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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Hamm
Beschluss verkündet am 19.09.2002
Aktenzeichen: 4 Ss OWi 776/02
Rechtsgebiete: StVO, BKatV


Vorschriften:

StVO § 35
BKatV § 2
Die Freistellung eines Polizeibeamten von den Vorschriften der Straßenverkehrsordnung erfordert die Berücksichtigung aller Umstände, die die Dringlichkeit der Dienstaufgabe im Verhältnis zu den möglichen Gefahren der Verkehrsvorschriften belegen. Die Verletzung der Verkehrsregeln darf auch nicht zu einer unangemessenen, unverhältnismäßigen Beeinträchtigung kollidierender Belange führen, etwa zu einer konkreten Gefährdung von Leib oder Leben anderer Verkehrsteilnehmer. Das muss den getroffenen tatsächlichen Feststellungen zu entnehmen sein.
Beschluss Bußgeldsache gegen W.G. wegen Zuwiderhandlung gegen § 41 (Zeichen 274) StVO.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Ibbenbüren vom 28. Januar 2002 hat der 4. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Hamm am 19. 09. 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und den Richter am Oberlandesgericht nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht Ibbenbüren zurückverwiesen.

Gründe:

Das Amtsgericht hat den Betroffenen, der als Polizeibeamter in Nordhorn tätig ist, wegen "fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Gesamtgeschwindigkeit von 60 km/h um 73 km/h gemäß §§ 41 II, 49 StVO i.V.m. 24, 26 a StVG, §§ 1 ff. BKatV" zu einer Geldbuße von 600 Euro verurteilt, gegen ihn ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats festgesetzt und angeordnet, dass das Fahrverbot erst wirksam wird, wenn der Führerschein nach Rechtskraft der Bußgeldentscheidung in amtliche Verwahrung gelangt, spätestens jedoch mit Ablauf von vier Monaten seit Eintritt der Rechtskraft.

Das Amtsgericht hat folgenden Sachverhalt festgestellt:

"Am 23.05.01 befuhr der Betroffene gegen 12:46 Uhr mit dem Pkw BMW mit dem amtlichen Kennzeichen xxxxxxxxxxin Höhe Hörstel die Bundesautobahn 30 in Fahrtrichtung Amsterdam. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit in diesem Bereich betrug 60 km/h.

Durch ordnungsgemäße Radarmessung mit dem Radarstativgerät des Typs VRG MU 6 F der Firma Multanova AG wurde eine von dem Betroffenen gefahrene Geschwindigkeit abzüglich der Toleranz von 133 km/h festgestellt. Der Betroffene hat somit die dort gültige vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit um 73 km/h überschritten. Die Messung erfolgte nach einem "100 km/h-Zeichen", einem "80 km/h-Zeichen" und dem vierten "60 km/h-Zeichen", die beidseitig deutlich sichtbar aufgestellt waren. Zwischen den die Geschwindigkeit begrenzenden Verkehrszeichen befanden sich darüber hinaus beidseitig von der Fahrbahn das Zeichen 112 mit einem zusätzlichen Hinweis auf Straßenschäden."

Der Betroffene hat die Geschwindigkeitsüberschreitung eingeräumt, sich aber dahin eingelassen, "er sei dienstlich mit seinem Privat-Pkw von Bad Iburg kommend, wo er auf einer Fortbildung gewesen sei, auf der A 30 in Fahrtrichtung Amsterdam unterwegs gewesen, um zu seinem Dienstort Nordhorn zu fahren. Er habe sich auf der linken Spur in einer Kolonne hinter fünf Pkw befunden. Das erste Fahrzeug, das sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung von 60 km/h gehalten habe, habe erfolglos versucht, einen LKW zu überholen. Von hinten sei ein Pkw BMW gekommen, der die Kolonne auf der rechten Fahrspur überholt und plötzlich von der rechten auf die linke Fahrspur gewechselt und sich vor das erste Fahrzeug der Kolonne gesetzt habe. Dieser Pkw habe stark abgebremst, so dass sämtliche Fahrzeuge der Kolonne hätten abbremsen müssen. Da er sich im Dienst befunden habe, habe er versucht, den sich mit rasender Geschwindigkeit entfernenden BMW zu verfolgen. Das Kfz.-Kennzeichen habe er jedoch nicht erkennen können, weil ein Klein-Laster zwischen seinem PKW und dem PKW auf die linke Spur eingeschert sei.

Das Amtsgericht hat zunächst mit zutreffender Begründung dargelegt, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung nicht nach § 127 StPO gerechtfertigt war und hat sodann geprüft, ob der Angeklagte von den Vorschriften der Straßenverkehrsordnung deswegen befreit war, weil er als Polizeibeamter einen Kraftfahrzeugführer wegen dessen angeblicher Straßenverkehrsgefährdung verfolgt hat, um das Kennzeichen des von diesem gefahrenen Fahrzeug festzustellen. Hierzu hat das Amtsgericht ausgeführt:

"Der Betroffene konnte die Regelung des § 35 StVO, wonach die Polizei zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben von den Vorschriften der StVO befreit ist, nicht für sich in Anspruch nehmen. Gemäß § 35 VIII StVO dürfen die Sonderrechte nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden. Diesen Anforderungen ist der Betroffene nicht gerecht geworden. Nach Abwägung des Verfolgungsinteresses und der Sicherheit des Straßenverkehrs hätte es dem Betroffenen oblegen auf die von Anfang an nicht erfolgversprechende Verfolgung zu verzichten, da durch die erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung des Betroffenen in einem Bereich, in dem aufgrund ganz erheblicher Straßenschäden eine Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit auf 60 km/h erfolgt ist, die Sicherheit anderer Verkehrsteilnehmer gefährdet worden ist."

Der Betroffene wendet sich mit seiner Rechtsbeschwerde mit den Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gegen seine Verurteilung.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 5. September 2002 hierzu u.a. ausgeführt:

"Allerdings genügt die Rüge der Verletzung formellen Rechts nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO. Zum notwendigen Revisionsvorbringen der Verletzung des § 275 Abs. 1 S. 2 StPO gehört die Angabe, wann das Urteil verkündet und wann es zu den Akten gebracht worden ist (Kleinknecht/Meyer-Goßner, aaO., § 338 Rdnr. 57 m.w.N.). Hier fehlt es an der Angabe, wann es zu den Akten gebracht worden ist. Die Zustellung des Urteils ist nicht maßgeblich.

Dagegen tragen die Feststellungen den Schuldspruch nicht. Zwar weisen sie aus, dass der Betroffene die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h um 73 km/h überschritten hat. Die Urteilsausführungen lassen jedoch besorgen, dass der Tatrichter die Voraussetzungen einer Rechtfertigung nach § 35 Abs. 1 StVO rechtsfehlerhaft verneint hat.

Nach § 35 Abs. 1 StVO ist die Polizei von den Vorschriften der Straßenverkehrsordnung befreit, soweit das zur Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dringend geboten ist. Eine Rechtfertigung nach dieser Vorschrift entfällt für einen Polizeibeamten nicht deshalb, weil er sich nicht im Dienst befindet (zu vgl. OLG Hamm, VRS 20, 378; OLG Stuttgart, NZV 1992, 123). Allerdings verlangt die Freistellung des Beamten von den Vorschriften der Straßenverkehrsordnung die Berücksichtigung aller Umstände, die die Dringlichkeit der Dienstaufgabe im Verhältnis zu den möglichen Gefahren der Verkehrsvorschriften belegen sollen. Die Verletzung der Verkehrsregeln darf nicht zu einer unangemessenen, unverhältnismäßigen Beeinträchtigung kollidierender Belange führen, etwa zu einer konkreten Gefährdung von Leib oder Leben anderer Verkehrsteilnehmer (OLG Stuttgart aaO.). Darüber, ob die Zuwiderhandlung des Betroffenen mit einer konkreten Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer verbunden war, lässt das angefochtene Urteil keine Aussage zu. Vielmehr stellt der Tatrichter ausschließlich auf eine abstrakte Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ab. Rechtlichen Bedenken begegnet das Urteil schließlich auch insoweit, dass die Urteilsausführungen besorgen lassen, der Tatrichter habe dahingestellt sein lassen, ob dem Betroffenen Sonderrechte zugestanden haben, weil er diese jedenfalls nicht unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt habe. Denn § 35 Abs. 1 StVO befreit die Polizei ohne Einschränkung "von den Vorschriften dieser Verordnung". Das verkehrswidrige Verhalten eines Beamten, der berechtigt sein Sonderrecht in Anspruch nimmt, beurteilt sich daher - auch im Falle einer Gefährdung oder Schädigung anderer - allein nach §§ 35 Abs. 8, 49 Abs. 4 Nr. 2 StVO (zu vgl. KG Berlin, Beschluss vom 14.07.2000 - 2 Ss 131/00 -).

Auch der Rechtsfolgenausspruch weist Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen auf. Soweit der Tatrichter davon ausgegangen ist, der Betroffene habe seinen Beurteilungsspielraum überschritten und sei daher nicht von den Vorschriften der StVO befreit, hätte dieser Gesichtspunkt auch bei der Frage, ob eine grobe Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers vorliegt und daher ein Fahrverbot zu verhängen ist, geprüft werden müssen. Entsprechende Ausführungen enthält das angefochtene Urteil nicht.

Schließlich ist zu bemerken, dass das Amtsgericht die Einlassung des Betroffenen, er habe einen anderen Verkehrsteilnehmer wegen einer Straftat nach § 315 c StGB verfolgt, nicht ohne Weiteres ungeprüft hätte übernehmen dürfen, zumal hier weitere Beweiserhebungen möglich gewesen wären. Zum einen können die Fahrzeugführer ermittelt werden, die vor und nach dem Betroffenen mit Geschwindigkeitsüberschreitungen festgestellt worden sind (Bl.7 d.A.) und zum anderen war der Betroffene zur Tatzeit nicht allein in seinem Fahrzeug (Bl.4 d.A.)."

Dieser zutreffenden Stellungnahme schließt sich der Senat an. Eine eigene Sachentscheidung des Senats kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil nach Ermittlung der in dem Fahrzeug des Betroffenen mitgereisten Personen eine weitere Sachaufklärung dahin zu erwarten ist, ob sich ein polizeiliches Einschreiten verlangender Straftatbestand ereignet hat, der den Betroffenen zu der "Verfolgungsfahrt" veranlasst hat. Dabei könnte den Wahrnehmungen und möglichen Gesprächen der in dem Fahrzeug befindlichen Personen über den Vorfall Bedeutung zukommen. Es dürfte sich um Personen handeln, die ebenso wie der Betroffene an einer Weiterbildungsmaßnahme der Ausbildungsstelle Bad Iburg teilgenommen haben.

Vorsorglich weist der Senat für den Fall der erneuten Festsetzung eines Bußgeldes darauf hin, dass bei fahrlässiger Begehungsweise das durch §§ 24 StVG, 17 Abs. 2 OWiG bestimmte Höchstmaß (die Hälfte des angedrohten Höchstbetrages der Geldbuße) zu beachten ist. Schließlich wäre eine Erhöhung der Geldbuße wegen eines teilweisen Absehens von dem Regel-Fahrverbot von drei Monaten rechtlich dann nicht zulässig, wenn das Gericht bereits aufgrund der Umstände des Falles die Verhängung eines nur einmonatigen Fahrverbots als "ausreichend" beurteilen würde.

Ende der Entscheidung

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