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Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Urteil verkündet am 18.02.2000
Aktenzeichen: 20 U 238/99
Rechtsgebiete: VVG, AKB, StGB
Vorschriften:
VVG § 61 | |
AKB § 7 | |
AKB § 13 | |
StGB 142 |
1) Ein einmaliger Fehler, der einem Versicherungsnehmer bei einer Routinetätigkeit unterläuft, begründet nicht unbedingt den Vorwurf grober Fahrlässigkeit.
(hier: nicht vollständiges Einfahren eines Autokrans).
2) Bei einem Bagatellschaden (oberflächliche Betonabplatzungen) besteht keine Wartepflicht.
3) Besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem geschätzten Restwert (9.000,-- DM) und dem erzielten Preis (2.500,-- DM) muß der Versicherungsnehmer vor dem Kauf bei dem Versicherer rückfragen.
OBERLANDESGERICHT HAMM
IM NAMEN DES VOLKES URTEIL
20 U 238/99 OLG Hamm 9 O 408/99 LG Detmold
Verkündet am 18. Februar 2000
Lammers, Justizangestellte als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
des Oberlandesgerichts
In dem Rechtsstreit
hat der 20. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm auf die mündliche Verhandlung vom 18. Februar 2000 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Knappmann und die Richter am Oberlandesgericht Rüther und Meißner
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Berufung der Beklagten und die Anschlußberufung des Klägers gegen das am 21. Oktober 1999 verkündete Urteil der IV. Zivilkammer des Landgerichts Detmold werden zurückgewiesen.
Die Kosten der Berufung tragen die Beklagte zu 71 % und der Kläger zu 29 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Entscheidungsgründe:
Der Kläger war Eigentümer des Lkw Mercedes-Benz WDB 617 mit den amtlichen Kennzeichen an dessen Heck ein hydraulischer Ladekran angebaut war. Dieses Fahrzeug nutzte er um Heizkessel zu transportieren und abzuladen. Im vollständig eingefahrenen Zustand überragte der Ladekran die Fahrbahnoberfläche um 3,8 m. Am 19. März 1999, nachdem der Kläger einen Heizkessel ausgeliefert hatte, faltete er den Ladekran nicht vollständig ein, so daß er mehr als 4 m über Straßenoberfläche hinausragte. Als er wenig später die Landstraße zwischen den Ortschaften P und L befuhr, stieß er mit den Ladekran gegen eine Fußgängerbrücke aus Beton, die nur ein lichtes Durchfahrtmaß von 4 m bot. Durch den Aufprall wurde der Kran teilweise abgerissen und auch das Fahrzeug selbst wurde in Mitleidenschaft gezogen. Insgesamt ergab sich, daß ein wirtschaftlicher Totalschaden des damals rund 10 Jahre alten Fahrzeuges eingetreten war. Wegen dieses Schadens nahm der Kläger den Beklagten, seinen Vollkaskoversicherer, in Anspruch. Der Beklagte hat die Leistung abgelehnt und sich auf Leistungsfreiheit wegen grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls und Verletzung seiner Aufklärungsobliegenheiten berufen. Auf die entsprechende Klage hat das Landgericht den Beklagten verurteilt, an den Kläger 15.000,00 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 23.05.1999 zu zahlen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es liege ein sogenanntes Augenblicksversagen vor, das nicht als grob fahrlässig im Sinne des § 61 VVG zu bewerten sei. Im übrigen seien die berechtigten Aufklärungsinteressen des Versicherers in der konkreten Situation nicht ernsthaft gefährdet gewesen, so daß der Beklagte auch nicht wegen Aufklärungsobliegenheit leistungsfrei sei. Auf den unstreitigen Wiederbeschaffungswert von 26.000,00 DM netto müsse der Kläger sich den Restwert mit 9.000,00 DM sowie seine Selbstbeteiligung in Höhe von 2.000,00 anrechnen lassen.
Mit seiner Berufung verfolgt der Beklagte sein Ziel der vollständigen Klageabweisung weiter. Unter näherer Darlegung beruft er sich auf weiterhin auf Aufklärungsobliegenheitsverletzungen wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort und auf Leistungsfreiheit wegen grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls.
Der Kläger begehrt mit seiner Anschlußberufung über die erstinstanzlich zuerkannten 15.000,00 DM nebst Zinsen hinaus weitere 6.500,00 DM nebst anteiliger Zinsen. Er ist der Ansicht, er brauche sich nur den tatsächlich erzielten Veräußerungserlös von 2.500,00 DM netto anrechnen zu lassen.
Die Rechtsmittel haben keinen Erfolg.
1.
Die Berufung des Beklagten ist unbegründet.
a)
Der Kläger hat den Versicherungsfall nicht gemäß § 61 VVG durch grobe Fahrlässigkeit herbeigeführt. Zwar steht fest, daß ein Verhalten des Klägers ursächlich geworden ist: Er hatte das Fahrzeug und den darauf montierten Ladekran zuvor benutzt. Hätte er ihn nach der Benutzung vollständig eingefaltet, hätte der Kran mit seinem ausladendsten Teil die Fahrbahnoberfläche um nicht mehr als 3,8 m überragt. Eine Kollision mit der Brücke, die eine lichte Durchfahrtshöhe von 4 m bot, wäre deshalb ausgeschlossen gewesen. Es unterliegt deshalb keinen Zweifel, daß der Kläger den Kran nicht vollständig eingefahren hat.
Grobe Fahrlässigkeit im Sinne von § 61 UVG setzt voraus, daß der Versicherungsnehmer sich in einer Weise verhalten hat, von der er wußte oder wissen mußte, daß dieses Verhalten geeignet war, den Eintritt des Versicherungsfalls und die Vergrößerung des, Schadens zu fördern. Dabei muß die Wahrscheinlichkeit des Schadens, und zwar gerade die ddes eingetretenen Schadens, offenkundig so groß sein, daß es ohne weiteres nahelag, zur Vermeidung des Versicherungsfalls ein anderes Verhalten als das tatsächlich geübte in Betracht zu ziehen.
In subjektiver Hinsicht ist darüber hinaus ein erheblich gesteigertes Verschulden erforderlich (Prölss/Martin, Rn 11 und 12 zu § 61 VVG). Insoweit gilt, daß die Anforderungen an die aufzuwendende Sorgfalt um so größer sind, je gefahrgeneigter das jeweilige Verhalten ist. Gerade bei routinemäßigen Abläufen, die einem Versicherungsnehmer auch ohne besondere Konzentration regelmäßig sicher von der Hand gehen, kann auch einem sorgfältigen Versicherungsnehmer im Laufe der Zeit ein Fehler unterlaufen. Wenn es sich dabei nicht um besonders gefahrträchtige Verhaltensweisen handelt, von denen zu erwarten ist, daß sie der jeweiligen Versicherungsnehmer nur mit der gebotenen Sorgfalt und Konzentration angeht und durchführt, verdient ein derartiges "Augenblicksversagen" in den meisten Fällen nicht das Verdikt grober Fahrlässigkeit. So liegt der Fall hier. Insoweit ist von der Darstellung des Klägers selbst auszugehen. Denn für das Vorliegen von Tatsachen, die auf das Vorliegen grober Fahrlässigkeit zurückschliessen lassen, ist der Versicherer darlegungs- und beweispflichtig.
Der Kläger hat angegeben, daß er im Umgang mit dem Kran geübt gewesen sei. Er habe im Laufe der Jahre mehrere tausend mal den Kran betätigt und aus- und wiedereingefahren. Dabei sei ihm nie zuvor ein Fehler unterlaufen. Er habe mit dem Kran weder während der Arbeit noch auf der Fahrt mit dem Lkw bisher Beschädigungen angerichtet. Der hier zu beurteilende Unfall sei der erste und einzige Fall gewesen. Bevor es zu dem Unfall gekommen sei, habe er mit dem Kran Entladearbeiten vorgenommen. Er habe einen Heizkessel abgeladen und dabei den Kran auf seine volle Länge von 8 m ausgefahren. Der Kranausleger habe dabei seitlich, und zwar waagerecht, vom Lkw abgestanden. Nach Beendigung der Arbeit habe er den Kran wieder eingefahren. Daß er nicht vollständig eingefahren gewesen sei, sei ihm nicht aufgefallen.
Es seien auch keine Warneinrichtungen an dem Fahrzeug vorhanden gewesen, die ihn darauf hingewiesen hätten.
Danach hat der Kläger eine typische Routinearbeit ausgeführt, die er nach jahrelanger Übung beherrschte. Vor dem Hintergrund, das er zuvor waagerecht zur Seite ausgeladen hat, kann ausgeschlossen werden, das er losgefahren ist, ohne den Kran überhaupt einzufahren. Das Einfahren des Krans ist keine intellektuell schwierige Tätigkeit, die deshalb die erhöhte Aufmerksamkeit des Klägers erfordert hätte. Das Fahren mit einen Lkw, dessen Ladekran nicht vollständig eingefahren ist, ist auch keine so gefahrgeneigte Tätigkeit, daß dem Kläger besondere Sorgfalts- oder Kontrollpflichten aufzuerlegen gewesen wären. Insoweit geht der Senat entsprechend den Angaben des Kläger davon aus, daß es sich allenfalls um ein geringfügiges Überragen über die Mindestdurchfahrtshöhe von 4 m bei nicht gekennzeichneten Brücken oder anderen Hindernissen handelte und nicht ein offenkundiges Überschreiten dieses Maßes. Die Behauptung des Beklagten, daß der Kran die Planenhöhe des Lkw um fast einen Meter überragt habe, ist nicht bewiesen. Ein konkreter Beweisantritt ist diesbezüglich nicht erfolgt. Der Senat hat deshalb die vorliegenden Lichtbilder in Augenschein genommen, die aber die entsprechende Behauptung auch nicht mit ausreichender Sicherheit bestätigten. Diese zeigen lediglich eine oberflächliche Betonabplatzung an der Unterkante der Brücke von etwa 10 cm sowie Farbspuren im darüberliegenden Bereich von ca. 20 cm, die vom Kran stammen können, aber nicht müssen. Dies läßt keinen eindeutigen Schluß auf die exakte Höhe des Überragens zu und läßt sich sogar durch ein Überragen von weniger als 10 cm erklären. Auch dann hätte der Kläger zwar unter Außerachtlassung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt und damit fahrlässig gehandelt; das Verdikt grober Fahrlässigkeit verdient sein Verhalten damit aber noch nicht.
b)
Der Kläger hat sich auch keine Aufklärungsobliegenheitsverletzung gemäß §§ 6 III VVG, 7 I Abs. 2 S. 3, V Abs. 4 AKB in Verbindung mit § 142 StGB zuschulde kommen lassen.
Auszugehen ist davon, daß unerlaubtes Entfernen vom Unfallort nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH VersR 76, 383; VersR 72, 341; VersR 96, 1229; VersR 87, 657, zuletzt Urteil vom 01.12.99, IV ZR 71/99) und des Senats (VersR 93, 90; r+s 93, 4; NJW-RR 98, 1183; 97, 1053) auch in Fällen eindeutiger Haftungslagen in der Regel eine Aufklärungsobliegenheitsverletzung mit der Folge der Leistungsfreiheit für den Versicherer darstellt. Voraussetzung in diesen Fällen ist aber, daß der objektive und subjektive Tatbestand des § 142 StGB verwirklicht ist. Darlegung- und beweispflichtig ist diesbezüglich der Versicherer (Senat NJW - RR 1992, 925). Hier kann bereits der objektive Tatbestand des § 142 StGB nicht festgestellt werden. Voraussetzung ist dafür, daß ein "Unfall im Straßenverkehr" vorgelegen hat, also ein plötzliches Ereignis im Verkehr, das mit dessen typischen Gefahren zusammenhängt und unmittelbar zu einen nicht völlig belanglosen Personen- oder Sachschaden geführt hat (OLG Düsseldorf, ZfS 97, 73; NZV 90, 158; StrVert 86, 158). Ein völlig belangloser Schaden liegt im Falle von Sachschaden dann vor, wenn Schadensersatzansprüche nicht gestellt werden (OLG Hamm, VRS 59, 259). Im konkreten Fall kann nicht festgestellt werden, daß der Schaden, den der Kläger an der Brücke herbeigeführt hat, nicht völlig belanglos ist. Fest steht, daß der Eigentümer der Brücke bislang noch keine Schadensersatzansprüche gestellt hat. Der Beklagte behauptet, die Reparaturkosten der Brücke beliefen sich auf mindestens 1.500,00 DM. Diese stellte auch unter Sachverständigenbeweis. Die entsprechende Anknüpfungstatsache, nämlich, daß durch den Unfall die Stahlarmierung der Brücke freigelegt worden sei, stellt er indessen unter Augenscheinbeweis, nämlich durch Inaugenscheinnahme der vorgelegten Lichtbilder durch den Senat. Auf diesen Lichtbildern, die der Senat in Augenschein genommen hat, läßt sich das Freiliegen der Stahlarmierung gerade nicht feststellen, sondern sogar ausschließen. Auf diesen Lichtbildern ist eine oberflächliche Abplatzung von Beton mit einer Fläche von etwa 10 x 10 cm feststellen. Hierdurch ist der Blick auf einige eingegossene Kieselsteine freigelegt, aber gerade nicht auf die Betonarmierung, was ohnehin bei einer oberflächlichen Abplatzung von weniger als 2 cm Tiefe nicht zu erwarten ist. Es handelt sich somit um eine solche oberflächliche Abplatzung, die auch witterungsbedingt eintreten kann und die eine Reparatur objektiv nicht erfordert. Angesichts des Umstandes, daß diese Fußgängerbrücke, die nicht in besonders ansprechender oder auffälliger Weise künstlerisch gestaltet worden ist und somit ein reines Funktionsobjekt ist, liegt ein Interesse des Berechtigten an einer Reparatur nicht einmal nahe. Es handelt sich danach um einen Bagatellschaden, der Schadensersatzansprüche typischerweise nicht nach sich zieht Vor dem Hintergrund, daß bereits die Anknüpfungstatsache nicht bewiesen ist, daß durch den Aufprall Teile der Stahlarmierung freigelegt worden sind, bedurfte' es der beantragten Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Überprüfung der entsprechenden Behauptung des Beklagten hinsichtlich der zu erwartenden Reparaturkosten nicht mehr.
Die Berufung des Beklagten mußte nach alledem erfolglos bleiben.
II.
Auch das Rechtsmittel des Klägers ist unbegründet. Ihm war nach den Besichtigungstermin durch den vom Beklagten hinzugezogenen Sachverständigen der D bekannt, das ein wirtschaftlicher Totalschaden vorlag, und daß der Sachverständige einen voraussichtlich erzielbaren Erlös des beschädigten Fahrzeugs von 9.000,00 DM netto festgesetzt hatte. Gleichwohl hat der Kläger das Unfallfahrzeug zum Preis von 2.500,00 DM netto weiter veräußert, ohne zuvor, was ihm nach § 7 III AKB oblegen hätte, vor Beginn der Wertung die Weisung des Versicherers einzuholen. Das wäre im Angesicht des erheblichen Abweichens zwischen den vom Sachverständigen angenommen Restwert und dem tatsächlich erzielten Veräußerungserlös zumutbar gewesen. Das gilt insbesondere auch vor dem Hintergrund, als der Kläger angegeben hat, er habe 40 - 50 Telefonate geführt, um das Fahrzeug zu veräußern. Auch den Sachverständigen selbst habe er gelegentlich eines anderen Telefonats darauf angesprochen, dieser habe keinerlei Äußerungen dazu abgegeben. Denn wenn sich der Kläger schon der Mühe unterzogen hat, über 40 Telefonate wegen der Veräußerung des Fahrzeugs zu führen, war ihm auch zumutbar, den Beklagten selbst deswegen anzurufen. Besondere Eile war nicht geboten. Bei alledem belegt auch das Schreiben der D AG an den Beklagten vom 06.05.1999, das die verschiedenen Bieter aufführt, daß der in das Gutachten eingesetzte Veräußerungserlös von 9.000,00 DM nicht unrealistisch war, sondern auf einem tatsächlichen Angebot beruhte. Nach alledem war auch das Rechtsmittel des Klägers zurückzuweisen.
Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97, 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
Die Beschwer keiner der Parteien übersteigt 60.000,00 DM.
Ende der Entscheidung
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