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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Koblenz
Beschluss verkündet am 20.07.2000
Aktenzeichen: 1 Ws 140/00
Rechtsgebiete: StGB


Vorschriften:

StGB § 67 e
StGB § 63
Leitsatz

Stellt sich bei der Überprüfung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus heraus, dass der Untergebrachte die Unterbringungsvoraussetzungen nach §§ 67 e, 63 StGB nicht (mehr) erfüllt oder nie erfüllt hat (und deshalb zu Unrecht freigesprochen und untergebracht wurde), ist die Unterbringung auch dann für erledigt zu erklären und zu beenden, wenn an der Gefährlichkeit des Untergebrachten und an der Begehung neuer schwerer Straftaten kein Zweifel besteht.


Geschäftsnummer: 1 Ws 139 - 141/00 StVK 469/99 StVK 303/98 StVK 304/99 LG Koblenz 76 VRs 13/97 StA D. 61 VRs 678/86 StA B. 61 VRs 627/83 StA B.

OBERLANDESGERICHT KOBLENZ Beschluss

gegen

M. S.,

- Verteidiger: Rechtsanwalt M. K. -

wegen Vergewaltigung u.a.

hier: Überprüfung der Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Koblenz durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht von Tzschoppe, den Richter am Oberlandesgericht Völpel und den Richter am Amtsgericht Schmickler am 20. Juli 2000

beschlossen:

Tenor:

1.

Auf die sofortige Beschwerde des Untergebrachten wird der Beschluss der großen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Koblenz vom 7. Januar 2000 aufgehoben.

2.

Seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß den Urteilen des Landgerichts B. vom 24. März 1983 (4 KLs 61 Js 600/82) und 14. April 1986 (2 KLs 61 Js 392/84) sowie des Landgerichts D. vom 26. Juni 1996 (1 KLs 76 Js 360/95) ist erledigt.

3.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Untergebrachten fallen der Staatskasse zur Last (entsprechend § 467 Abs. 1 StPO).

Gründe:

I.

Der Untergebrachte, der zum Zeitpunkt der letzten Unterbringungsüberprüfung durch die Strafvollstreckungskammer am 7. Januar 2000 noch in der R-M.-Fachklinik in A. untergebracht war, befindet sich nunmehr im Landeskrankenhaus M. in M.. Seiner Unterbringung liegen folgende gerichtliche Entscheidungen zugrunde:

1.

Durch Urteil des Landgerichts D. vom 26. Juni 1996 (KLs 76 Js 360/95) wurde er freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.

Gemäß den Feststellungen des Urteils hatte der damalige Angeklagte am 5. April 1995 nach Mitternacht im D.er Hauptbahnhof eine ca. 20-jährige Frau angesprochen, sie in seine Wohnung gelockt und dort durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben veranlasst, mehrfach an seinem Geschlechtsteil zu manipulieren sowie sexuelle Berührungen an ihrem Körper zu dulden.

Das Urteil stellt weiter eine Tat vom 24. Juli 1995 fest. An diesem Tag bot der Angeklagte einer ca. 16 Jahre alten Frau aus der "Punkerszene" an, bei ihm zu übernachten. Nachdem diese das Angebot angenommen und ihm in seine Wohnung gefolgt war, bedrohte er sie ebenfalls mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben und nötigte sie dadurch u.a. zum Oralverkehr und zweimaligem Geschlechtsverkehr. Dabei wandte er auch Gewalt an, indem er sie mit der flachen Hand ins Gesicht schlug, um sie auf diese Weise zu veranlassen, sexuelle Handlungen auszuführen und zu dulden.

Diese Taten hat das Landgericht zum einen als sexuelle Nötigung gemäß § 178 StGB a.F., zum anderen als Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung und Körperverletzung gemäß §§ 223, 177, 178, 52 StGB a.F. gewertet.

Zu einer Bestrafung ist die Kammer nicht gelangt, weil sie nach Vernehmung eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie als Sachverständigen die Überzeugung gewonnen hatte, dass dem Angeklagten aufgrund einer schweren anlage- und milieubedingten dissozialen und emotionalen Persönlichkeitsstörung eine schwere andere seelische Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB zuzusprechen sei. Entgegen der Auffassung des Sachverständigen, der dem Angeklagten deswegen lediglich eine erhebliche Minderung der Steuerungsfähigkeit zugebilligt, eine gänzliche Aufhebung dieser Fähigkeit aber verneint hatte, konnte die Kammer nicht ausschließen, dass der Angeklagte bei Verwirklichung der Straftaten in seiner Steuerungsfähigkeit völlig beeinträchtigt war. Sie hat ihn deswegen freigesprochen und im Hinblick auf seine erkannte Gefährlichkeit die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.

2.

Das Landgericht B. sprach ihn mit Urteil vom 24. März 1983 (4 KLs 61 Js 600/82) ebenfalls frei und ordnete seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

Nach den Urteilsfeststellungen erpresste der Angeklagte, der zur Tatzeit im Jahre 1982 unter Vormundschaft des Jugendamts der Stadt B. stand und den ihn betreuenden Amtsmitarbeiter dazu bewegt hatte, ihm zu Lasten des Kontos eines anderen Mündels einen Barscheck über 400 DM auszuhändigen, den Betreuer zunächst unter Androhung einer Anzeige, nachfolgend unter Drohung, ihn und seine Familie umzubringen, zur Zahlung erheblicher Geldbeträge.

Auch in diesem Fall hat die Strafkammer angenommen, dass der Angeklagte wegen einer schweren seelischen Abartigkeit unfähig gewesen sei, nach der vorhandenen Einsicht in das Unrecht seiner Taten zu handeln. Den zur Schuldunfähigkeit führenden Zustand hat die sachverständig beratene Kammer auf Schwachsinn, eine Hirnschädigung und eine affektiv sozial schwerstgestörte Persönlichkeit zurückgeführt.

3.

Am 14. April 1986 (2 KLs 61 Js 392/84) verurteilte das Landgericht B. den Untergebrachten wegen schweren räuberischen Diebstahls in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung unter Einbeziehung der Strafe aus einem zuvor ergangenen Urteil des Landgerichts Münster vom 26. September 1985 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten.

Der Angeklagte war gemäß den Feststellungen des Urteils zusammen mit seiner Freundin am 7. April 1984 in die Wohnung seiner Großmutter eingebrochen, um dort Wertgegenstände zu stehlen. Als die Großmutter sie bei Rückkehr in die Wohnung überraschte, riss der Angeklagte sie im dunklen Hausflur zu Boden und schlug mit der Faust kräftig auf ihren Kopf und Oberkörper ein. Nachdem er von seiner Großmutter abgelassen hatte, verließen er und seine Begleiterin unter Mitnahme der in einem Einkaufswagen verpackten Diebesbeute die Wohnung.

Entsprechend den Gutachten dreier Sachverständiger war die Kammer in diesem Fall von voller Schuldfähigkeit des Angeklagten ausgegangen. In den Urteilsgründen wird dazu ausgeführt, dass es sich bei ihm zwar um eine in sozialer und emotionaler Hinsicht schwer gestörte Persönlichkeit handele, jedoch begründe die zugrunde liegende Fehlentwicklung nicht die Voraussetzungen eines der in §§ 20, 21 StGB aufgeführten Merkmale. Eine Debilität des Angeklagten läge nicht vor, auch ein hirnorganischer Schaden sei nicht nachweisbar.

4.

Aufrechterhalten hat die Kammer mit der nachträglichen Bildung der Gesamtstrafe aber die durch ein weiteres Urteil, nämlich des Landgerichts Münster vom 26. September 1985 angeordnete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Gemäß den Feststellungen dieses Urteils hatte der Angeklagte, nachdem er aus der Unterbringung im Westfälischen Landeskrankenhaus E. geflohen war, unter Vorspiegelung, Kriminalbeamter zu sein, eine Frau dazu veranlasst, mit ihm und ihrem zweieinhalb Jahre alten Kind in ein Hotelzimmer zu ziehen und dort gegen ihren Willen zweimal den Geschlechtsverkehr mit ihm auszuüben. Namen und Anschrift der Frau hatte er zuvor von einem Mitinsassen des Landeskrankenhauses erfahren, der mit ihr befreundet war und Vater des Kindes ist.

Das Landgericht Münster hatte diese Tat als Amtsanmaßung in Tateinheit mit Urkundenfälschung und Freiheitsberaubung gewertet und eine Freiheitsstrafe von einem Jahr verhängt. Bezüglich der Schuldfähigkeit des Angeklagten hat es eine erhebliche Minderung seiner Steuerungsfähigkeit angenommen, die aus einer Debilität, einer organischen Hirnschädigung und auf entwicklungspsychologischer Basis entstandenen Persönlichkeitsstörungen herzuleiten sei.

5.

Die Vollstreckung der Unterbringung gemäß den Urteilen zu 2. und 3. war zunächst zur Bewährung ausgesetzt. Das Landgericht Kleve widerrief die Aussetzung mit Beschluss vom 26. Juni 1997 im Hinblick auf die Verurteilung zu 1. Die Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil zu 3. hat der Untergebrachte, soweit aus den vorliegenden Vollstreckungsakten ersichtlich, voll verbüßt.

II.

Nach anfänglicher Unterbringung im Westfälischen Zentrum für Forensische Psychiatrie in L. wurde die Maßregel ab dem 19. September 1997 in der R-M.-Fachklinik in A. vollstreckt. In den zur Vorbereitung der gerichtlichen Regelüberprüfungen gemäß § 67 e Abs. 2 StGB vom Leitenden Arzt, Oberarzt und Anstaltspsychologen jeweils gemeinsam erstellten Gutachten vom 9. Dezember 1997 und 24. August 1998 wurde dem Untergebrachten jeweils eine Persönlichkeitsstörung auf Borderline-Strukurniveau gemäß ICD 10: F 60.2 bescheinigt und für den Fall seiner Entlassung aus der Unterbringung mit hoher Wahrscheinlichkeit die Begehung weiterer erheblicher Straftaten prognostiziert. Dementsprechend hat die Strafvollstreckungskammer in ihren Überprüfungsentscheidungen vom 9. Januar 1998 und 8. Januar 1999 die weitere Vollstreckung der Unterbringung nicht zur Bewährung ausgesetzt.

Ein weiter erstelltes Gutachten der Klinik vom 29. September 1999 teilt als Diagnose nunmehr eine antisoziale Persönlichkeitsstörung (DSM-IV 301.7) mit. Die Gutachter führen aus, dass sie die im genannten Urteil des Landgerichts D. angenommene Schuldunfähigkeit gemäß § 20 StGB nicht im Geringsten nachvollziehen könnten und diese Entscheidung für falsch hielten. Der Untergebrachte zeige vielmehr eine polytrope Kriminalität und das Vollbild der antisozialen Persönlichkeitsstörung. Auszugehen sei von seiner vollen Schuldfähigkeit, allenfalls könne eine nicht ausschließbare erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit diskutiert werden. Die hohe Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten nach Entlassung aus dem Maßregelvollzug bestehe jedoch weiter fort. Insbesondere müsse wiederum mit Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gerechnet werden, vor allem in Situationen, in denen potentielle Sexualpartner sich nach anfänglicher Annäherung von dem Untergebrachten zurückziehen und seinem Wollen Grenzen setzen.

Auf Grundlage dieses Gutachtens hat die Strafvollstreckungskammer am 7. Januar 2000 abermals beschlossen, die weitere Vollstreckung der Unterbringung nicht zur Bewährung auszusetzen.

Gegen diese Entscheidung wendet sich der Untergebrachte mit der sofortigen Beschwerde. Er begehrt, die Unterbringung für erledigt zu erklären.

III.

Das gemäß §§ 463 Abs. 3 Satz 1, 454 Abs. 3 Satz 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsmittel hat Erfolg.

Gemäß allgemeiner, höchstrichterlich bestätigter Auffassung in Rechtsprechung und Literatur (vgl. nur BGHSt 42, 306, 310; BVerfG NJW 95, 2405, 2406, jeweils m.w.N.) ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus in analoger Anwendung des § 67 c Abs. 2 Satz 5 StGB für erledigt zu erklären, wenn sich während der Vollstreckung der Maßregel herausstellt, dass die Voraussetzungen für die Unterbringung nicht (mehr) vorliegen, weil ein geistiger oder psychischer Defekt im Sinne der §§ 20, 21 StGB bei dem Untergebrachten nicht gegeben ist und die ärztliche Diagnose deshalb revidiert werden muss. Das gilt selbst dann, wenn von dem Untergebrachten nach seiner Entlassung erneut Straftaten zu erwarten sind (BGH, BVerfG, jeweils a.a.0.). Andernfalls liefe die weitere Unterbringung auf eine reine Sicherungsverwahrung ohne entsprechende - nach § 66 Abs. 1 StGB erforderliche - richterliche Anordnung hinaus (BVerfG a.a.0., m.w.N.).

Die Erledigungsvoraussetzung ist vorliegend erfüllt. Es ist davon auszugehen, dass der Untergebrachte bei Begehung der den dargestellten Unterbringungsentscheidungen zugrunde liegenden Taten keines der Merkmale gemäß §§ 20, 21 StGB erfüllt hat und demgemäß weder eine Schuldunfähigkeit noch eine verminderte Schuldfähigkeit vorgelegen hat.

Das ergibt sich nicht nur aus der erwähnten gutachterlichen Stellungnahme der R-M.-Fachklinik vom 29. September 1999, sondern auch aus dem Gutachten des vom Senat beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. G., tätig im Klinikum der Universität Mainz. Er ist dem Senat als forensisch erfahrener Psychiater bekannt, dessen Sachkunde und Erfahrungswissen außerhalb jeglichen Zweifels stehen. Sein Gutachten hat er auf Grundlage der Verfahrens- und Vollstreckungsakten, der zuvor von verschiedenen Sachverständigen zum seelischen und geistigen Zustand des Untergebrachten erstatteten Gutachten sowie der umfangreichen Krankenunterlagen erstellt und ist dabei - auch ohne ein (vom Untergebrachten verweigertes) Explorationsgespräch - zu eindeutigen Ergebnissen gelangt.

Danach zeigen die Verhaltensauffälligkeiten des Untergebrachten keine Anzeichen psychischer Abnormität. Eine solche sei, wie im Gutachten ausführlich erläutert wird, keine Qualität, die einem Menschen oder einer bestimmten seelischen Entäußerung immanent anhaftet oder diese kennzeichnet. Sie bedürfe der Feststellung, d.h. eines Betrachters, der bestimmte Verhaltensweisen in Relation zu einer Bezugsgröße stellt und daraus seine Schlüsse zieht. Bezugzunehmen sei auf allgemein gültige Gemeinschaftsnormen, die die psychische Abnormität zwar nicht bestimmen könnten, jedoch geeignet seien, diese zu demaskieren bzw. in Erscheinung treten zu lassen.

Bei abweichendem Verhalten sei eine klare Unterscheidung zu treffen zwischen Psychopathologie und Kriminologie. Die Beziehung des psychopathologisch von der Norm Abweichenden zur Gesellschaft sei eine grundsätzlich andere als diejenige des kriminell Abweichenden. Im Gegensatz zu einem Kriminellen, der keine Interesse daran habe, die bestehenden sozialen Beziehungen durch sein Verhalten zu ändern, sondern die vorgefundene Ordnung zum Ausgangspunkt für sein Tun macht, sei das Verhalten eines Geisteskranken - eines psychopathologisch Abweichenden - virtuell auf eine Änderung der bestehenden Verhältnisse ausgerichtet insofern, als er einer bestehenden Beziehung oder Situationsdefinition eine eigene entgegen stellt. In seinem Verhalten werde deutlich, dass er eine gegebene Situation anders als die Norm es vorgibt interpretiert. Während kriminelles Verhalten Bestandteil der sozialen Struktur sei, drehe das psychopathologische Verhalten den Betroffenen aus dieser Struktur heraus. In subjektiver Hinsicht handelten der Kriminelle und der Geisteskranke in völlig verschiedenen Situationen. Im Gegensatz zum Kriminellen, der der Integration in die vorgefundene gemeinsame Situation bedürfe und durch sein Tun den allgemeinen Regeln und Normen letztlich zur Gültigkeit verhelfe, orientiere der Geisteskranke sein Verhalten an den Erwartungen einer "privaten Situation" bzw. einer "privaten" sozialen Struktur, durch deren Interpretation er sich von anderen isoliert.

Indem der Sachverständige diese Grundsätze auf die normabweichenden Verhaltensweisen des Untergebrachten überträgt, zeigt er in einleuchtender Weise auf, dass diesem gerade die charakteristischen Anzeichen einer psychischen Abnormität fehlten. Er erläutert dies im Ergebnis wie folgt:

"Es ist nicht erkennbar, dass sich in den manigfachen Formen devianten Verhaltens des Herrn Sch. eine psychische Abnormität abbildet, ein individuelles Anderssein, das ihn von der Gruppe der sozial Konformen unterschiede. Seine Regelverletzungen resultieren weder aus einem abweichenden Situationsverständnis noch aus abweichenden Bedürfnissen, abweichenden Zielvorstellungen oder einem abweichenden Realitätsverständnis. Sie resultieren aus der fehlenden Bereitschaft zu sozial konformem Verhalten, die sich innerhalb der Institution nicht anders darstellt als außerhalb derselben. Man mag ihn deswegen als eine "dissoziale Persönlichkeit" bezeichnen, könnte ihn mit dem gleichen Recht eine anti-psychiatrische oder anti-institutionelle Persönlichkeit nennen. Ein psychiatrischer Befund ist damit nicht bezeichnet, sondern lediglich eine gewachsene Einstellung, in der sich nicht eine psychopathologisch relevante Verhaltensdeviation widerspiegelt, sondern die Neigung zu Delinquenz".

Dieses Ergebnis deckt sich mit der Selbsteinschätzung des Untergebrachten, die er bei seiner mündlichen Anhörung durch die Strafvollstreckungskammer von sich aus geäußert hat:

"... Ich bin voll steuerungsfähig. Ich bin aber auch kriminell bis auf die Knochen. Wenn ich verurteilt werde, müsste ich in den Knast kommen."

Dem ist im Grunde genommen nichts hinzuzufügen.

Der Sachverständige führt weiter aus, dass allein der Befund der dissozialen oder antisozialen Persönlichkeit sich unter keines der in §§ 20, 21 StGB genannten Merkmale einordnen lasse. Antisoziales Handeln könne Folge einer psychischen Störung sein, ohne aber notwendig auf eine solche zu verweisen. Die Persönlichkeitsbeschreibung als "antisozial" oder "dissozial" sei für sich betrachtet eine Leerformel, solange es nicht gelinge, die antisozialen Verhaltensmuster als Symptom einer individuellen Normwidrigkeit zu identifizieren und damit die bloße Persönlichkeitsbeschreibung in den Rang einer Diagnose zu heben. Im Fall des Untergebrachten hat der Sachverständige eine Normwidrigkeit als Verhaltensursache ausgeschlossen. Die in früheren Begutachtungen herangezogenen Kausalfaktoren einer Debilität oder hirnorganischen Störung hat er nicht verifizieren können. Nach den langjährigen Beobachtungen des Untergebrachten in psychiatrischen Einrichtungen ist es nach Auffassung des Sachverständigen auszuschließen, dass er schwachsinnig sei oder an psychopathologischen Folgen einer in frühen Jahren erlittenen organischen Hirnschädigung leide. Die in den Vorgutachten zum Teil vorgenommene Einordnung der Persönlichkeitsauffälligkeiten unter die Merkmale der §§ 20, 21 StGB erklärt sich der Sachverständige wie folgt:

"Das Studium der vorliegenden Unterlagen lehrt, dass im Falle des Herrn Sch. aufgrund der langjährigen wechselnden Kontakte mit Psychiatern und psychiatrischen Institutionen ein Prozess in Gang gesetzt wurde, der als so ungewöhnlich nicht gelten kann. Eine früh manifest werdende Deliktbereitschaft, die weder durch Sanktionen noch durch ärztliche Bemühungen zu beeinflussen war, erfuhr durch die Unterbringung des Herrn Sch. in psychiatrischen Einrichtungen eine Neubewertung. Indem Herr Sch. gleichsam in das Schwerefeld psychiatrischer Begrifflichkeit geriet, wurde er zum Gegenstand psychiatrischer Wertung. Aus dem Delinquenten wurde ein Patient, als solcher nicht nur durch seinen Aufenthaltsort definiert, sondern auch dadurch, dass sein bisher gezeigtes deliktisches Verhalten mit der Zuschreibung einer Diagnose verfremdet wurde. Nur diese, sich allein auf die Begriffswahl beschränkende Neudefinition konnte die Frage aufkommen lassen nach dem Vorliegen eines der Eingangsmerkmale der §§ 20, 21 StGB. Zu Unrecht wurde dabei aus der Deliktbereitschaft des Herrn Sch. eine "Persönlichkeitsstörung".

Diese Ausführungen sind für den Senat in jeder Hinsicht nachvollziehbar.

Der Sachverständige verneint auch das Vorliegen einer schweren anderen seelischen Abartigkeit. Die in den der Unterbringung zugrunde liegenden Urteilen beschriebene Wesensart charakterisiere den Angeklagten sicherlich als abnorme Persönlichkeit, abnorm aber nur im statistischen Sinne, d.h. er unterscheide sich von der Mehrzahl der Gleichaltrigen, ohne dass damit schon eine psychische Abnormität belegt werde. Es bedeute einen unzulässigen Zirkelschluss, aus statistischer Normwidrigkeit auf psychische Normwidrigkeit zu schließen, um diese dann als Ursache der Abweichung von der statistischen Norm zu benennen. Stets müsse zwischen Verhaltensmustern unterschieden werden, die als Indiz und Folge einer psychischen Abnormität zu verstehen sind und jenen, die als gewachsene Wesenseigentümlichkeiten eben diesen Menschen ausmachen, d.h. dessen individuelle Normalität. Unter die letztgenannte Alternative ordnet der Sachverständige die Verhaltensauffälligkeiten des Verurteilten ein, indem er ausführt:

"Herr Sch. hat im Verlauf seines Lebens Verhaltensweisen gelernt und eingeübt, die ihm unter den Bedingungen, unter denen er in Freiheit oder in einer Institution lebte, eine nach seinem Dafürhalten optimale Bedürfnisbefriedigung garantierten. Er ist dadurch, im statistischen Sinne, zu einem abnormen Menschen geworden, nicht aber zu einem psychisch Gestörten. Sein, für den Außenstehenden, abnormes Verhalten, war angesichts der Bedingungen, unter denen sein Leben verlief, insoweit normal, als es Ausdruck einer intendierten, am jeweiligen Handlungsziel orientierten Willensbildung war. Es bestimmte ihn zu sozial schädlichem Tun nicht aufgrund eines irgendwie gearteten geistigen oder psychischen Defektes, sondern als motivationales Handeln eines Menschen, der an der Verwirklichung eigener Interessen unbeschadet einer möglichen Verletzung der Interessen anderer festhält und der die Verbindlichkeit sozial vermittelter Normen und Regeln für die eigene Person ablehnt".

Im Ergebnis verneint der Sachverständige das Vorliegen eines der in §§ 20, 21 StGB genannten Merkmale sowohl für die Zeit der Tatbegehungen als auch, soweit aus den Begutachtungsunterlagen auf den aktuellen psychischen Befund geschlossen werden kann, für die Gegenwart.

Diesem Ergebnis vermag sich auch der Senat angesichts der überzeugenden Begründung des Gutachtens nicht zu verschließen.

Nachdem nunmehr die unabhängig voneinander durchgeführten Begutachtungen der R-M.-Fachklinik einerseits und des beauftragten Sachverständigen andererseits zu ein- und demselben Ergebnis gelangt sind, verbleiben für den Senat keine Zweifel mehr, dass die Unterbringungsvoraussetzungen gemäß § 63 StGB nicht erfüllt sind. Danach sind die Unterbringungsanordnungen, aber auch die Freisprüche des Untergebrachten zu Unrecht erfolgt. Die Unterbringung muss damit für erledigt erklärt werden, die rechtskräftigen Freisprüche sind dagegen unabänderbar.

Der Senat verkennt nicht, dass er mit seiner Entscheidung der Allgemeinheit ein hohes Sicherheitsrisiko aufbürdet. Soweit nicht weitere, aus den vorliegenden Akten nicht ersichtliche, auf andere freiheitsentziehende Maßnahmen lautende Entscheidungen zur Vollstreckung anstehen, führt die Erledigung der Unterbringung ungeachtet der fortbestehenden Gefährlichkeit des Untergebrachten zu seiner Freilassung. Angesichts der gegebenen Sach- und Rechtslage kann der Senat jedoch diese unbefriedigende Folge nicht verhindern.

Ende der Entscheidung

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