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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Urteil verkündet am 19.11.2001
Aktenzeichen: 1 U 30/01
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 823
Zur Haftung eines niedergelassenen Arztes für den Sturz eines Patienten von einer Behandlungsliege
1 U 30/01

Verkündet am 19. November 2001

In dem Rechtsstreit

hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts ####### sowie die Richter am Oberlandesgericht ####### und ####### auf die mündliche Verhandlung vom 5. November 2001 für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das am 15. Mai 2001 verkündete Urteil der 5. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens werden der Klägerin auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 20.000 DM abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Den Parteien bleibt nachgelassen, die Sicherheit auch durch die Bürgschaft einer deutschen Großbank, Genossenschaftsbank oder öffentlichen Sparkasse zu leisten.

Wert der Beschwer für die Klägerin: 264.047,24 DM.

Tatbestand:

Die Klägerin macht als gesetzliche Krankenkasse Schadensersatzansprüche aus übergegangenem Recht nach einem Unfall der bei ihr versicherten Frau ####### in der Arztpraxis des Beklagten geltend. Aus der Anspruchsberechnung vom 24. November 1999 (Bl. 11 d. A.), die sich auf einen Gesamtbetrag von 264.047,24 DM beläuft, verfolgt sie im Wege der Leistungsklage die Positionen Krankenhauspflege (8.109,12 DM) sowie Fahrt- und Transportkosten (3.350,15 DM).

Am 12. März 1999 begab sich das Mitglied der Klägerin in die Praxisräume des Beklagten, bei dem sie sich seit Ende Februar 1998 wegen Herzproblemen in Behandlung befand. Den Arztbesuch hatte Frau ####### zuvor unter Angabe diffuser Beschwerden telefonisch angekündigt. Nachdem sie zur Praxis des Beklagten gefahren worden war, ging sie selbstständig die Treppe zu den im ersten Stock gelegenen Praxisräumen empor und erschien unbegleitet in der Praxis, wo sie akute Beschwerden im Oberbauch angab. Ohne Frau ####### selbst zu untersuchen, ordnete der Beklagte die Erstellung eines EKG an, welches von einer Sprechstundenhilfe erstellt wurde. Frau ####### begab sich zum Zweck der Untersuchung selbständig in das entsprechende Behandlungszimmer. Nach Erstellung des EKG sollte Frau ####### in diesem Behandlungszimmer auf einer Liege liegend bis zum Erscheinen des Beklagten verbleiben. Da sie der Sprechstundenhilfe gegenüber äußerte, dass sie sich infolge Übelkeit unter Umständen werde erbrechen müssen, ließ die Sprechstundenhilfe eine Spuckschale am Kopfende der Liege zurück und begab sich sodann - Frau ####### allein in dem Behandlungszimmer zurücklassend - zu dem Beklagten. Nachdem dieser die Unterlagen überprüft hatte, betrat er den EKG-Raum, wo er Frau ####### auf dem Boden liegend vorfand. Bei dem Sturz von der Liege zog sich Frau #######, die an den Hergang des Sturzes keinerlei Erinnerung mehr hat, eine Querschnittslähmung zu.

Die Klägerin hat behauptet, ihr Mitglied habe eine zunehmende Schwere und Dumpfheit gefühlt, nachdem die Sprechstundenhilfe den Raum verlassen habe. Sie sei jedoch nicht mehr in der Lage gewesen, um Hilfe zu rufen. Die nächste Wahrnehmung habe darin bestanden, dass eine Stimme mehrfach ihren Namen gerufen habe. Erst da habe sie bemerkt, dass sie sich auf dem Boden befunden habe. Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, bei entsprechender Aufsicht, zumindest der Anwesenheit einer Hilfskraft, wäre der Schaden vermieden worden.

Der Beklagte, der im Wege der Widerklage Feststellung begehrt, dass der Klägerin aus dem Unfall keinerlei Ersatzansprüche zustehen, hat die Auffassung vertreten, dass ihm ein Aufsichtsverschulden nicht zur Last falle. Er hat behauptet, Frau ####### sei entgegen der Anweisung der Sprechstundenhilfe aufgestanden und dabei hingefallen. Dies sei daraus zu folgern, dass die Füße der Verletzten in Richtung Kopfende gelegen hätten, als er den EKG-Raum betreten habe.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen und der Widerklage stattgegeben und dabei im Wesentlichen darauf abgestellt, dass es an einem Verschulden des Beklagten fehle, weil dieser nicht damit habe zu rechnen brauchen, dass Frau ####### von der Liege falle.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, die meint, der Beklagte sei verpflichtet gewesen, Frau ####### nach Ankunft in der Praxis zunächst persönlich zu untersuchen. Jedenfalls hätte ihr Mitglied nicht ohne Aufsicht in dem Behandlungsraum zurück bleiben dürfen oder es hätte eine auch durch einen benommenen Patienten nutzbare Notrufeinrichtung vorhanden sein müssen. Sie vertritt die Auffassung, dass ihr hinsichtlich des Organisationsverschuldens des Beklagten Beweiserleichterungen zugute kämen, die dazu führen würden, dass der Beklagte sich zu entlasten habe.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, an sie 11.459,27 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 17. September 1999 zu zahlen

und

die Widerklage abzuweisen

sowie

insgesamt Vollstreckungsnachlass gegen Sicherheitsleistung mit der Maßgabe zu gewähren, dass die Sicherheit auch durch die Bürgschaft einer deutschen Großbank, Genossenschaftsbank oder öffentlichen Sparkasse erbracht werden kann.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen

und

im Fall der Anordnung einer Maßnahme gemäß § 711 ZPO nachzulassen, Sicherheitsleistung auch durch die selbstschuldnerische Bürgschaft einer deutschen Großbank, öffentlichen Sparkasse oder Volksbank eG erbringen zu dürfen.

Er verteidigt die angefochtene Entscheidung und nimmt weiterhin jedes Verschulden an dem Unfall von Frau ####### in Abrede.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den vorgetragenen Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist unbegründet.

Das Landgericht hat aus weitgehend zutreffenden tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen festgestellt, dass der Klägerin aus übergegangenem Recht kein Anspruch gegen den Beklagten zusteht, weil es an einem eigenen Anspruch der versicherten Frau ####### gegen den Beklagten, der sich entweder aus PVV des Behandlungsvertrages oder aus §§ 823 ff. BGB ergeben könnte, fehlt. Es ist weder feststellbar noch von der Klägerin zu beweisen, dass der von der bei der Klägerin versicherten Frau ####### erlittene Unfall auf eine schuldhafte Handlung oder Unterlassung des Beklagten - oder eine solche seiner Sprechstundenhilfe, die er sich zurechnen lassen müsste - zurückzuführen ist.

Entgegen der Auffassung der Berufung kann dem Beklagten im Streitfall insoweit kein Verschulden zum Vorwurf gemacht werden, als er Frau ####### nicht zunächst persönlich untersucht hat. Denn es ist nicht ersichtlich und auch nicht vorgetragen, dass im Rahmen einer solchen Untersuchung Erkenntnisse zu gewinnen gewesen wären, die die spätere Anordnung eines EKG und das Alleinlassen der Patientin im dortigen Behandlungsraum auf der Liege und damit letztlich den Unfall verhindert hätten. Der Unfall selbst ist durch die unterbliebene Untersuchung weder hervorgerufen noch gefördert worden.

Ob eine vom Patienten selbst zu bedienende Rufeinrichtung - wie dies die Klägerin meint - für Fälle der vorliegenden Art vorzuhalten ist, kann im Ergebnis offen bleiben, obwohl der Senat dazu neigt, diese Frage zu verneinen. Bereits nach dem eigenen Vortrag der Klägerin ist nämlich auszuschließen, dass das Nichtvorhandensein der Vorrichtung den Unfall begünstigt bzw. das Vorhandensein einer solchen Rufeinrichtung den Unfall verhindert hätte. Die Benommenheit von Frau ####### soll so stark gewesen sein, dass diese keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte und (so ausdrücklich die Berufungsbegründung) sie auch nicht mehr in der Lage war, um Hilfe zu rufen. Auf der Grundlage dieser Schilderung ist nicht erkennbar, dass Frau ####### eine etwa vorhandene Rufvorrichtung noch hätte betätigen können und dass nach Betätigen dieser Vorrichtung rechtzeitig Personen in den Behandlungsraum gekommen wären, um den Sturz von der Liege zu verhindern.

Schließlich ist es dem Beklagten auch nicht anzulasten, dass Frau ####### nach Erstellung des EKG allein im Behandlungszimmer auf der Liege zurück gelassen worden ist. Denn in der konkreten Situation bestand kein Anlass für die Befürchtung, die Patientin werde - etwa durch unkontrollierte, von ihr nicht selbst beherrschbare Bewegungen - von der Liege stürzen und sich dabei verletzen können. Zwar hatte Frau ####### der Sprechstundenhilfe gegenüber geäußert, dass sie sich möglicherweise werde übergeben müssen. Dies rechtfertigt aber nicht die Annahme, Frau ####### hätte einer besonderen Aufsicht oder Betreuung bedurft und keinesfalls allein im Raum zurückgelassen werden dürfen. Außer der geäußerten (aufkommenden) Übelkeit lagen keine objektiv erkennbaren oder von Frau ####### geäußerten Anzeichen dafür vor, die Patientin bedürfe der besonderen Aufsicht und gefährde sich gegebenenfalls selbst. Frau ####### hat ihren Arztbesuch selbst angekündigt und ist allein in die im ersten Stock gelegenen Praxisräume des Beklagten gekommen. Sie hat ferner dort ihre Beschwerden bekundet und sodann selbständig den EKG-Raum betreten und dort unter Aufsicht der Sprechstundenhilfe das EKG erstellen lassen. In dieser Situation durften sowohl der Beklagte als auch seine Sprechstundenhilfe darauf vertrauen, dass Frau ####### sich auf der Liege in einer für sie sicheren Position befand. Wollte man in einer solchen Situation gleichwohl eine Aufsichts- oder Überwachungspflicht annehmen, würde man das Maß des Zumutbaren überschreiten und für den Bereich einer Arztpraxis höhere Sicherheitsanforderungen aufstellen, als sie etwa in Alten- und Pflegeheimen oder in Krankenhäusern bestehen. Denn selbst dort werden die Patienten, die sich im Bett befinden, nur dann besonders beaufsichtigt oder überwacht, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Gefahrensituation bestehen. Insoweit ist der Sachverhalt auch nicht mit den von der Klägerin angezogenen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vom 18. Dezember 1999 und vom 25. Juni 1991 vergleichbar. In der Entscheidung 6 ZR 1969/90 ist der Geschädigte zu Sturz gekommen, während eine Pflegeperson versucht hat, ihn vom Nachtstuhl zu heben und auf die Bettkante zu setzen. Wie es zum Sturz kam, blieb unklar. Hier mag sich die Beweislastumkehr und damit letztlich die Haftung der Behandlerseite daraus rechtfertigen, dass die Pflegeperson unmittelbar in das Geschehen eingegriffen hatte und an diesem aktiv beteiligt war. An einer derartigen Situation fehlt es aber in zur Entscheidung stehenden Fall. Die Entscheidung 6 ZR 320/90 befasst sich mit einem Sachverhalt, in dem ein Patient nach dem Duschen auf einem kippeligen Duschstuhl unbeaufsichtigt zurückgelassen wurde und ein Handtuch annähernd in Griffweite bereit lag. Hier ist die Pflichtverletzung darin zu sehen, dass trotz der nahe liegenden und sich aufdrängenden Möglichkeit, der Patient werde nach dem Handtuch greifen (und dann aus dem Gleichgewicht geraten und stürzen) der Patient nicht über die Sturzgefahr aufgeklärt worden ist. Auch dieser Fall ist aber mit dem hier zur Entscheidung stehenden Fall nicht vergleichbar, weil die verunglückte Frau ####### schlicht auf der Liege warten sollte und daher keinerlei Veranlassung oder Anreiz für Frau ####### bestand, sich selbst aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Im Übrigen ist für einen Rückgriff auf die Regeln über Beweiserleichterungen oder die Beweislastumkehr vorliegend schon deshalb kein Raum, weil der entscheidungsrelevante Sachverhalt zwischen den Parteien unstreitig ist.

Der Unfall der bei der Klägerin versicherten Frau ####### war daher für den Beklagten in der konkreten Situation nicht vorhersehbar, ein Verschuldensvorwurf tritt ihn nicht.

Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97 Abs. 1; 708 Nr. 10, 711; 546 Abs. 2 ZPO.

Ende der Entscheidung

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