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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Urteil verkündet am 09.07.2001
Aktenzeichen: 1 U 64/00
Rechtsgebiete: BGB, pVV


Vorschriften:

BGB § 823
pVV
Voraussetzungen und Umfang eines Schadensersatzanspruches wegen falscher Prostatakrebs-Diagnose und anschließender radikaler Prostatektomie
Oberlandesgericht Celle Im Namen des Volkes Urteil

1 U 64/00

Verkündet am 9. Juli 2001

In dem Rechtsstreit

pp.

hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts #### sowie die Richter am Oberlandesgericht #### und #### auf die mündliche Verhandlung vom 2. Juli 2001 für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das am 12. Oktober 2000 verkündete Urteil der 19. Zivilkammer des Landgerichts Hannover wird zurückgewiesen.

Auf die Berufung des Klägers wird das am 12. Oktober 2000 verkündete Urteil der 19. Zivilkammer des Landgerichts Hannover teilweise geändert.

Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 100.000 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 17. September 1999 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger jeglichen weiteren materiellen und immateriellen Schaden, der durch die fehlerhafte Diagnose im August 1998 verursacht worden ist, zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.

Von den Gerichtskosten und den außergerichtlichen Kosten des Klägers der ersten Instanz tragen der Kläger 10 % und der Beklagte 90 %. Seine außergerichtlichen Kosten der ersten Instanz trägt der Beklagte selbst.

Die Kosten des Berufungsverfahrens werden dem Beklagten auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 130.000 DM abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Beiden Parteien bleibt nachgelassen, die Sicherheit auch durch die unwiderrufliche, unbefristete, selbstschuldnerische und schriftliche Bürgschaft einer Bank, die einem anerkannten Einlagensicherungsfonds angehört, oder einer öffentlichen Sparkasse zu leisten.

Wert der Beschwer für den Beklagten: 110.000 DM.

Tatbestand:

Der Kläger macht gegen den Beklagten Schadensersatzansprüche mit der Behauptung geltend, dieser habe eine fehlerhafte Krebsdiagnose gestellt.

Der Kläger ließ sich am 28. Mai 1998 routinemäßig im Klinikum ####, #### untersuchen. Dabei wurde das prostataspezifische Antigen (PSA) mit einem Wert von 5,8 ng/ml festgestellt. Am 13. Juli 1998 wurde eine Überprüfung des PSA-Wertes durch den Chefarzt der Urologischen Klinik #### durchgeführt, wobei sich ein Wert von 5,2 ng/ml ergab. Daraufhin ließ der Kläger eine transrectale Sextantenbiopsie der Prostata vornehmen. Die histopathologische Analyse dieser Sextantenbiopsien wurde im Institut für Pathologie des Krankenhauses ####, ####, von dem Beklagten durchgeführt. In seinem pathologischen Gutachten vom 7. August 1998 führte der Beklagte aus:

Rechts: I - III hellzelliges Adenocarcinom der Prostata in hoher Differenzierung (Gleason Score 3 + 3 = 6) in allen drei Entnahmen.

Nach Eingang des Befundes wurde dem Kläger seitens der konsultierten Urologen empfohlen, eine radikale Prostatektomie durchführen zu lassen. Die Operation wurde am 27. August 1998 in der Universitätsklinik in #### vorgenommen. Die dabei entnommene Prostata wurde zur pathologischen Untersuchung in das #### gesandt. Das Gewebe wurde in 116 Schnittpräparaten untersucht, ohne dass ein Carcinom nachgewiesen werden konnte. Auch in den daraufhin von dem Beklagten an vorgenanntes Institut übersandten Schnittpräparaten ließ sich ein Carcinom nicht nachweisen, vielmehr wurden eine Prostatahyperplasie mit fokaler chronischer Prostatitis beiderseits und eine umschriebene atypische adenomatöse Hyperplasie rechts festgestellt.

Der Kläger, der infolge der Operation unter Inkontinenz, Ejakulations- und Erektionsunfähigkeit leidet, hat mit der Behauptung, der Beklagte habe eine Fehldiagnose gestellt, ohne die er, der Kläger, sich der folgenreichen Prostatektomie nie unterzogen hätte, ein angemessenes Schmerzensgeld, mindestens 100.000 DM, sowie Feststellung der Ersatzpflicht hinsichtlich etwaiger Zukunftsschäden begehrt.

Der Beklagte hat behauptet, dass die von ihm festgestellten Veränderungen des Gewebes grenzwertig zu dem Vorliegen eines Carcinoms einzuordnen seien. Da die immunhistologische Reaktion ein Ergebnis gezeigt habe, das dem bei Vorliegen eines Carcinoms entspreche, habe er in Kenntnis der Tragweite seiner Beurteilung die Krebsdiagnose erstellt. Diese sei nicht schuldhaft fehlerhaft gewesen, vielmehr sei er von der Richtigkeit überzeugt gewesen.

Das Landgericht hat gemäß Beweisbeschluss vom 18. November 1999 (Bl. 54 d. A.) Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Auf das Gutachten des Sachverständigen #### vom 14. Februar 2000 wird verwiesen. Auf der Grundlage des Gutachtens hat das Landgericht dem Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe von 70.000 DM zuerkannt sowie seinem Feststellungsanspruch stattgegeben.

Mit seiner Berufung begehrt der Kläger unter Hinweis auf die schweren Folgen der Operation sowie unter Hinweis auf das Verhalten des Beklagten bei der Schadensabwicklung ein Schmerzensgeld von mindestens 100.000 DM.

Er beantragt,

unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils den Beklagten zu verurteilen, ihm über bereits ausgeurteilte 70.000 DM hinaus ein weiteres angemessenes Schmerzensgeld nebst 4 % Zinsen seit dem 17. September 1999 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Er ist weiterhin der Auffassung, dass ihm ein schuldhaftes Fehlverhalten nicht vorzuwerfen sei.

Mit seiner selbstständigen Berufung beantragt er,

das Urteil des Landgerichts Hannover aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den vorgetragenen Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist unbegründet, während auf die Berufung des Klägers das angefochtene Urteil teilweise abzuändern und dem Kläger ein höheres Schmerzensgeld zuzuerkennen ist.

1. Die Berufung des Beklagten ist unbegründet.

Zutreffend hat das Landgericht festgestellt, dass der Beklagte gemäß §§ 823 Abs. 1, 847 BGB auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes haftet sowie aus dem Gesichtspunkt der positiven Forderungsverletzung und gemäß § 823 Abs. 1 BGB zum Ersatz etwa dem Kläger in der Zukunft noch entstehender weiterer Schäden verpflichtet ist.

Mit dem Gutachten des Sachverständigen #### vom 14. Februar 2000 steht fest, dass die von dem Beklagten gestellte Diagnose eines Drüsencarcinoms der Prostata fehlerhaft gewesen ist. Der Sachverständige hat eine histologische Nachbegutachtung des Prostatastanzmaterials vorgenommen und festgestellt, dass sich ein Übergang in ein Carcinom an diesem Material auch mit Hilfe der Immunhistochemie nicht nachweisen lasse. Auch in den Präparaten der radikalen Prostatektomie sind nach den Feststellungen des Sachverständigen keine Veränderungen im Sinne eines invasiven krebsigen Wachstums feststellbar. Lediglich kleine Herde einer kleindrüsigen atypischen Läsion (sogenannte ASAP: atypical small acinar proliferation) ließen sich nachweisen. Damit ist der Sachverständige zum gleichen Ergebnis gelangt wie das #### bei seinen Untersuchungen der Präparate (vgl. hierzu die Berichte vom 7. Oktober 1998 und vom 30. November 1999). Gleichwohl hat der Beklagte die eindeutige Diagnose 'Prostatakrebs' gestellt.

Hierin ist entgegen der Auffassung des Beklagten auch ein schuldhafter Diagnoseirrtum und damit ein Behandlungsfehler zu bejahen. Zwar ist bei der Einordnung von Diagnoseirrtümern als Behandlungsfehler grundsätzlich Zurückhaltung zu üben (grundlegend BGH VersR 1981, 1033), weil Irrtümer in der Diagnosestellung in der Praxis häufig vorkommen. Denn die Symptome einer Erkrankung sind nicht immer eindeutig und können auf die verschiedensten Ursachen hinweisen. Allerdings ist dem Arzt ein Schuldvorwurf dann zu machen, wenn er wesentliche und elementare Kontrolluntersuchungen unterlassen hat, die in der konkreten Situation nach gesicherter medizinischer Erfahrung vorgenommen werden mussten, sich insbesondere das diagnostische Vorgehen für einen gewissenhaften Arzt als nicht mehr vertretbar darstellt (Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 8. Auflage, Rn. 155 a).

Der Sachverständige #### hat darauf hingewiesen, dass der von dem Beklagten aufgezeichnete Befund in jedem Fall kontrollbedürftig gewesen ist. Gerade weil - wie dies der Sachverständige mehrfach in seinem Gutachten ausgeführt hat - Veränderungen in der Prostata außerordentlich schwer zu beurteilen sind und hier häufig Missinterpretationen möglich sind, musste - auch hierauf hat der Sachverständige hingewiesen - sich ein gewissenhafter Pathologe bei Vorliegen eines dem Krankheitsbild des Klägers entsprechenden Befundes an ein Referenzzentrum wenden, um den Krebsverdacht überprüfen zu lassen. Dies gilt umso mehr, als der Sachverständige auch darauf hingewiesen hat, dass der erhöhte PSA-Wert seine Ursache nicht nur in einem Carcinom haben kann, sondern auch durch eine - beim Kläger vorliegende - chronische Prostatitis sowie ferner bei - beim Kläger gleichfalls vorhandenen - atypischen kleindrüsigen Proliferationen (ASAP) auftreten kann. In einer derartigen Situation entspricht es einem ordnungsgemäßen und verantwortungsbewussten ärztlichen Handeln, eine Kontrollbefundung einzuholen oder aber - wenn ein derartiger Kontrollbefund nicht eingeholt wird - den Patienten auf die mit der Diagnose verbundene Unsicherheit hinzuweisen. Denn für den Beklagten als erfahrenen Pathologen musste klar sein und war auch klar, dass der von ihm gestellte Befund den Kläger nach Rücksprache mit den behandelnden Urologen, die ihre Behandlungsvorschläge auf der Grundlage der gestellten Diagnose 'ProstataCarcinom' aufgebaut haben, zu einer radikalen Prostatektomie führen würde. Die Schwere dieses Eingriffs und die für den Kläger hiermit verbundenen Risiken, die sich im vorliegenden Fall zu Lasten des Klägers verwirklicht haben, erforderten eine besonders sorgfältige Diagnose. Diesen Sorgfaltsmaßstab hat der Beklagte vorliegend missachtet.

Der Senat sieht keine Veranlassung, die vom Landgericht trotz des vom Beklagten dort gestellten Antrags verfahrensfehlerhaft unterlassene Anhörung des Sachverständigen #### nachzuholen. Der Verfahrensfehler ist vom Beklagten weder gerügt worden, § 295 ZPO, noch ist aufgezeigt, dass das Gutachten von fehlerhaften Tatsachengrundlagen ausgeht oder zu unzutreffenden Schlussfolgerungen gelangt.

Entbehrlich ist die Anhörung des Sachverständigen aber vor allem auch deshalb, weil der Beklagte selbst zugesteht, dass seine Diagnose nicht zweifelsfrei war. Denn er hat ausdrücklich vorgetragen, dass ein anderer Pathologe auf der Grundlage des vorliegenden Befundmaterials gegebenenfalls die von ihm, dem Beklagten, gestellte Diagnose 'Carcinom' nicht getroffen, sondern entweder eine negative oder allenfalls eine Verdachtsdiagnose im Hinblick auf eine Krebserkrankung gestellt hätte. Dann aber musste der Beklagte bei Beachtung der erforderlichen Sorgfalt zumindest auf die bei der Diagnose bestehende Unsicherheit hinweisen.

Da sich der Beklagte auch zu Unrecht gegen die Höhe des vom Landgericht zuerkannten Schmerzensgeldes wendet (siehe hierzu sogleich 2.), muss seinem Rechtsmittel der Erfolg versagt bleiben.

2. Hingegen ist die Berufung des Klägers begründet.

Der Senat ist der Auffassung, dass die Beeinträchtigungen, die der Kläger als Folge der fehlerhaften Diagnose erlitten hat, ein Schmerzensgeld in Höhe von 100.000 DM rechtfertigen; demgemäß ist auf die Berufung des Klägers das vom Landgericht zuerkannte Schmerzensgeld entsprechend zu erhöhen.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich der Kläger nicht nur - völlig unnötig - einem schweren operativen Eingriff mit allen damit verbundenen Beeinträchtigungen unterziehen musste, sondern auch - ebenfalls ohne tatsächlichen Hintergrund - der psychischen Ausnahmesituation, die mit der Eröffnung einer Krebsdiagnose verbunden ist, ausgesetzt war. Gravierender aber sind die durch die unnötige Operation bedingten und mit der ärztlichen Bescheinigung des #### vom 19. Juni 2000 auch belegten Folgen der Operation für den Kläger: Er leidet nicht nur an einer Harninkontinenz, die ihn sowohl in der beruflichen als auch in der privaten Lebensführung erheblich beeinträchtigt, sondern auch an Erektions- und Ejakulationsunfähigkeit, mithin am völligen Verlust der sexuellen Aktivität. Dies ist auch unter Berücksichtigung des Lebensalters des Klägers eine essenzielle Einbuße an Lebensqualität, die - entgegen den Ausführungen des Landgerichts - auch nicht dadurch relativiert werden kann, dass üblicherweise in diesem Lebensabschnitt die Familienplanung (was immer das Landgericht hierunter verstanden haben mag) abgeschlossen ist. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Ehefrau des Klägers verstorben ist und die durch den unnötigen Eingriff hervorgerufenen Gesundheitsschäden den Kläger nachhaltig bei der Suche einer neuen Lebensgefährten beeinträchtigen.

Auch unter Berücksichtigung vergleichbarer Fälle (vgl. etwa Hacks/Ring, Schmerzensgeldbeträge, 19. Auflage, Rn. 2066, 2076, 2173), an denen sich der Senat im Interesse der Rechtssicherheit zu orientieren hat, sowie unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Beklagte bei doch eindeutiger Haftungsgrundlage die gebotene Entschädigung des Klägers vollständig verzögert hat - statt zumindest eine Teilregulierung durch Leistung eines Abschlages zu veranlassen -, ist daher ein Schmerzensgeld in Höhe von 100.000 DM angemessen und sachgerecht, um einen Ausgleich für die erlittenen Beeinträchtigungen zu bieten.

3. Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1, 269 Abs.3 ; 97 Abs. 1; 708 Nr. 10, 711; 546 Abs. 2 ZPO.

Ende der Entscheidung

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