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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 27.12.2002
Aktenzeichen: 2 Ws 475/02
Rechtsgebiete: StPO, StGB


Vorschriften:

StPO § 112
StGB § 57
Zur (verneinten) Fluchtgefahr, wenn von einer erkannten Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten nach Anrechnung von bereits erlittener Untersuchungshaft unter Berücksichtigung einer zu erwartenden positiven 2/3-Entscheidung allenfalls noch ein Strafrest von knapp 22 Monaten verbleibt
Beschluss Strafsache

gegen W.W.

wegen Vergewaltigung u.a.

(hier: weitere Beschwerde des Angeklagten gegen die Anordnung der Untersuchungshaft).

Auf die weitere (Haft-)Beschwerde des Angeklagten vom 25. November 2002 gegen den Beschluss der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Hagen vom 20. November 2002 hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 27. 12. 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Tenor:

Der Haftbefehl des Amtsgerichts Hagen vom 17. März 2002 (67 Gs 344/02) in der Fassung der Haftfortdauerbeschlüsse des Amtsgerichts Hagen vom 29. Juli 2002 sowie vom 11. September 2002 (74 Ls 100 Js 84/02 -28/02-) wird aufgehoben.

Die Landeskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Angeklagten im Beschwerdeverfahren entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe:

I.

Der am 16. März 2002 vorläufig festgenommene Angeklagte befindet sich seit dem 17. März 2002 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Hagen vom selben Tag (67 Gs 344/02), hinsichtlich der Haftgründe ergänzt und neu gefasst durch Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 29. Juli 2002 (74 Ls 100 Js 84/02 -28/02-), in dieser Sache ununterbrochen in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Hagen. Durch Urteil des erweiterten Schöffengerichts des Amtsgerichts Hagen vom 11. September 2002 (74 Ls 100 Js 84/02 -28/02-) ist gegen ihn wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung auf eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten erkannt worden. Der zur Tatzeit 48 Jahre alte Angeklagte hatte nach den Urteilsfeststellungen am Morgen des 16. März 2002 mit seiner damals 21 Jahre zählenden Ehefrau H.W. nach ihrer Rückkehr von einer Liebesnacht mit ihrem neuen Freund, für den sie sich von ihm trennen wollte, als Bestrafungsaktion in Gegenwart seines Sohnes gegen ihren Willen gewaltsam zwei Mal den vaginalen Geschlechtsverkehr sowie ein Mal den Analverkehr ausgeübt. Außerdem hatte er danach seine Ehefrau gezwungen, zunächst eine 0,75 Liter Sprudelflasche und anschließend das vibrierende Griffstück einer elektrischen Zahnbürste in ihre Vagina einzuführen. Denn er hatte in der Nacht zuvor von seinem zu diesem Zeitpunkt ebenfalls 21 Jahre alten Sohn D.W. erfahren, dass dieser seit über einem Jahr eine intime Beziehung zu jener unterhalten hatte und statt des Angeklagten als Vater ihrer Tochter D. in Betracht komme. Durch Beschluss des erweiterten Schöffengerichts vom 11. September 2002 ist der Haftbefehl des Amtsgerichts Hagen vom 17. März 2002 in der Fassung der Haftfortdauerentscheidung vom 29. Juli 2002 nach Maßgabe des Urteils aus den Gründen seiner Anordnung aufrechterhalten worden. Am 12. September 2002 hat der Angeklagte gegen das Urteil Rechtsmittel eingelegt. Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 07. November 2002 hat er gegen den Haftbefehl in der Fassung der Haftfortdauerentscheidungen vom 29. Juli und 11. September 2002 Beschwerde eingelegt, die nach Nichtabhilfe seitens des erweiterten Schöffengerichts Hagen durch Beschluss der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Hagen vom 20. November 2002 (41 Qs 84/02) als unbegründet verworfen worden ist. Hiergegen richtet sich die mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 25. November 2002 eingelegte weitere Beschwerde des Angeklagten, die das Landgericht Hagen dem Senat zur Entscheidung vorgelegt hat, ohne über eine Abhilfe zu befinden.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die weitere Haftbeschwerde zu verwerfen.

II.

1. Die weitere Haftbeschwerde ist gemäß § 310 StPO statthaft und auch sonst zulässig.

Da für das Verfahren die allgemeinen Vorschriften über die Beschwerde gelten (Karlsruher Kommentar-Engelhardt, StPO, 4. Aufl. 1999, § 310 Rn. 13), hätte die 1. große Strafkammer des Landgerichts Hagen zunächst über die Frage der Abhilfe nach § 306 Abs. 2 StPO entscheiden müssen, bevor sie die Akten dem Senat zur Entscheidung über die weitere Beschwerde vorlegt. Ist eine Abhilfeentscheidung des Erstbeschwerdegerichts unterblieben, hat das über die weitere Beschwerde befindende Gericht unter Berücksichtigung seiner Pflicht zur schnellen und wirtschaftlichen Erledigung der Beschwerde nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu befinden, ob es selbst entscheiden oder dem Erstbeschwerdegericht Gelegenheit geben will, eine unterlassene Entscheidung über die Abhilfe ordnungsgemäß nachzuholen (vgl. Löwe-Rosenberg-Gollwitzer, StPO, 24. Aufl. 1988, § 306 Rn. 27). Während in der Literatur zum Teil die Auffassung vertreten wird, eine Zurückverweisung zur Nachholung des Abhilfeverfahrens sei stets zulässig (Karlsruher Kommentar-Engelhardt, a.a.O., § 306 Rn. 19), kommt sie nach anderer Meinung nur ausnahmsweise in Betracht, wenn dadurch das Verfahren beschleunigt wird (OLG München NJW 1973, 1143; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl. 2001, § 306 Rn. 10; Heidelberger Kommentar-Rautenberg, StPO, 1. Aufl. 1997, § 306 Rn. 11). Dagegen scheidet sie im Interesse der Verfahrensbeschleunigung aus, wenn das mit der weiteren Beschwerde befasste Gericht selbst sofort entscheiden kann, weil das Abhilfeverfahren für dessen Entscheidung keine Verfahrensvoraussetzung darstellt (vgl. zur gesamten Problematik den Beschluss des Senats vom 18. Dezember 2002 in 2 Ws 457/02 m.w.N.). Angesichts des sich aus der Bedeutung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG ergebenden besonderen Beschleunigungsgebots in Haftverfahren hat der Senat daher vorliegend selbst in der Sache entschieden.

2. Die weitere (Haft-)Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Hagen vom 20. November 2002 ist begründet und führt zur Aufhebung des Haftbefehls des Amtsgerichts Hagen vom 17. März 2002 in der Fassung der Haftfortdauerentscheidungen vom 29. Juli und 11. September 2002, da der von der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Hagen angenommene Haftgrund der Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO nicht gegeben ist.

Fluchtgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO besteht nach allgemeiner Meinung dann, wenn bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, die sich aus bestimmten Tatsachen ergeben müssen, eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich dem Strafverfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde sich ihm zur Verfügung halten (OLG Köln StV 1996, 390 und 1991, 472; Kleinknecht/Meyer-Goßner, a.a.O., § 112 Rn. 22; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 3. Aufl., Rn. 812, 813, jeweils mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung). Der Senat hat bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass die Frage, ob Fluchtgefahr vorliegt oder nicht, die sorgfältige Berücksichtigung und Abwägung aller Umstände des Falles erfordert (siehe u.a. Senat in StV 1999, 37; StV 1999, 215 mit zustimmender Anmerkung Hohmann StV 2000, 152; StraFo 1999, 248; NStZ-RR 2000, 188 = StraFo 2000, 203; StV 2000, 320; StV 2001, 685; Beschlüsse des Senats vom 6. Februar 2002 in 2 Ws 34/02 und vom 13. März 2002 in 2 Ws 60/02).

Dem wird die Begründung des Haftgrundes der Fluchtgefahr durch das Landgericht nicht im erforderlichen Maße gerecht, weil es wesentliche, gegen die Fluchtgefahr sprechende Umstände nicht hinreichend gewürdigt hat. Insbesondere lässt sich die von ihm bejahte Fluchtgefahr nicht mit dem "deutlichen Fluchtanreiz" aufgrund der "erheblichen Straferwartung" begründen, die sich in der gegen den Angeklagten verhängten und auch nach Auffassung des Senats für die zwar hinsichtlich der konkreten Begehungsweise üble, aber zwischen Eheleuten als Sanktion für die Untreue der Ehefrau verübte Tat unrechts- und schuldangemessenen Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten konkretisiert hat.

Denn dieser Umstand rechtfertigt weder allein noch in Zusammenhang mit den übrigen Faktoren die Annahme, der Angeklagte werde sich ggf. dem Verfahren durch Flucht entziehen. Zwar verfügt der Angeklagte weder über einen Arbeitsplatz sowie über einen festen Wohnsitz noch über tragfähige familiäre Bindungen, da seine Ehefrau die Scheidung eingereicht hat, die kleine Tochter bei ihr lebt und das Verhältnis zum als Soldat in Fritzlar stationierten Sohn D. aufgrund dessen intimer Beziehungen zur Ehefrau getrübt sein dürfte. Entgegen der vom Landgericht vertretenen Auffassung ist aber durchaus zu erwarten, dass der erstmals zu einer Freiheitsstrafe verurteilte und auch sonst noch nicht vorbestrafte Angeklagte nach der Verbüßung von zwei Dritteln dieser Strafe gemäß § 57 Abs. 1 StGB vorzeitig bedingt aus der Strafhaft entlassen werden wird, sofern er sich im Vollzug beanstandungsfrei führt. Diese Erwartung scheitert entgegen der Ansicht des Landgerichts Hagen auch nicht an § 454 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Es handelt sich nach den Urteilsfeststellungen um eine aus einer spezifischen Konstellation innerhalb der Ehe des Angeklagten und seiner Frau begangene Beziehungstat, zu der der bis dahin strafrechtlich nicht in Erscheinung getretene Angeklagte sich aus Enttäuschung über die Untreue seiner Ehefrau hat hinreißen lassen. Da er gegenüber Dritten noch nicht straffällig geworden ist und die tatauslösende besondere eheliche Situation nach Durchführung des bereits eingeleiteten Scheidungsverfahrens nicht mehr fortbesteht, werden Gründe der öffentlichen Sicherheit einer vorzeitigen Entlassung voraussichtlich nicht entgegenstehen. Auf die vom Angeklagten zu verbüßenden zwei Drittel der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten - sofern diese rechtskräftig wird - ist die von ihm bereits erlittene Untersuchungshaft von derzeit über neun Monaten gemäß § 51 Abs. 1 S. 1 StGB anzurechnen, so dass allenfalls noch ein Strafrest von knapp 22 Monaten verbleibt. Dieser ist aber nach Auffassung des Senats, nach dessen ständiger Rechtsprechung von einer noch zu verbüßenden Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren kein ausreichender Fluchtanreiz (mehr) ausgeht, nicht genügend, um damit die Fluchtgefahr begründen zu können (vgl. Beschluss des Senats vom 11. Dezember 2001 in 2 Ws 60/02 sowie die o.a. ständige Rechtsprechung des Senats; siehe auch dazu Burhoff StraFo 2000, 119 ff. sowie Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, 3. Aufl., Rn. 549; LG Köln StV 1996, 385).

Nach allem war damit der angefochtene Haftbefehl aufzuheben.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 467 StPO.

Ende der Entscheidung

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