2006 verkündete Urteil des Einzelrichters der 9. Zivilkammer des Landgerichts Hannover teilweise abgeändert.
Die Klage wird weiter abgewiesen, soweit das Landgericht die Beklagte verurteilt hat, an die Klägerin 9.926,22 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 12. Juni 2004 zu zahlen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 9.926,22 EUR festgesetzt.
Gründe:
I.
Die Berufung der Beklagten gegen ihre Verurteilung zur Zahlung von 25 % des von der Klägerin regulierten Gesamtschadens der Drittgeschädigten aus dem Verkehrsunfall am 4. August 2003 ist begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gesamtschuldnerausgleich gemäß § 426 Abs. 2 Satz 1 BGB, § 7 Abs. 1, § 17 Abs. 1 StVG, § 3 Nr. 1 PflVG gegen die Beklagte, weil im Innenverhältnis zwischen der Fahrerin des (bei der Klägerin versicherten) überholenden Audi und dem Fahrer des (bei der Beklagten versicherten) überholten Lkw erstere den Drittgeschädigten gegenüber allein haftet.
1. Allerdings trifft entgegen der in der Berufungsbegründung von der Beklagten vertretenen Auffassung auch den Fahrer des Lkw an dem Unfall ein Verschulden. Denn die vom Landgericht festgestellte und von der Beklagten nicht in Abrede gestellte Geschwindigkeitsüberschreitung des Lkw von 12 km/h (gefahrene 72 km/h statt zulässiger 60 km/h) ist für den Unfall mitursächlich geworden, wovon das Landgericht mit Recht ausgegangen ist.
Der rechtliche Ursachenzusammenhang zwischen einer Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und einem Verkehrsunfall ist zu bejahen, wenn bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit zum Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Verkehrssituation der Unfall vermeidbar gewesen wäre (BGH, NJW 2003, 1929). Die kritische Verkehrssituation beginnt für einen Verkehrsteilnehmer dann, wenn die ihm erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann (BGH, a. a. O.). Das war hier für den Lkw-Fahrer der Moment, als er den Überholvorgang der Audi-Fahrerin und das Auftauchen von entgegenkommenden Fahrzeugen bemerkte. Wie der Lkw-Fahrer bei seiner polizeilichen Anhörung am 9. August 2003 ausgesagt hat (vgl. Bl. 12 d. A. BY 741300465403/6 der Polizeiinspektion L.), hat er in diesem Moment sofort die Vollbremsung eingeleitet. Wäre der Lkw zu diesem Zeitpunkt nur mit einer Geschwindigkeit von 60 km/h gefahren, wäre der Unfall bei im Übrigen gleichem Verhalten des Lkw-Fahrers (welches dafür zugrunde zu legen ist) vermieden worden. Denn dem Audi hätten dann jedenfalls gut drei Meter mehr zur Verfügung gestanden, weil ein Fahrzeug bei einer Fahrgeschwindigkeit von 72 km/h in der Sekunde 20 m zurücklegt, bei einer Fahrgeschwindigkeit von 60 km/h dagegen nur 16,67 m. Da nach den von der Polizei an der Unfallstelle gefertigten Fotos der Unfallfahrzeuge (insbesondere Lichtbild Nr. 10) und der Aussage des Lkw-Fahrers bei seiner polizeilichen Anhörung die Anstoßstelle an der vorderen Stoßstange der Zugmaschine des Lkw-Gespanns lag, ferner unstreitig ist, dass die Kollisionsstelle bei dem Audi an dessen rechter hinterer Fahrzeugseite lag und der Audi ebenfalls mit mindestens 72 km/h fuhr, also in einer Sekunde 20 m zurücklegte, während der Lkw bei einer Geschwindigkeit von 60 km/h in der gleichen Zeit nur 16,67 m gefahren wäre (s. o.), ist die Feststellung des Landgerichts, der Zusammenprall wäre dann nicht erfolgt, im Ergebnis nicht zu beanstanden. Hierzu bedurfte es keiner Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens.
2. a) Bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge nach § 17 Abs. 1 StVG ist somit zulasten des Lkw-Fahrers neben der Betriebsgefahr des Lkw-Gespanns auch das in der Geschwindigkeitsüberschreitung liegende Verschulden zu berücksichtigen.
b) Dem steht jedoch ein ganz erhebliches Verschulden der Fahrerin des überholenden Audi gegenüber. Deren Überholmanöver stellt sich als grob verkehrswidrig dar, weil sie sich entschlossen hat, an dem Lkw vorbeizufahren, obwohl sie wegen der Rechtskurve nicht übersehen konnte, dass während des gesamten Überholvorgangs jede Behinderung des Gegenverkehrs ausgeschlossen sein würde (Verstoß gegen § 5 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Nr. 1 StVO). Dabei konnte sie spätestens unmittelbar nach dem Ausscheren erkennen, dass es sich bei dem Lkw um ein besonders langes Gespann handelte, dessen Überholen mehr Zeit in Anspruch nehmen würde, als sie zunächst - weil sie den Anhänger zuvor nicht wahrgenommen hatte - veranschlagt hatte. Sie hätte daher den Überholvorgang jedenfalls jetzt wegen der damit verbundenen unübersehbaren Risiken sofort abbrechen müssen, zumal ihr auch die überhöhte Geschwindigkeit des Lkw während des Heranfahrens an diesen erkennbar gewesen wäre.
Hinzu kommt schließlich noch ein weiteres Fehlverhalten der Fahrerin des Audi während des Überholvorgangs, denn durch das zu frühe Einscheren nach rechts hat sie den überholten Lkw-Fahrer behindert (Verstoß gegen § 5 Abs. 4 Satz 4 StVO).
c) Bei der Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge hält der Senat nach nochmaliger Beratung im Anschluss an die mündliche Verhandlung die der Fahrerin des Audi anzulastenden Verkehrsverstöße für so gravierend, dass das Verschulden des Lkw-Fahrers und die Betriebsgefahr des Lkw-Gespanns dahinter vollständig zurücktreten. Zwar ist die dem Lkw-Fahrer anzulastende Geschwindigkeitsüberschreitung mit 12 km/h (= 20 %) entgegen der Auffassung der Beklagten durchaus nicht unerheblich. Auch ist zu berücksichtigen, dass bei Überschreiten der zulässigen Geschwindigkeit ein gefahrloses Überholen langer Lkw-Gespanne durch andere Fahrzeuge erschwert wird, sodass sich hier ein Risiko verwirklicht hat, dem die Geschwindigkeitsbegrenzung in § 3 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b StVO (auch) entgegenwirken soll. Denn § 3 StVO will allgemein Unfälle infolge zu schnellen Fahrens verhindern (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 3 StVO, Rdnr. 12).
Im Vergleich zu dem dem Fahrer des Lkw anzulastenden Verschulden wiegt jedoch im hier zu beurteilenden konkreten Fall das Verschulden der überholenden Audi-Fahrerin so schwer, dass diese für die Unfallfolgen allein einzustehen hat. Das Überholen vor der nicht einsehbaren Rechtskurve hat mehrere Personen konkret gefährdet. Denn nur das geistesgegenwärtige Ausweichen der beiden ersten ihr entgegenkommenden Fahrzeuge (des Mercedes-Cabrio mit schweizerischem Kennzeichen und des vom Unfallbeteiligten K. gesteuerten Mercedes) hat einen Frontalzusammenstoß des Audi mit einem dieser Fahrzeuge verhindert. Zudem hat die Fahrerin des Audi nicht nur einen unverantwortlichen Überholvorgang durchgeführt, sondern durch eine weitere Fehlreaktion (zu frühes Hinüberziehen ihres Fahrzeugs) bei dessen Beendigung dann die Kollision mit dem Lkw und dem ihr entgegenkommenden dritten Pkw des Unfallbeteiligten Dr. M. herbeigeführt. Dies rechtfertigt im Ergebnis das Zurücktreten des demgegenüber nur geringen Verursachungs- und Verschuldensbeitrags des Lkw-Fahrers.
II.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf § 91 Abs. 1 Satz 1, § 708 Nr. 10, § 713 ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen dafür (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO) nicht vorliegen.
Ende der Entscheidung
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