Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Bamberg
Urteil verkündet am 31.10.2002
Aktenzeichen: 1 U 75/02
Rechtsgebiete: VVG, AKB, ZPO, EGZPO


Vorschriften:

VVG § 27 Abs. 2
VVG § 28 Abs. 1
VVG § 61
AKB § 12 Nr. 1 II e
AKB § 13 Nr. 1
ZPO § 3
ZPO § 97 Abs. 1
ZPO § 519 Abs. 3 Nr. 2
ZPO § 543 Abs. 2 n.F.
ZPO § 546 Abs. 2 a.F.
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 711
EGZPO § 26 Nr. 7
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Oberlandesgericht Bamberg IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

1 U 75/02

Verkündet am 31. Oktober 2002

in dem Rechtsstreit

wegen Forderung

Der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Bamberg hat unter Mitwirkung des Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts A und der Richter am Oberlandesgericht D und G aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 31. Oktober 2002

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Die Berufung der Beklagten gegen das Endurteil des Landgerichts Bamberg vom 19. März 2002 wird zurückgewiesen.

II. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 36.000,-- EUR abwenden, wenn nicht vorher der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

IV. Die Beschwer der Beklagten beträgt 26.801,80 EUR.

V. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger macht nach einem selbstverschuldeten Verkehrsunfall Ansprüche aus einer Fahrzeug-(Vollkasko) Versicherung gegen die Beklagte geltend.

Am 03.03.1999 gegen 22.45 Uhr fuhr der Kläger bei Rotlicht in die Kreuzung Obere Königstraße/Luitpoldstraße in B ein, nachdem er zunächst 10 bis 20 Sekunden vor der Rotlicht zeigenden Ampel angehalten hatte. Im Kreuzungsbereich kam es zu einem Zusammenstoß, bei dem am vom Kläger genutzten Fahrzeug ein Schaden in Höhe von netto 53.069,23 DM entstand. Für das Fahrzeug bestand bei der Beklagten eine Vollkaskoversicherung mit einer Selbstbeteiligung in Höhe von 650,-- DM.

Beim Kläger war im Jahre 1998 eine zentrale visuelle und auditive Verarbeitungs-/Aufmerksamkeitsstörung mit Verdacht einer binokularen Fusionsstörung diagnostiziert worden. Wegen der Einzelheiten wird insoweit auf den Arztbericht vom 26.06.1998 (Bl. 23 ff. d.A.) Bezug genommen.

Der Kläger hat in erster Instanz die Auffassung vertreten, er sei infolge eines Wahrnehmungsdefektes und in der sicheren Annahme, die Ampel zeige grün, in die Kreuzung eingefahren. Sein Fehlverhalten beruhe, da er zunächst bei Rotlicht angehalten habe, auf der genannten Aufmerksamkeitsstörung. Dabei handle es sich um ein "Augenblicksversagen", keinen Fall der groben Fahrlässigkeit.

Eine Mitteilung der Erkrankung an die Beklagte gemäß § 27 Abs. 2 VVG sei nicht veranlasst gewesen, weil er nicht davon ausgegangen sei, dass sich die Aufmerksamkeitsstörung bei der Teilnahme am Straßenverkehr nachteilig auswirke.

Nach teilweiser Klagerücknahme hat der Kläger zuletzt beantragt:

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 52.419,23 DM nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 04.05.1999 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt:

Die Klage wird abgewiesen.

Sie hat die Auffassung vertreten, sie sei deshalb leistungsfrei, weil der Kläger den Unfall durch Überfahren des Rotlichtes grob fahrlässig herbeigeführt, zudem schon dadurch grob fahrlässig gehandelt habe, dass er trotz der attestierten krankhaften Aufmerksamkeitsstörung weiterhin am Straßenverkehr teilgenommen habe. Zudem sei gemäß § 28 Abs. 1 VVG Leistungsfreiheit eingetreten, weil der Kläger die nicht unerhebliche Gefahrerhöhung aufgrund der attestierten Krankheit gemäß § 27 Abs. 2 VVG ihr nicht mitgeteilt habe.

Mit Endurteil vom 19.03.2002 hat das Landgericht Bamberg dem Klageantrag stattgegeben. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, dass eine grobe Fahrlässigkeit des Klägers nicht nachgewiesen sei. Dazu fehle es an der subjektiven Komponente. Aus dem objektiv groben Pflichtverstoß des Überfahrens einer Kreuzung bei Rotlicht könne wegen der Besonderheiten des vorliegenden Falles nicht auf ein gesteigertes subjektives Verschulden geschlossen werden. Der ärztliche Bericht vom 26.06.1998 attestiere dem Kläger eine Impulsivitäts-Hyperaktivitäts-Verarbeitungsstörung, aus der sich atypisch differenzierte Korrelate der zentralen visuellen und auditiven Verarbeitung, Defizite der Fähigkeiten auditiver Wahrnehmung sowie Strategiedefizite ergäben. Die gerade im Straßenverkehr und insbesondere an einer belebten städtischen Kreuzung von Reizvielfalt geprägte Situation einerseits, das Vorliegen einer alltäglichen Situation bei der Teilnahme am Straßenverkehr andererseits, stelle gerade die Kombination der Umstände dar, die im ärztlichen Bericht für deutliche Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit des Klägers herangezogen würden. Eine grobe Fahrlässigkeit könne auch nicht darauf gestützt werden, dass der Kläger trotz der im Jahre 1998 attestierten, oben beschriebenen, Störung weiterhin am Straßenverkehr teilgenommen habe. Nach der Bewertung des ärztlichen Berichts sei er nämlich in der Lage gewesen, die Defizite durch die im Laufe des Lebens entwickelten Strategien der Signalverarbeitung auszugleichen. Für den Kläger sei deshalb nicht ohne weiteres vorhersehbar gewesen, dass die genannten Defizite zu einem schwerwiegenden Fehlverhalten im Straßenverkehr führten, zumal ärztlicherseits keine entsprechenden Hinweise erfolgt seien. Solche hätte der Kläger aber erwarten können, wenn aus ärztlicher Sicht Bedenken gegen die weitere Teilnahme am Straßenverkehr bestanden hätten. Zudem seien bis zum Unfall vom 03.03.1999 ähnliche Fehlleistungen beim Kläger nicht aufgetreten.

Auch die Voraussetzungen der Verletzung einer Mitteilungspflicht gemäß § 27 Abs. 2 VVG läge nicht vor. Eine nach Abschluss des Vertrags eintretende Erhöhung der Gefahr, wie sie § 27 Abs. 2 VVG voraussetze, habe nicht vorgelegen. Der ärztliche Bericht vom 26.06.1998 attestiere, dass der Kläger im Laufe seines Lebens Strategien der Signalverarbeitung entwickelt habe, um die Defizite auszugleichen. Letztere hätten demnach zeitlebens vorgelegen.

Das Urteil des Landgerichts Bamberg vom 19.03.2002 ist der Beklagten am 18.04.2002 zugestellt worden. Sie hat dagegen mit Schriftsatz vom 21.05.2002, eingegangen beim Oberlandesgericht Bamberg am selben Tag (Dienstag nach Pfingsten) Berufung eingelegt und sie mit Schriftsatz vom 18.06.2002, eingegangen beim Oberlandesgericht Bamberg am selben Tag, begründet. Sie ist der Auffassung, die subjektiven Voraussetzungen" der groben Fahrlässigkeit hätten beim Kläger vorgelegen. Das Urteil sei in sich widersprüchlich. Wenn man - wie das Erstgericht - zu dem Ergebnis komme, dass es nicht als grobe Fahrlässigkeit anzusehen sei, wenn der Kläger trotz der ihm bekannten Krankheit weiterhin am Straßenverkehr teilnehme, dann könne diese Erkrankung nicht noch zugunsten des Klägers als erheblicher Schuldminderungsgrund für das sogenannte Augenblicksversagen gewertet werden. Dadurch würde der Kläger bessergestellt als jeder gesunde Kraftfahrer, der sich nicht auf eine solche Erkrankung stützen könne. Außer Zweifel stünde aber, dass - wenn der Kläger nicht an dieser Erkrankung gelitten hätte - sein Verhalten als grob fahrlässig zu bewerten gewesen wäre und auch vom Erstgericht so bewertet worden wäre. So würde der Kläger gegenüber anderen, gesunden Verkehrsteilnehmern gewissermaßen privilegiert.

Davon ausgehend sei auch die weitere Teilnahme am Straßenverkehr in positiver Kenntnis der Erkrankung ein grob fahrlässiges Verhalten des Klägers gewesen. Auch ohne entsprechenden Hinweis des Arztes sei ihm bekannt gewesen, dass die diagnostizierte Aufmerksamkeitsstörung zu Ausfallerscheinungen bezüglich der Aufnahme von Gegebenheiten im Straßenverkehr und einer angemessenen Reaktion hierauf führen könne. Es sei nicht auszuschließen, dass bei der nächsten akuten Aufmerksamkeitsstörung des Klägers im Straßenverkehr auch Personen, insbesondere Kinder, zu Schaden hätten kommen können. Vertrete man diese Ansicht, so könne man nur zu dem Ergebnis kommen, dass die Erkrankung nicht als Schuldminderungsgrund für das Augenblicksversagen des Klägers gewertet werden dürfe. Er müsse sich sofern eine Gleichbehandlung mit anderen Verkehrsteilnehmern, insbesondere anderen Autofahrern, gefallen lassen. Einem gesunden Autofahrer könne ein solcher Schutz, wie ihn das erstrichterliche Urteil dem Kläger zubillige, nicht zuteil werden. Jeder Autofahrer, der zunächst bei einer Ampel anhalte und dann aus Unaufmerksamkeit nach mehreren Sekunden bei Rot in einen Kreuzungsbereich einfahre, müsse sich den Vorwurf einer groben Fahrlässigkeit gefallen lassen. Der Kläger habe sich selbst an seine Erkrankung erst bei einem gewissen Erklärungsnotstand infolge des Unfalls erinnert und das ärztliche Attest aus dem Jahre 1998 vorgelegt. Dazu habe er selbst vorgetragen, dass sich die Aufmerksamkeitsstörung niemals merklich geäußert habe. Dann sei es aber unlogisch, diese Erkrankung überhaupt zu berücksichtigen und als Schuldmilderungsgrund anzusehen.

Schließlich sei die Tatsache, dass der Straßenverkehr durch eine große Reizvielfalt geprägt sei, nicht geeignet, auch nur eine annähernde Wahrscheinlichkeit dafür zu begründen, dass das Augenblicksversagen des Klägers auf diese Aufmerksamkeitsstörung zurückzuführen sei. Schließlich habe sich der Kläger auch schon vor dem Unfallzeitpunkt der Reizvielfalt des Straßenverkehrs ausgesetzt, ohne dass sich die Erkrankung in irgendeiner Weise erkennbar geäußert hätte. Der Kläger habe selbst eine Mitteilung an die Beklagte nach § 27 Abs. 2 VVG für nicht veranlasst gehalten, was deutlich zeige, dass eine Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Augenblicksversagen auf diese Erkrankung zurückzuführen sei, auch aus der Sicht des Klägers, nicht gegeben sei. Der Kläger setze seine Erkrankung ambivalent so ein, wie es ihm gerade vorteilhaft erscheine.

Im übrigen nimmt sie - die Beklagte - Bezug auf das gesamte erstinstanzliche Vorbringen und macht es ausdrücklich auch zum Gegenstand ihres Sachvortrages in zweiter Instanz.

Sie beantragt,

das Urteil des Landgerichts Bamberg vom 19.03.2002 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Er verteidigt das Ersturteil als zutreffend.

Insbesondere bestreitet er die Behauptung der Beklagten, dem Kläger sei ohne Hinweis seiner Ärzte bekannt gewesen, dass die diagnostizierte Aufmerksamkeitsstörung zu Ausfallserscheinungen bezüglich der Aufnahme von Gegebenheiten im Straßenverkehr und einer angemessenen Reaktion hierauf führen könne. Bei ihm läge nämlich nach Angabe der behandelnden Ärzte bereits von Kindesbeinen an diese Aufmerksamkeitsstörung vor. Wenn er - zwischen den Parteien unstreitig - seit dem 15.01.1973 bis zum Unfalltag mehr als 26 Jahre gefahren sei, ohne eine solche Störung zu bemerken, habe er darauf vertrauen können, dass sich dieses Defizit im Straßenverkehr nicht auswirke. In rechtlicher Hinsicht seien die typischen "Rotlichtfälle", in denen ein Verkehrsteilnehmer ohne vor der Ampel anzuhalten, in die Kreuzung einfahre, von denjenigen Konstellationen zu unterscheiden, in denen - wie im vorliegenden Fall - der Autofahrer das Rotlicht beachtet, angehalten und sich somit rechtstreu verhalten habe. In der letztgenannten Fallgruppe sei grobe Nachlässigkeit zu verneinen.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf das angefochtene Urteil sowie auf die von den Parteien gewechselten Schriftsätze samt übergebenen Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I. Die zulässige Berufung der Beklagten ist zurückzuweisen. Sie kann die Richtigkeit des angegriffenen Urteils des Landgerichts Bamberg vom 19.03.2002 nicht in Frage stellen. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch aus §§ 12 Nr. 1 II e, 13 Nr. 1 AKB auf Zahlung des vom Landgericht ausgeurteilten Betrags.

1. Die Beklagte ist nicht gemäß § 61 VVG von der Verpflichtung zur Leistung aus dem zwischen den Parteien unstreitig bestehenden Versicherungsvertrag freigeworden. Der Kläger hat den Versicherungsfall weder vorsätzlich noch durch grobe Fahrlässigkeit herbeigeführt. Der Beweis der schuldhaften Herbeiführung des Versicherungsfalles ist in vollem Umfang (auch hinsichtlich des Verschuldensgrades und der Kausalität) vom Versicherer zu führen, weil es sich um einen Risikoausschluss handelt (BGH, VersR 1985, 440; Hofmann, Privatversicherungsrecht, 4. Aufl., S. 234). Dabei kommt dem Versicherer die Möglichkeit des Anscheinsbeweises nicht zugute, weil die grobe Fahrlässigkeit neben dem objektiv schwerwiegenden Verstoß gegen eine Sorgfaltspflicht auch voraussetzt, dass diese dem Versicherungsnehmer subjektiv besonders vorzuwerfen ist (sog. personale Seite der groben Fahrlässigkeit) und insoweit Erfahrungssätze nicht bestehen (BGH VersR 1967, 909 und seither ständig). Ihrer Beweislast ist die Beklagte nicht nachgekommen. Sie beruft sich in erster Linie auf das Ausmaß des objektiven Pflichtverstoßes und schließt daraus auch auf ein in subjaktiver Hinsicht erheblich gesteigertes Verschulden. Zutreffend ist, dass das Durchfahren einer Rotlicht zeigenden Signalanlage einen objektiv groben Pflichtverstoß darstellt. Das Überfahren einer Kreuzung birgt hohe Gefahren, insbesondere wenn sie durch rotes Ampellicht gesperrt ist, weshalb auch besonders hohe Anforderungen an den Verkehrsteilnehmer zu stellen sind (BGH VersR 1992, 1085, 1086). Der Kläger und ihm folgend das Landgericht hat allerdings dezidiert Umstände dargetan, die einen Rückschluss vom groben objektiven Pflichtverstoß auf eine subjektiv grobe Fahrlässigkeit verbieten. Insoweit wird auf das erstinstanzliche Urteil (Bl. 7; Bl. 63, 64 d.A.) Bezug genommen. Nach den oben dargestellten Grundsätzen der Beweislast hätte es nunmehr der Beklagten oblegen, Beweis dafür zu führen, dass die in dem ärztlichen Bericht vom 26.06.1998 aufgeführten Defizite entweder beim Beklagten nicht vorlagen oder jedenfalls für den Unfall nicht kausal geworden sind. Ein solcher Beweis ist nicht geführt worden.

Nach Auffassung des Senats liegen aber auch unabhängig von der ärztlicherseits attestierten Verarbeitungsstörung des Klägers keine Anhaltspunkte für den Rückschluss vom objektiv groben Pflichtverstoß auf ein auch in subjektiver Hinsicht erheblich gesteigertes Verschulden beim Kläger vor. Der Kläger hatte nämlich sein Fahrzeug vor der Ampel unstreitig bereits angehalten. In derartigen Situationen unterscheidet die Rechtsprechung zwei Fallgruppen: In typischen Rotlichtfällen, in denen ein Verkehrsteilnehmer über mehrere Sekunden hinweg unaufmerksam auf eine Rotlicht zeigende Ampel zufährt, mag der Rückschluss auf grobe Fahrlässigkeit in subjektiver Hinsicht auch dann gerechtfertigt sein, wenn ein sogenanntes Augenblicksversagen vorliegt. Diese Fallgruppe behandelt die häufig zitierte Entscheidung des BGH vom 08.07.1992 (VersR 1992, 1085). Die Klägerin war dort mit unverminderter Geschwindigkeit von 60 km/h - ohne vor der Ampel anzuhalten - trotz einer bereits längere Zeit Rotlicht zeigenden Lichtzeichenanlage in die Kreuzung eingefahren. Davon zu unterscheiden sind die Fälle, in denen zunächst das Rotlicht beachtet worden ist, der Fahrer aber dann trotz weiterhin Rotlicht zeigender Lichtzeichenanlage aufgrund eines neuen Entschlusses in die Kreuzung eingefahren ist. Ein solcher Autofahrer wollte sich rechtstreu verhalten, wie sein Beachten des Ampelsignals deutlich zeigt. Er handelt subjektiv nicht grob fahrlässig. In diesem Zusammenhang ist nämlich der Grundgedanke des § 61 VVG zu beachten, wonach der Versicherungsnehmer, der sich in Bezug auf das versicherte Interesse völlig sorglos oder sogar unlauter verhält, keine unverdiente Vergünstigung erhalten soll (BGH VersR 1989, 582, 583; OLG Jena, VersR 1997, 691, 692). Von einem Verstoß gegen diesen Grundgedanken kann bei der letztgenannten Fallgruppe nicht die Rede sein. Deshalb ist grobe Nachlässigkeit in der Rechtsprechung für solche Konstellationen auch durchgängig verneint worden (vgl. z.B. OLG Jena a.a.O.; OLG Hamm NJWRR 1991, 1131; OLG Schleswig, r+s 1992, 294; OLG Köln VersR 1984, 50). Wenn aber das Durchfahren einer Rotlicht zeigenden Ampel nach vorangegangenem Anhalten unter Bezugnahme auf den Grundgedanken des § 61 VVG nicht geeignet sein kann, einen subjektiv schwerwiegenden Verstoß zu begründen, so ist es an der beweisbelasteten Beklagten, diesen Beweis zu führen. Keinesfalls braucht sich der Kläger von vornherein vom Vorwurf der groben Fahrlässigkeit zu entlasten. Wiederlegt ist damit auch der Angriff der Berufung dergestalt, dass das Urteil des Erstgerichts widersprüchlich sei. Auch ohne die zur Entlastung des Klägers ins Feld geführte Verarbeitungsstörung ist sein Verhalten wegen des Anhaltens vor der Rotlicht zeigenden Ampel nicht als grob fahrlässig zu bewerten. Es sind - wie die oben zitierten Entscheidungen zeigen - unbewusste Fehlreaktionen, die einen solchen Fahrer zum Anfahren vor der noch immer Rotlicht zeigenden Ampel veranlassen. Sie verdienen das Verdikt "grobe Fahrlässigkeit" nicht (OLG Hamm a.a.O.). Nur durch eine solche Auslegung des § 61 VVG lässt sich dem Gedanken Rechnung tragen, dass die Kaskoversicherung nicht durch vorschnelle Annahme grober Fahrlässigkeit entwertet werden dürfe (Stiefel-Hofmann, Kraftfahrtversicherung, AKB-Kommentar, 17. Aufl., § 61 VVG Rdnr. 16 unter Bezugnahme auf die berechtigte Kritik von Haberstroh).

2. Ein erheblich gesteigertes Verschulden, wie es die grobe Fahrlässigkeit im Sinne des § 61 VVG voraussetzt, kann auch nicht darin erblickt werden, dass der Kläger trotz Kenntnis der ärztlich attestierten Impulsivitäts-Hyperaktivitäts-Verarbeitungsstörung die zum Unfall führende Fahrt angetreten hat. Der Senat geht mit dem Landgericht davon aus, dass in diesem Verhalten nicht einmal objektiv ein schwerer Pflichtverstoß zu erblicken ist. Das Gutachten vom 26.06.1998 führt nämlich aus, dass angenommen werden könne, der Kläger habe, bewusst oder unbewusst, im Laufe seines Lebens vielfältige Strategien der Signalverarbeitung entwickelt, um die mehr oder weniger erlebten Defizite auszugleichen, so dass diese nicht deutlich auffällig seien. Zusammen mit dem unstreitigen Umstand, dass beim Kläger 26 Jahre lang ähnliche Ausfallerscheinungen im Straßenverkehr nicht zu beobachten waren, kann es ihm schon objektiv nicht zum Vorwurf gereichen, dass er die zum Unfall führende Fahrt angetreten hat. Der Umstand, dass der Kläger das Gutachten aus dem Jahre 1998 erst nach dem Unfall vom 03.03.1999 im Rechtsstreit vorgelegt hat, zeigt, dass er den damals diagnostizierten Defiziten auch subjektiv keinerlei Bedeutung beigemessen hatte. Für den Senat nachvollziehbar ist es auch, dass nach einem zunächst nicht erklärbaren Augenblicksversagen, er sich Gedanken darüber gemacht hat, worin die Ursachen liegen könnten und deshalb das Gutachten erst dann für ihn Bedeutung erlangte. Schließlich ist zu beachten, dass ärztlicherseits ihm im Jahre 1998 nicht anempfohlen worden ist, auf das Autofahren zu verzichten, was angesichts des Inhalts des Gutachtens auch wenig Sinn gemacht hätte.

3. Der Senat hält auch die Ausführungen des Landgerichts dahingehend, dass die Voraussetzungen einer Mitteilungspflicht gemäß § 27 Abs. 2 VVG nicht vorliegen, für richtig. Auf die diesbezüglichen Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils (Urteil S. 10 ff.; Bl. 66 ff. d.A.) wird ausdrücklich Bezug genommen. Allerdings wären nach Auffassung des Senats diese Ausführungen ohnehin nicht im Rahmen des Berufungsverfahrens zu überprüfen, weil die Berufungsbegründung ihre Richtigkeit nicht in ordnungsgemäßer Weise gerügt hat. Die bloße Bezugnahme auf das gesamte erstinstanzliche Vorbringen, das in der Berufungsbegründung vom 18.06.2002 zum Gegenstand des Sachvortrages in zweiter Instanz gemacht worden ist, genügt den formalen Anforderungen an eine Berufungsbegründung auch nach dem bis zum 31.12.2001 geltenden Recht nicht. Gemäß § 519 Abs. 3 Nr. 2 ZPO hatte die Begründung danach die bestimmte Bezeichnung der im einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe) zu enthalten. Gerade die in der Berufungsbegründung gewählte Formulierung erfüllt diese Anforderungen nicht (BGH NJW 1990, 2628; WM 1993, 1735; Doukoff, Die zivilrechtliche Berufung, S. 86). Die Bezugnahme auf erstinstanzliches Vorbringen darf nur zur Erläuterung oder Ergänzung der Berufungsgründe erfolgen (BGHZ 35, 103, 106 f.; MünchKomm-Rimmelspacher, ZPO, 2. Aufl., § 519 Rdnr. 44). Dies ergibt sich schon daraus, dass in erstinstanzlichen Schriftsätzen keine konkreten Angriffe gegen das Urteil geführt sein können (MünchKomm-Rimmelspacher a.a.O.). Da Ausführungen in der Berufungsbegründung zur Leistungsfreiheit der Beklagten gemäß § 27 Abs. 2, 28 Abs. 1 VVG gänzlich fehlen, kann es sich bei der Bezugnahme nicht auf die nach obigen Ausführungen allein zulässige Erläuterung oder Ergänzung der Berufungsgründe handeln.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Entscheidung über die Beschwer ist § 546 Abs. 2 ZPO a.F. i.V.m. § 3 ZPO entnommen. Gemäß § 543 Abs. 2 ZPO n.F., 26 Nr. 7 EGZPO war über die Zulassung der Revision zu entscheiden. Die Zulassungsvbraussetzungen liegen nicht vor, weil die Rechtssache als Einzelfallentscheidung weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert. Die oben zitierte Entscheidung des BGH vom 08.07.1992 (VersR 1992, 1085) befasste sich insofern mit einem anderen Sachverhalt, als dort die Klägerin mit unverminderter, innerorts überhöhter Geschwindigkeit von 60 km/h - ohne vorher angehalten zu haben - in die Kreuzung eingefahren war.

Ende der Entscheidung

Zurück