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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 06.06.2002
Aktenzeichen: 1 Ss 93/02
Rechtsgebiete: GG, StPO


Vorschriften:

GG Art. 13 I
StPO § 105 I
Zufallsfunde und -erkenntnisse, die bei einer polizeilich angeordneten Wohnungsdurchsuchung wegen "Gefahr im Verzug" gewonnen wurden, unterliegen jedenfalls dann einem Verwertungsverbot, wenn die Durchsuchungsanordnung objektiv willkürlich war und kein besonderes Allgemeininteresse an der Tataufklärung besteht.

Eine polizeiliche Durchsuchungsanordnung ist objektiv willkürlich, wenn keine Tatsachen vorliegen, die die Annahme rechtfertigen könnten, ein Aufschieben der Durchsuchung bis zum Erlass einer richterlichen Anordnung werde den Ermittlungserfolg gefährden.


OBERLANDESGERICHT KOBLENZ Beschluss

Geschäftsnummer: 1 Ss 93/02

In der Strafsache

wegen unerlaubten Besitzes vom Betäubungsmitteln

hier: Revision des Angeklagten

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe und die Richter am Oberlandesgericht Völpel und Summa am 6. Juni 2002 einstimmig beschlossen:

Tenor:

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Linz vom 13. Februar 2002 aufgehoben.

Der Angeklagte wird freigesprochen.

Die Staatskasse trägt die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten.

Gründe:

I.

1.

Der Angeklagte wurde durch Urteil des Amtsgerichts Linz vom 13. Februar 2002 wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln (220,7 g Marihuana mit einem THC-Gehalt von 1,6 % und 0,7 g eines Amphetamin-Coffein-Gemischs) zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Die Betäubungsmittel wurden eingezogen.

Er hatte sowohl im Ermittlungsverfahren als auch in der Hauptverhandlung von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht. Grundlage des Schuldspruchs sind ausschließlich Erkenntnisse aus einer Durchsuchung seiner Wohnung am frühen Nachmittag des 13. April 2000, deren Verwertung er widersprochen hatte.

Gegen dieses Urteil richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte sowie begründete Revision des Angeklagten. Er wendet sich gegen die Verwertung der durch die auch nach Auffassung des Amtsgerichts rechtswidrige Durchsuchung seiner Wohnung gewonnenen Beweise.

2.

Dem Urteil liegt folgender, weitgehend vom Amtsgericht festgestellter und vom Senat im Wege des Freibeweises (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 45 Auflage, § 244 Rdn. 7) durch Einsicht in die Akten 2080 Js 22688/00 - StA Koblenz ergänzter Sachverhalt zu Grunde:

Am Morgen des 13. April 2000 um 10:10 Uhr betrat ein bis heute nicht ermittelter Täter die Volksbankfiliale in B. (Westerwald), bedrohte den Filialleiter L. mit einer Pistole und erzwang die Herausgabe von ca. 17000 DM. Anschließend flüchtete er mit einem alten Kleinkraftrad. Tatzeugen beschrieben ihn als einen etwa 1,70 m großen, untersetzten Mann mittleren Alters, der militärische Tarnkleidung und einen geschlossene Helm mit getöntem Vollvisier getragen habe.

Zur Tatzeit hielt sich der Angeklagte etwa 8 km Luftlinie vom Tatort entfernt in W. auf, wo er für die Zeugen W. und T. Gelegenheitsarbeiten verrichtete. Als Arbeitskleidung trug er einen Bundeswehrtarnanzug. Gegen Mittag fuhr er, einen Halbschalenhelm tragend, mit seinem alten Moped zu einer Grillstube in Bad H.. Dort wurde er bei der Fahndung nach dem Täter des Banküberfalls entdeckt, um 12:10 Uhr festgenommen und nach B. gebracht. Eine Einzelgegenüberstellung mit Tatzeugen führte zu keinem eindeutigen Ergebnis. Der Zeuge L. gab an, Statur, Größe und Kleidung entsprächen dem Aussehen des Täters, wies jedoch darauf hin, dass dieser einen anderen Schutzhelm getragen habe. Die Zeugin H. war sich zunächst zwar sicher, den Angeklagten als Täter wiederzuerkennen, stellte bei einer Überprüfung um 13:45 Uhr aber fest, dass dessen mit einem neuen Auspuff ausgestattetes Moped andere Geräusche verursachte als das Täterfahrzeug, das nach ihrer Einschätzung einen "auffallend lauten Auspuff" gehabt hatte.

Der Angeklagte gab in einer ersten Befragung noch in B. an, sich zur Tatzeit in W. bei dem Zeugen W. aufgehalten zu haben.

Zwischen 13:45 Uhr und 15:00 Uhr durchsuchten Beamte des Polizeipräsidiums Koblenz die Wohnung des Angeklagten in W. und fanden dabei die eingangs genannten Betäubungsmittel. Eine richterliche oder staatsanwaltschaftliche Durchsuchungsanordnung lag nicht vor. Welcher Polizeibeamte die Durchsuchung wegen "Gefahr im Verzug" angeordnet hatte, ist den Akten ebenso wenig zu entnehmen wie die Gründe, die dazu geführt hatten. Fest steht, dass kein Versuch unternommen worden war, die Staatsanwaltschaft zu informieren, um auf diesem Weg (§ 162 Abs. 1 StPO) oder unmittelbar (§ 163 Abs. 2. S. 2 StPO) eine richterliche Durchsuchungsanordnung zu erhalten.

Der um 15:45 Uhr zu Hause vernommene Zeuge W. bestätigte das Alibi des Angeklagten. Bis zum frühen Abend gaben weitere Zeugen an, ihn zur Tatzeit in W. gesehen zu haben.

II.

Der Angeklagte ist unter Aufhebung des angefochtenen Urteil freizusprechen (§§ 349 Abs. 4, 354 Abs. 1 StPO), weil die aus der Durchsuchung seiner Wohnung vom 13. April 2000 gewonnenen Erkenntnisse einem Beweisverwertungsverbot unterliegen und sonstige Beweise fehlen.

1.

Die Durchsuchung einer Wohnung ist ein schwerwiegender Eingriff in die durch Art. 13 Abs. 1 GG geschützte Privatsphäre. Dem Gewicht dieses Eingriffes und der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Schutzes der räumlichen Privatsphäre entspricht, dass Art. 13 Abs. 2 GG, § 105 Abs. 1 S. 1 StPO die Anordnung einer Durchsuchung im Regelfall dem Richter vorbehält, der gemäß § 162 Abs. 3 StPO zu prüfen hat, ob die von der Staatanwaltschaft beantragte (§ 162 Abs. 1 StPO) oder von der Polizei angeregte (§§ 163 Abs. 2 S. 2, 165 StPO) Untersuchungshandlung nach den Umständen des Falles gesetzlich zulässig ist.

Die Anordnungskompetenz der Staatsanwaltschaft oder ihrer Hilfsbeamten wegen Gefahr im Verzug setzt voraus, dass konkrete, einzelfallbezogene Tatsachen ein sofortiges Tätigwerden zur Verhinderung eines Beweismittelverlustes erfordern. Spekulationen, hypothetische Erwägungen oder auf kriminalistische Alltagserfahrungen gestützte, fallunabhängige Vermutungen reichen nicht aus. Die Strafverfolgungsbehörden müssen regelmäßig versuchen, eine richterliche Anordnung zu erlangen, bevor sie eine Durchsuchung beginnen. Nur dann, wenn ausnahmsweise schon die mit einem solchen Versuch verbundene zeitliche Verzögerung den Erfolg der Durchsuchung gefährden würde, dürfen sie selbst die Anordnung wegen Gefahr im Verzug treffen, ohne sich vorher um eine richterliche Entscheidung bemüht zu haben.

Der anordnende Beamte muss vor oder unmittelbar nach der Durchsuchung seine für den Eingriff bedeutsamen Erkenntnisse und Annahmen in den Ermittlungsakten dokumentieren und dabei insbesondere die Umstände darlegen, auf die er die Gefahr eines Beweismittelsverlusts stützt. Auch muss erkennbar sein, ob er den Versuch unternommen hat, eine richterliche Entscheidung zu erlangen oder was dem im konkreten Einzelfall entgegenstand.

2.

Gemessen an diesen vom Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 20. Februar 2001 (StV 01, 207 ff.) unter Hinweis auf frühere Entscheidungen aufgestellten und für den Senat bindenden Grundsätzen erweist sich die Durchsuchung vom 13. April 2000 nicht nur als fehlerhaft, sondern als objektiv willkürlich und damit als besonders schwerwiegender Eingriff in die von der Verfassung geschützten Rechte des Angeklagten.

a) Welche Gründe die Polizei veranlasst hatten, Gefahr im Verzug anzunehmen und nicht einmal zu versuchen, eine richterliche Entscheidung zu erlangen, kann mangels Dokumentation nicht nachvollzogen werden.

b) Der Inhalt der Akte 2080 Js 22688/00 - StA Koblenz lässt nur den Schluss zu, dass die Voraussetzungen für eine polizeiliche Eilanordnung nicht vorgelegen hatten:

Die Angaben aller Tatzeugen sprachen dafür, dass der Banküberfall von einem Alleintäter begangen worden war. Hinweise auf weitere Tatbeteiligte gab es nicht. Der Verdächtigte war in polizeilichem Gewahrsam und hatte keine Möglichkeit, irgendetwas zu unternehmen, was zu einem Beweismittelverlust hätte führen können. Es ist sind keinerlei Tatsachen ersichtlich, die darauf hindeuten könnten, dass ein Aufschieben der Durchsuchung bis zum Erlass einer richterlichen Anordnung einen Ermittlungserfolg hätte gefährden können. Der eher theoretischen Gefahr, dass ein eventueller Mitbewohner oder eine andere Person Waffen, Beute, Vollvisierhelm oder andere potentiell beweiserhebliche Gegenstände aus der Wohnung verschwinden lässt, wenn der Angeklagte bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht nach Hause kommt oder sich nicht meldet, wäre durch vorübergehende Wohnungsobservation wirksam zu begegnen gewesen. In der Zwischenzeit hätte versucht werden können, das Alibi zu überprüfen.

3.

Die StPO enthält nur wenige Regelungen über Beweisverwertungsverbote als Folge grundsätzlich zulässiger, im Einzelfall aber rechtswidrig durchgeführter Ermittlungshandlungen (z.B. § 136a Abs. 3 S. 2 StPO). Dem deutschen Strafverfahrensrecht ist ein allgemeiner Grundsatz, dass jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften (wie § 105 Abs. 1 StPO) ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich ziehe, fremd (BGH StV 99, 185, 187; s. a. BVerfG NJW 00, 3557; StV 00, 467, 468: "Aus der Rechtswidrigkeit einer Beweiserhebung folgt nicht ohne weiteres ein Beweisverwertungsverbot"). Feste verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Beweisverwertungsverbot in Betracht kommt, sind auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zu entnehmen (BVerfG StV 00, 466, 467). Allerdings darf es in einem Rechtsstaat auch keine Wahrheitserforschung um jeden Preis geben (BGH StV 92, 212, 213 m. w. N.).

Nach der in der Rechtsprechung überwiegend vertretenen Abwägungslehre, der sich der Senat grundsätzlich anschließt, sind im Einzelfall die Interessen des Staates an der Tataufklärung gegen das Individualinteresse des Bürgers an der Bewahrung seiner Rechtsgüter abzuwägen (KK-Nack, StPO, 4. Auflage, vor § 94, Rdn. 8 ff. m. w. N.; BVerfG StV 02, 113). Der Schweregrad des Verfahrensverstoßes ist dabei ebenso zu beachten wie der Umstand, dass Strafverfolgungsbehörden einschließlich Gerichte verpflichtet sind, Straftaten so weit wie möglich aufzuklären. Dabei ist nach bisheriger Rechtsprechung auch von Bedeutung, ob ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss erlassen worden wäre und das Beweismittel somit auch auf rechtmäßige Weise hätte erlangt werden können ("hypothetischer Ersatzeingriff"; BGH StV 89, 289, 290 a. E.; a. A. BGHSt 31, 304, 306 für den Fall, dass das Gesetz, wie § 100 b Abs. 1 StPO, eine polizeiliche Anordnungskompetenz überhaupt nicht vorsieht). Andererseits ist die Annahme eines Verwertungsverbots naheliegend, wenn durch eine rechtswidrige Ermittlungshandlung in einen verfassungsrechtlich geschützten Bereich eingegriffen wird, es sei denn, dass Besonderheiten des Einzelfalles das Gewicht des Verfahrensverstoßes so mindern, dass dem Allgemeininteresse an der Aufklärung und gerechten Ahndung schwerwiegender Taten der Vorrang im Sinne der Verwertbarkeit der Beweise zukommen muss (BGH StV 99, 187 zu Abhörmaßnahmen ohne richterliche Anordnung).

4.

Die Abwägung führt hier zur Unverwertbarkeit.

a) Ob die Rechtsprechung zum "hypothetischen Ersatzeingriff", die den Verstoß gegen § 105 Abs. 1 S.1, 1. HS. StPO auf einen bloßen Formfehler reduziert (zur Kritik siehe z.B. Fezer, StV 89, 290, 293; Asbrock, StV 99, 187, 189), angesichts des die herausragende Bedeutung des Richtervorbehalts betonenden Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Februar 2001 überdacht werden muss, kann offen bleiben, weil bereits zweifelhaft ist, ob ein zutreffend über den Einzelfall informierter Richter nach Prüfung gemäß § 162 Abs. 3 StPO (s. dazu OLG Düsseldorf [Ermittlungsrichter StV 90, 154) einen Durchsuchungsbeschluss erlassen hätte.

Zwar lagen am 13. April 2000 um 13:45 Uhr die Voraussetzungen des § 102 StPO gerade noch vor. Der Tatverdacht stand jedoch auf schwachen Füßen. Die Einzelgegenüberstellung, deren Beweiswert von vornherein gering war, hatte kein eindeutiges Ergebnis erbracht. Die Zeugin H., die den Täter vor und nach der Tat auf der Straße gesehen hatte, hätte wahrscheinlich jeden x-beliebigen Bundeswehrtarnkleidung tragenden Mopedfahrer identifiziert. Der Filialleiter, der dem Täter direkt gegenüber gestanden hatte, sah sich zu einer Identifizierung des Angeklagten außer Stande. Die Benutzung von Tarnanzügen als Arbeitskleidung ist nicht ungewöhnlich. Es gab bereits konkrete Anhaltspunkte (anderer Helm, anderes Kraftrad) dafür, dass der Angeklagte nicht der Täter war. Er hatte ein leicht überprüfbares Alibi angegeben. Da die Durchsuchung objektiv nicht eilbedürftig war, hätte es für den zuständigen Richter nahegelegen, seine Entscheidung von einer Überprüfung des Alibis abhängig zu machen und nach Vernehmung des Zeugen W., die nach Aktenlage vor 15:45 Uhr möglich gewesen wäre, keine Durchsuchungsanordnung zu erlassen.

b) Die Betäubungsmittel wurden zufällig gefunden. Zwar lässt § 108 Abs. 1 S. 1 StPO die Sicherstellung und damit auch die Verwertung von Zufallsfunden ausdrücklich zu. Vorliegend ist aber zu berücksichtigen, dass die Durchsuchung objektiv willkürlich war und der Aufklärung einer Straftat dienen sollte, mit der der Angeklagte, was die Polizei ohne übereiltes Handeln hätte wissen können, nichts zu tun hatte.

c) Schwerpunkt des gegen den Angeklagten erhobenen Vorwurf ist der Besitz von etwa 220 g Marihuana einer weichen Droge mit einem niedrigen Wirkstoffgehalt. Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass das Betäubungsmittel zum Eigenkonsum bestimmt war. Da somit nur eine Eigengefährdung vorliegt, ist das Allgemeininteresse an der Tataufklärung jedenfalls nicht so hoch zu veranschlagen, dass der einen rechtswidrigen Eingriff in ein Grundrecht darstellende und daher schwerwiegende Verfahrensverstoß hier von untergeordneter Bedeutung wäre.

III.

Das angefochtene Urteil ist somit aufzuheben. Da andere als die einem Verwertungsverbot unterliegenden Beweise nicht vorhanden sind, kommt eine Zurückverweisung nicht in Betracht. Der Angeklagte ist vielmehr freizusprechen.

Eine Entscheidung gemäß § 8 StrEG ist entbehrlich, da im vorliegenden Verfahren keine Maßnahmen nach § 2 StrEG getroffen wurden, die eine Entschädigungspflicht auslösen könnten.

Kosten: § 467 Abs. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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