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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 02.10.2002
Aktenzeichen: 2 Ss 839/02
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 329
StPO § 44
Das nach § 329 Abs. 1 StPO ergangene Verwerfungsurteil muss so begründet sein, dass das Revisionsgericht die maßgebenden Erwägungen des Berufungsgerichts nachprüfen kann. Insbesondere müssen etwa vorgebrachte Entschuldigungsgründe und sonstige ggf. als Entschuldigung in Betracht kommende Tatsachen wiedergegeben und gewürdigt werden.
Beschluss Strafsache gegen P.W. wegen versuchten Raubes.

Auf die Revision des Angeklagten vom 20. Juni 2002 gegen das Urteil der 14. kleinen Strafkammer des Landgerichts Bochum vom 13. Juni 2002 und auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten vom 30. Juli 2002 gegen den Beschluss der 14. kleinen Strafkammer des Landgerichts Hagen vom 11. Juli 2002 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 02. 10. 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gem. § 349 Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Bochum zurückverwiesen.

Die sofortige Beschwerde des Angeklagten ist gegenstandslos.

Gründe:

I.

Der Angeklagte ist vom Amtsgericht Bochum vom 23. Januar 2002 wegen versuchten Raubes zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 2 Monaten verurteilt worden. Hiergegen hat er form- und fristgerecht Berufung eingelegt.

Das Landgericht hat daraufhin Termin zur Berufungshauptverhandlung auf den 13. Juni 2002 bestimmt. In der Hauptverhandlung ist der Angeklagte nicht erschienen. Sein Verteidiger hat einen vorläufigen Entlassungsbericht des Westfälischen Zentrums für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsklinik Bochum vom 25. April 2002 überreicht, wonach der Angeklagte an einer "Paranoid-halluzinatorischen Psychose" leidet und "opiatabhängig" ist. Das Landgericht hat die Berufung des Angeklagten gemäß § 329 Abs. 1 StPO verworfen. Diese Entscheidung hat es formularmäßig (nur) damit begründet, dass der Angeklagte trotz ordnungsgemäßer Ladung "ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben und auch nicht in zulässiger Weise vertreten worden" sei.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit der Revision und seinem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er trägt vor, dass er "zum einen die Ladung nicht erhalten hat und zum anderen an paranoid-halluzinatorischer Psychose leidet und die Bedeutung der Notwendigkeit seines Erscheinens zur Hauptverhandlung nicht erfassen konnte. Er ist höchstwahrscheinlich nicht haftfähig."

Den Wiedereinsetzungsantrag hat das Landgericht inzwischen durch Beschluss vom 11. Juli 2002 als unbegründet verworfen. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit der sofortigen Beschwerde. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision und die sofortige Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

Die Revision des Angeklagten hat - zumindest vorläufig - Erfolg, so dass das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen war.

1. Die Revision ist noch ausreichend begründet. Wird mit der Revision gegen ein gemäß § 329 Abs. 1 StPO ergangenes Verwerfungsurteil geltend gemacht, dieses gehe zu Unrecht davon aus, dass der Angeklagte nicht genügend entschuldigt gewesen sei, setzt die Überprüfung der vom Landgericht vorgenommenen Wertung die Erhebung einer der Vorschrift des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Verfahrensrüge voraus (Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl., § 329 Rn. 48; Beschluss des Senats in VRS 97, 44 = DAR 1999, 277 Ls. = StV 2001 340 Ls. und in NStZ-RR 2000, 85 = VRS 98, 203 = DAR 2000, 56 Ls. ; siehe u.a. aus der obergerichtlichen Rechtsprechung insbesondere auch noch OLG Köln StV 1989, 53 mit weiteren Nachweisen). An die Zulässigkeit dieser Verfahrensrüge werden jedoch keine strengen Anforderungen gestellt (OLG Köln, a.a.O.). Ergibt sich, dass der Angeklagte Entschuldigungsgründe vorgebracht hat, ist es ausreichend, wenn ausgeführt wird, das Berufungsgericht habe das Ausbleiben des Angeklagten nicht als unentschuldigt ansehen zu dürfen.

Diese Rüge ist vorliegend zumindest in dem gleichzeitig mit der Revision begründeten Wiedereinsetzungsantrag enthalten. Das ist ausreichend (OLG Köln, a.a.O.). Die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils brauchen nicht wiederholt zu werden. Das wäre, zumal, wenn das Urteil wie vorliegend nur formularmäßig begründet worden ist, reiner Formalismus (OLG Düsseldorf NStZ 1994, 331 = StV 1994, 148). Auch das Fehlen der Revisionsanträge schadet vorliegend nicht, da das Ziel des Rechtsmittels, die Aufhebung des angefochtenen Urteils, noch ohne weiteres zu erkennen ist. Schließlich lässt sich dem Gesamtzusammenhang der Begründung auch noch ausreichend entnehmen, dass der Verteidiger sich für den Angeklagten zur Entschuldigung des Ausbleibens im Hauptverhandlungstermin auf den Entlassungsbericht vom 25. April 2002 berufen hat.

2. Die somit zulässig mit der Verfahrensrüge begründete Revision hat auch in der Sache - zumindest vorläufig - Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

a) Dahinstehen kann die in Rechtsprechung und Literatur umstrittene Frage, ob § 329 Abs. 1 StPO mit Art. 6 Abs. 3 Buchstabe c MRK vereinbar ist. In der obergerichtlichen Rechtsprechung wird die Konventionswidrigkeit von § 329 Abs. 1 StPO - soweit ersichtlich - übereinstimmend verneint (vgl. dazu BayObLG NStZ-RR 2000, 307; OLG Köln NStZ-RR 1999, 112; OLG Oldenburg NStZ 1999, 156, so auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 329 Rn. 2), in der Literatur hingegen teilweise unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (vgl. NJW 1999, 2353 und NJW 2001, 2387, weitere Nachweise bei Sommer in Strafverteidigung in der Praxis, 2. Aufl., § 17 Rn. 66 ff.) bejaht (siehe dazu Sommer, a.a.O.; Gundel NJW 2002, 2380 und Meyer-Mews NJW 2002, 1928 in den Anmerkungen zu EuGH NJW 1999, 2353). Die Frage konnte indes vorliegend deshalb dahinstehen, weil sie nicht entscheidungserheblich war, da das angefochtene Urteil aus anderen Gründen aufgehoben werden musste.

b) Die Revision des Angeklagten hat nämlich schon deshalb Erfolg, weil die Begründung des angefochtenen Verwerfungsurteils aus Rechtsgründen zu beanstanden ist. Sie genügt nämlich in keiner Weise den von der Rechtsprechung an den notwendigen Inhalt eines gemäß § 329 Abs. 1 StPO ergangenen Verwerfungsurteils gestellten Anforderungen (vgl. neben den bereits erwähnten Entscheidungen des Senats auch noch Beschluss in StraFo 1998, 233 = NStZ-RR 1998, 281; siehe dazu auch schon u.a. OLG Hamm NJW 1963, 65; KG StV 1987, 11; OLG Köln, a.a.O., siehe auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 329 Rn. 33 mit weiteren Nachweisen). Nach der ständigen Rechtsprechung der Obergerichte, die der des erkennenden Senats entspricht, muss das nach § 329 Abs. 1 StPO ergangene Verwerfungsurteil so begründet sein, dass das Revisionsgericht die maßgebenden Erwägungen des Berufungsgerichts nachprüfen kann. Insbesondere müssen etwa vorgebrachte Entschuldigungsgründe und sonstige ggf. als Entschuldigung in Betracht kommende Tatsachen wiedergegeben und gewürdigt werden (OLG Hamm, a.a.O.; OLG Köln, a.a.O.). Das folgt schon daraus, dass das Revisionsgericht bei der Prüfung der Frage, ob das Berufungsgericht die in § 329 Abs. 1 StPO enthaltenen Rechtsbegriffe verkannt hat, an die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Verwerfungsurteil gebunden ist. Es darf sie weder in Frage stellen noch im Freibeweisverfahren ergänzen (BGHSt 28, 384; KG, a.a.O.; OLG Köln, a.a.O.; Senat, a.a.O.).

Das angefochtene Urteil entspricht diesen Grundsätzen nicht. Es wird noch nicht einmal mitgeteilt, dass der Angeklagte sein Fernbleiben (offenbar) mit dem Entlassungsbericht vom 25. April 2002 entschuldigen wollte. Obwohl der Strafkammer ausweislich des Sitzungs-Protokolls diese ärztliche Bescheinigung vorgelegen hat, hat sie sich mit ihr im Urteil in keiner Weise auseinandergesetzt. Es fehlt jede Ausführung dazu, dass und warum sie das Vorbringen des Angeklagten nicht als ausreichende Entschuldigung angesehen hat.

Dieser Darstellungsmangel macht es dem Senat nicht nur unmöglich zu prüfen, ob das Landgericht den Rechtsbegriff der "genügenden Entschuldigung" verkannt hat, sondern auch, ob das Landgericht eine Aufklärungspflicht hatte, der es ggf. rechtsfehlerhaft nicht nachgekommen ist (vgl. dazu Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 329 Rn. 18 mit weiteren Nachweisen; siehe auch Senat in VRS 93, 122 sowie in MDR 1997, 686 = NZV 1997, 411 Ls. = ZAP EN-Nr. 691/97 = VRS 93, 450 für den vergleichbaren Fall des § 74 Abs. 2 OWiG a.F. sowie in ZAP EN-Nr. 389/97 = NStZ-RR 1997, 240 = DAR 1997, 361 und die o.a. Rechtsprechungsnachweise).

III.

Nachdem aufgrund der Revision des Angeklagten das angefochtene Urteil des Landgerichts aufzuheben war, ist die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den seinen Wiedereinsetzungsantrag ablehnenden Beschluss des Landgerichts prozessual überholt und damit gegenstandslos (Senat in VRS 97, 44 s.o. ).

IV.

Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat vorsorglich auf Folgendes hin:

In der Ladungsverfügung hat das Landgericht beim Angeklagten angefragt, ob die Berufung ggf. auf das Strafmaß beschränkt werden soll. Eine Erklärung dazu ist bislang noch nicht erfolgt. Der Senat weist darauf hin, dass, selbst wenn der Angeklagte die Berufung auf das Straf-raß beschränken sollte, dies das Landgericht nicht von der Verpflichtung entbindet, im Rahmen der Strafzumessung zu prüfen, ob bei Tatbegehung ggf. die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB vorgelegen haben. Dazu zwingen die tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts, das festgestellt hat, dass der Angeklagte die Tat beging, "um sich Mittel für seinen Drogenkonsum zu verschaffen". Auf dieser Grundlage ist die Erwägung in der amtsgericht-eichen Strafzumessung: "Das Gericht hat auch zu seinen Gunsten berücksichtigt, dass er aufgrund seiner Drogenabhängigkeit unter einem gewissen Druck stand, sich die nächsten Bar-mittel zur Befriedigung seiner Sucht zu besorgen." nicht ausreichend. Das gilt vor allem auch im Hinblick darauf, dass der Angeklagte nach den amtsgerichtlichen Feststellungen zunächst (nur) Haschisch konsumiert hat, seit zwei Jahren aber Heroin injiziert. Dies alles macht weitere tatsächliche Feststellungen des Tatrichters erforderlich und ggf. auch zur Beantwortung der mit den §§ 20, 21 StGB zusammenhängenden Fragen die Beiziehung sachverständiger Hilfe.

Der Senat weist zudem darauf hin, dass das Amtsgericht § 249 Abs. 2 StGB übersehen hat. Nach den festgestellten Umständen in Tat und Täter dürften Ausführungen dazu aber zwingend erforderlich sein: Der Angeklagte ist nämlich drogenabhängig, er beging die Tat zur Befriedigung seiner Sucht, die Tat ist im Versuchsstadium stecken geblieben und es wurde bei Tatbegehung eine Spielzeugpistole benutzt.

Ende der Entscheidung

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