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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Beschluss verkündet am 15.05.2003
Aktenzeichen: 1 Ws 167/03
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 309 Abs. 2
StPO § 454 Abs. 2
Erwägt die Strafvollstreckungskammer, die Vollstreckung eines Strafrestes trotz eines entgegenstehenden schriftlichen Prognosegutachtens zur Bewährung auszusetzen, ist die mündliche Anhörung des Sachverständigen unabhängig von einem etwaigen Verzicht der Verfahrensbeteiligten unentbehrlich.

Unterbleibt die gebotene mündliche Anhörung des Sachverständigen, stellt dies einen durch das Beschwerdegericht nicht heilbaren Verfahrensmangel dar, der zur Zurückverweisung an das Gericht der ersten Instanz zwingt.


Oberlandesgericht Celle

1 Ws 167/03 72 StVK 6/03 LG Landgericht ####### 111 Js 12506/99 VRs StA #######

Beschluss

In der Strafvollstreckungssache

wegen schwerer räuberischer Erpressung

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft durch die Richter am Oberlandesgericht ####### und ####### und die Richterin am Oberlandesgericht ####### am 15. Mai 2003 beschlossen:

Tenor:

Der Beschluss der Strafvollstreckungskammer 2 des Landgerichts ####### vom 8. April 2003 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens - an die Strafvollstreckungskammer 2 des Landgerichts ####### zurückverwiesen.

Gründe:

I.

Das Landgericht ####### hat den Verurteilten am 8. März 2000 wegen gemeinschaftlicher schwerer räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Vollstreckung dieser Strafe ist nach Verbüßung von zwei Dritteln am 3. März 2003 zur Verbüßung einer zunächst zur Bewährung ausgesetzten, nunmehr widerrufenen Reststrafe aus dem Urteil des Landgerichts ####### vom 20. Oktober 1995 unterbrochen worden, das den Verurteilten u.a. wegen Betruges, Erpressung, vorsätzlicher Körperverletzung und unerlaubten Waffenbesitzes mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren belegt hatte.

Die Kammer hat die Vollstreckung beider (Rest-)Freiheitsstrafen nach Einholung eines schriftlichen psychiatrisch-forensischen Prognosegutachtens und der persönlichen Anhörung des Verurteilten am 8. April 2003 zur Bewährung ausgesetzt. Der Sachverständige, der sich wie die Vollzugsanstalt und die Staatsanwaltschaft gegen eine vorzeitige Entlassung ausgesprochen hatte, ist nicht mündlich gehört worden. Die Staatsanwaltschaft hatte auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen verzichtet; der Verurteilte, dem das schriftliche Gutachten zur Kenntnis gebracht worden ist, hat sich schriftlich dazu geäußert.

Gegen den ihr in dieser Sache am 16. April 2003 zugegangenen Beschluss hat die Staatsanwaltschaft ####### am selben Tage sofortige Beschwerde eingelegt.

II.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig und begründet.

1. Der Beschluss ist bereits in formeller Hinsicht rechtsfehlerhaft. Es liegt ein Verfahrensmangel vor.

Der Sachverständige, der ein vom Gericht nach § 454 Abs. 2 StPO eingeholtes Gutachten zur Frage der fortbestehenden Gefährlichkeit eines Täters erstattet, ist grundsätzlich mündlich zu hören, wobei der Staatsanwaltschaft, dem Verurteilten, seinem Verteidiger und der Vollzugsanstalt Gelegenheit zur Mitwirkung zu geben ist, § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO. Von diesem Grundsatz kann das Gericht nur abweichen, wenn der Verurteilte, der Verteidiger und die Staatsanwaltschaft auf die mündliche Anhörung verzichten, § 454 Abs. 2 Satz 7 StPO.

Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor:

Der - anwaltlich nicht vertretene - Verurteilte hat keinen ausdrücklichen Verzicht auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen erklärt. Auch lassen weder seine schriftlichen Äußerungen nach der Bekanntgabe des für ihn nachteiligen Gutachtens noch seine Angaben in der mündlichen Anhörung auf einen konkludent erklärten Verzicht schließen.

Ein Verzicht auf die mündliche Anhörung des Sachverständigen war hier auch nicht etwa entbehrlich, weil die Kammer zugunsten des Verurteilten eine positive Sozialprognose angenommen und die Aussetzung des Strafrestes beschlossen hat.

Erwägt die Kammer, die Vollstreckung eines Strafrestes trotz eines entgegenstehenden schriftlichen Gutachtens zur Bewährung auszusetzen, ist die nach § 454 Abs. 2 Satz 3 StPO (ohnehin obligatorische) mündliche Anhörung des Sachverständigen nach Auffassung des Senats unabhängig von einem etwaigen Verzicht der Verfahrensbeteiligten regelmäßig unverzichtbar. Die mündliche Erörterung des Gutachtens ist in diesem Fall zur umfassenden Sachaufklärung, zur Wahrung der Mitwirkungsrechte der Verfahrensbeteiligten und zur Vermeidung von Überraschungsentscheidungen erforderlich und geboten (vgl. KK-Fischer, StPO, 4. Aufl. § 454 Rdn. 29 a.E: Absehen von der mündlichen Anhörung nur bei eindeutig positiver Prognose). Dies gilt insbesondere auch unter Berücksichtigung der Absicht des Gesetzgebers: Die Einholung des Sachverständigengutachtens soll helfen, durch die Verbreiterung der Erkenntnisgrundlage gerichtliche Fehleinschätzungen zu vermeiden und so die Gesellschaft vor besonders gefährlichen Straftätern zu schützen (dazu KK-Fischer aaO § 454 Rdn. 2 m.w.N.). Will das Gericht bei der negativen Prognosebewertung oder der Feststellung von Anknüpfungstatsachen vom Gutachten abweichen, bedarf dies mithin eingehender Erörterung.

2. In materieller Hinsicht können die im Beschluss zur Begründung der positiven Sozialprognose im Sinne des § 57 Abs. 2 StGB ausgeführten Umstände, die sich zum überwiegenden Teil als nicht weiter belegte Hoffnungen und Vermutungen darstellen, jedenfalls auf der Grundlage der derzeitigen gutachterlichen Ausführungen angesichts der Tatumstände, der kriminellen Entwicklung, des Vollzugsverhaltens und der Persönlichkeit des Verurteilten im übrigen auch im Ergebnis nicht überzeugen.

Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben, § 309 Abs. 1 StPO.

III.

Der Senat verweist die Sache an die Strafvollstreckungskammer zur erneuten Entscheidung zurück, weil er sich aufgrund des Verfahrensmangels an einer eigenen Sachentscheidung nach § 309 Abs. 2 StPO gehindert sieht.

Dabei geht auch der Senat davon aus, dass eine Zurückweisung der Sache an das untere Gericht nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig ist (BGH NJW 1964, 2119; Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl., § 309 Rdn. 7 m.w.N.). Sie kommt aber in Betracht, wenn - wie hier - ein Verfahrensmangel vorliegt, den das Beschwerdegericht nicht beheben kann, wie das Unterlassen einer zwingend vorgeschriebenen mündlichen Anhörung (vgl. BayObLG NJW 1954, 204; Meyer-Goßner aaO Rdn. 8 m.w.N.).

Die zu dieser Frage im Zusammenhang mit einer Aussetzung von Strafresten ergangene Rechtssprechung bezieht sich zwar ganz überwiegend auf die unterbliebene mündliche Anhörung des Verurteilten (BGH NStZ 1995, 610; Düsseldorf NStZ 93, 406; Meyer-Goßner, ebenda § 454 Rdn. 47), nach Auffassung des Senats ist aber bei unterbliebener Anhörung des Sachverständigen in gleicher Weise zu verfahren (s.a. KG NStZ 1999, 320). Die gesetzlich geregelten Teilnahme- und Mitwirkungsrechte des Verurteilten und der weiteren Verfahrensbeteiligten sollen dazu dienen, das Sachverständigengutachten eingehend zu diskutieren und zu hinterfragen, und stellen sich damit als Ausprägung des rechtsstaatlich garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör dar (dazu OLG Zweibrücken ZfStrVo 2002, 50), der auch im Beschwerdeverfahren zu gewährleisten ist.

Ende der Entscheidung

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