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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Urteil verkündet am 16.05.2002
Aktenzeichen: 11 U 221/01
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB §§ 651 f. Abs. 1
BGB § 651 g
BGB § 249
1. Der Reiseveranstalter haftet dem Reisenden, dem er wegen Überbuchung der Maschine den vertraglich geschuldeten Rückflug nicht gewähren kann, für den bei einem Sturz erlittenen Schaden, den der Reisende aus ungeklärter Ursache beim Durchqueren des Flughafens mit Gepäck unter Führung eines Mitarbeiters der Fluggesellschaft bei dem Versuch erleidet, eine andere startbereite Maschine noch zu erreichen, mit der er noch am gleichen Tage in die Nähe des vertraglichen Zielflughafens gelangen kann.

2. Die Beschaffung eines Ersatzfluges für den überbuchten Flug stellt eine Maßnahme der Beseitigung eines Reisemangels dar, während derer der Veranstalter ähnlich den sog. "Herausforderungsfällen" für Schäden, die der Reisende erleidet haftet, wenn nicht der Reisende seinerseits ungewöhnlich (überzogen/unangemessen) auf das Haftungsereignis reagiert.

3. Auf die Frage, ob der Reiseveranstalter in seinen AGB wirksam eine Geltendmachung von Ansprüchen gegenüber dem Reisebüro ausgeschlossen hat, kommt es nicht an, wenn die beim Reisebüro geltend gemachten Ansprüche jedenfalls innerhalb der Monatsfrist des § 651 g BGB beim Veranstalter eingegangen sind.


Oberlandesgericht Celle Im Namen des Volkes Grund- und Teilurteil

11 U 221/01

Verkündet am 16. Mai 2002

In dem Rechtsstreit

hat der 11. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die mündliche Verhandlung vom 2. Mai 2002 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht #######, die Richterin am Oberlandesgericht ####### und den Richter am Oberlandesgericht ####### für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil der 7. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 6. Juni 2001 teilweise abgeändert und - soweit der Rechtsstreit zur Entscheidung reif ist - wie folgt neu gefasst:

Es wird festgestellt, dass die Beklagte dem Grunde nach verpflichtet ist, der Klägerin alle materiellen Schäden zu ersetzen, die ihr aus der Verletzung entstehen, welche sie sich am 29. Juli 2000 zwischen 17:30 Uhr und 18:00 Uhr in Gran Canaria (Las Palmas) durch einen Sturz am rechten Knie erlitten hat.

Soweit das Landgericht die Klage in dem Umfange abgewiesen hat, in dem die Klägerin Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes und Ersatz immaterieller Schäden begehrt, wird die Berufung der Klägerin zurückgewiesen.

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.

Die Beschwer der Klägerin erreicht nicht 20.000 €;

die Beschwer der Beklagten übersteigt 20.000 €.

Gründe:

I.

Die Parteien streiten um die Ersatzpflicht der Beklagten aufgrund eines Sturzes, den die Klägerin im Rahmen der Rückreise eines bei der Beklagten gebuchten Pauschalurlaubes erlitten hat.

Wegen der Darstellung des Sach- und Streitstandes erster Instanz wird auf das landgerichtliche Urteil Bezug genommen.

Das Landgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Klägerin habe nicht dargetan, dass sich im Schadensgeschehen etwas anderes als ihr allgemeines Lebensrisiko verwirklicht habe. Das Schadensgeschehen liege außerhalb der wahrscheinlichen Folgen, mit denen die Beklagte habe rechnen müssen.

Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung, mit der sie weiter meint, die Beklagte hafte für das Unfallgeschehen auf dem Flughafen von Gran Canaria, weil sie zuvor vertragswidrig die Klägerin nicht mit dem geschuldeten Flug nach #######/####### transportiert habe.

Der Höhe nach macht die Klägerin ein Schmerzensgeld geltend, das sie auf 5.000 DM annimmt, sowie materiellen Schadensersatz, den sie begehrt, weil sie eine Haushaltshilfe hätte in Anspruch nehmen können. Im Laufe des Berufungsverfahrens verlor die Klägerin, die vor dem Unfall als Altenpflegerin tätig gewesen ist, ihren Arbeitsplatz durch Kündigung des Arbeitgebers wegen Krankheit.

Die Klägerin beantragt,

nach ihren Schlussanträgen erster Instanz zu erkennen, wie sie auf Bl. 3 des landgerichtlichen Urteils wiedergegeben seien.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt sich damit, dass sich bei der Klägerin nur das allgemeine Lebensrisiko verwirklicht habe. Die Klägerin trage nichts dazu vor, wie es zu dem Unfallgeschehen habe kommen können. Das bloße Bemerken, sie sei ausgerutscht, lege keinesfalls dar, dass und warum die Beklagte für dieses Geschehen einzustehen habe.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen Bezug genommen.

II.

Der Rechtsstreit ist nur teilweise entscheidungsreif. Im Umfang der Entscheidungsreife bleibt die Berufung ohne Erfolg, soweit die Klägerin mit der Klage Schmerzensgeld für bereits erlittene immaterielle Schäden begehrt und die Feststellung erreichen möchte, dass die Beklagte ihr zum Ersatz künftiger immaterieller Schäden verpflichtet sei.

Soweit das Landgericht jedoch dem Grunde nach die Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz der materiellen Schäden, die die Klägerin aufgrund des Unfallgeschehens auf dem Flughafen von Gran Canaria erlitten hat und erleiden wird, verneint hat, hat die Berufung Erfolg. Insoweit vermochte der Senat die Einstandspflicht der Beklagten dem Grunde nach festzustellen.

Im Übrigen - soweit die Klägerin teils beziffert, teils im Wege der Feststellung Ersatz der ihr entstandenen materiellen Schäden verlangt - ist die Sache noch nicht entscheidungsreif. Insbesondere zum Umfang der von der Klägerin erlittenen Schäden besteht vor dem Hintergrund des erst nach Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens eingetretenen Arbeitsplatzverlustes und zum Umfang des Körperschadens weiterer Aufklärungsbedarf.

1. Die Klage ist unbegründet, soweit die Klägerin von der Beklagten die Zahlung eines Schmerzensgeldes und die Feststellung der Ersatzpflicht künftiger immaterieller Schäden begehrt. Voraussetzung eines solchen Schmerzensgeldes wäre ein deliktischer Anspruch gemäß § 823 ff. BGB, der der Klägerin zustehen müsste; nur in diesem Fall könnte sie gemäß § 847 BGB Schmerzensgeld beanspruchen.

Für eine deliktische Schädigung der Klägerin durch die Beklagte selbst bzw. deren Mitarbeiter, trägt diese nichts vor. Kein Angestellter oder Verrichtungsgehilfe der Beklagten war mit der Beseitigung des Überbuchungsproblems befasst.

Auch ein eigenes Organisations- oder Überwachungsverschulden traf die Beklagte insoweit nicht. Die Klägerin trägt nichts dafür vor, dass die Beklagte im Vorfeld der Ankunft der Klägerin am Flughafen hätte erkennen können, dass es zu einer Überbuchung des der Klägerin ursprünglich vertraglich versprochenen Rückfluges, den die Beklagte nicht selbst durchgeführt hat, sondern durch ihr vertraglich verbundene Erfüllungsgehilfen, die aber nicht weisungsabhängig gewesen sind, hat erbringen lassen, kommen würde. Mangels vorheriger Kenntnis oblag es der Beklagten nicht, insoweit Vorkehrungen zu treffen oder organisatorische Maßnahmen vorzuhalten und anlaufen zu lassen, um die vertraglich geschuldete Heimreise der Klägerin sicherzustellen.

2. Zum Ersatz materieller in der Vergangenheit erlittener und zukünftiger Schäden ist die Beklagte der Klägerin demgegenüber gemäß § 651 f. Abs. 1 BGB i. V. m. § 249 BGB dem Grunde nach verpflichtet.

a) Die Beklagte kann den geltend gemachten vertraglichen Ansprüchen nicht mit Erfolg entgegenhalten, die Klägerin habe die Ausschlussfrist für die Anmeldung von Ansprüchen aus § 651 g Abs. 1 BGB versäumt.

Soweit die Beklagte meint, die Geltendmachung von Ansprüche der Reisenden bei einem Reisebüro in ihren allgemeinen Geschäftsbedingungen wirksam ausgeschlossen zu haben, kommt es hierauf für die Entscheidung des Streitfalles nicht an. Die Beklagte hat nämlich nicht wirksam bestritten, die handschriftlichen Zeilen der Klägerin vom 2. August 2000 vermittelt über das Reisebüro und mit dessen Anschreiben innerhalb der Monatsfrist erhalten zu haben. Demgemäß kommt es nicht darauf an, ob die Frist auch durch die bloße Geltendmachung von Ansprüchen beim Reisebüro gewahrt wäre. Die Anspruchsanmeldung ist vielmehr in jedem Falle rechtzeitig bei der Beklagten eingegangen.

Soweit die Beklagte vorprozessual mit Schreiben vom 5. Oktober 2000 zunächst geltend gemacht hatte, weder ein Schreiben der Klägerin noch des Reisebüros in der Frist erhalten zu haben, hat sie diesen Vortrag konkludent dadurch aufgegeben, dass sie auf Vorlage der konkreten Schreiben im Prozess nicht substantiiert vorgetragen hat, die vorgelegten Schreiben nicht erhalten zu haben. Die Beklagte hat sich nach Vorlage der Schreiben vielmehr im Schriftsatz vom 18. April 2001 damit begnügt, die Würdigung vorzutragen, die Klägerin könne sich auf diese "Schadensmeldung" nicht berufen. Darin sieht der Senat das Unstreitigstellen, die in Rede stehenden Schreiben erhalten zu haben.

Dass Anspruchsanmeldungen, die beim Reisebüro eingereicht und von dort rechtzeitig an die Beklagte weitergeleitet werden, insgesamt und in jedem Falle unbeachtlich wären, meint auch die Beklagte nicht. Ein solches Verständnis der AGB der Beklagten wäre auch mit § 242 BGB nicht in Einklang zu bringen.

Im Streitfall reicht - entgegen der Ansicht der Beklagten - auch die Formulierung der über das Reisebüro eingereichten Schriftstücke als Anspruchsanmeldung aus. Im Schlusssatz des von der Klägerin handschriftlich verfassten Textes heißt es (GA 30): "Durch diese Situation sind wir nicht bereit dieses Verhalten auf sich beruhen zu lassen." Wenn ein Kunde so formuliert, muss der Veranstalter damit rechnen, dass Ansprüche geltend gemacht werden. Das reicht zur Wahrung der Anmeldefrist von Ansprüchen aus.

b) Die Schadensersatzpflicht der Beklagten gemäß § 651 f Abs. 1 BGB ergibt sich dem Grunde nach daraus, dass die Beklagte der Klägerin nicht den geschuldeten Rückflug geleistet hat und auch nichts Hinreichendes dafür vorträgt, dass sie oder ihre Erfüllungsgehilfen hieran kein Verschulden treffe. Soweit die Beklagte geltend macht, zu der Überbuchung sei es "wohl gekommen, weil eine erkrankte Person zusätzlich mit dem Flug rücktransportiert worden sei" reicht dies für einen hinreichend substantiierten Vortrag nicht aus. Es hätte der Beklagten insoweit zu ihrer Entlastung oblegen, zu den fraglichen Ereignissen im Einzelnen vorzutragen.

Mit den Vorgängen, in deren Verlauf die Klägerin zu Schaden gekommen ist, hatten Mitarbeiter der Fluggesellschaft, mithin die Erfüllungsgehilfen der beklagten Reiseveranstalterin begonnen, der Klägerin Schadensersatz im Wege der Naturalrestitution zu leisten, nämlich ihr an Stelle des vertraglich geschuldeten Rückfluges einen Ersatzrückflug zu gewähren. Im Rahmen dieser Maßnahme der Schadensbeseitigung erlitt die Klägerin den Sturz, um dessen Rechtsfolgen es im Streitfall geht. Für derartige Schäden, die der Gläubiger eines Schadensersatzanspruches im Rahmen der Schadensbeseitigung erleidet, wird nach der Rechtsprechung weitgehend gehaftet (vgl. insbesondere Palandt/ Heinrichs, vor § 249 Rdnr. 77). Danach wird im Rahmen der Schadensabwicklung gegebenenfalls sogar für psychisch vermittelte weitere Schäden gehaftet, wenn die Handlung des Verletzten, durch die er zu weiterem Schaden kommt, durch das haftungsbegründende Ereignis herausgefordert worden ist und eine nicht ungewöhnliche Reaktion auf das Haftungsereignis darstellt. Insbesondere haftet der Schädiger auch dann, wenn er eine gesteigerte Gefahrenlage geschaffen hat, bei der Fehlleistungen anderer erfahrungsgemäß vorkommen.

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hat die Beklagte der Klägerin im Streitfall für den erlittenen Körperschaden einzustehen. Durch die Nichtgewährung der ursprünglich versprochenen und Vertragsinhalt gewordenen Flugmöglichkeit haben die Erfüllungsgehilfen der Beklagten, die zu Gunsten der Klägerin mit dieser nach einer Flugmöglichkeit gemeinsam mit der mitreisenden Tochter suchten, eine Situation heraufbeschworen, in der es besonders nahe lag, dass durch Hektik und Unachtsamkeit weiterer Schaden eintrat. Dies gilt umso mehr, als entgegen der üblichen Gepflogenheiten die Erfüllungsgehilfen der Beklagten die Klägerin und ihre Tochter in eine Situation brachten, in der sie in Eile ihr Gepäck durch den Flughafen transportieren mussten. Derartige gefahrträchtige Situationen werden im Normalfall dadurch vermieden, dass der Fluggast nach dem Einchecken kein Gepäck mehr bei sich führt und dementsprechend in die vergrößerte Unfallgefahr durch Unaufmerksamkeit bei der Fortbewegung im Flughafenbereich unter Mitführung schwerer Gepäckstücke nicht geraten kann.

Nachdem die Beklagte in der dargelegten Weise ein vergrößertes Risiko geschaffen hat, hat sie für diejenigen Folgeschäden einzutreten, die die Klägerin bei dem so veranlassten Verhalten im Rahmen des normalen Lebensrisikos erlitten hat. Dazu gehören die materiellen Schäden aus dem Sturz. Für eine unangemessene Reaktion der Klägerin auf das von der Beklagten zu vertretende Haftungsereignis ist weder etwas vorgetragen noch ersichtlich.

c) Diese Schadensersatzpflicht der Beklagten wird auch nicht dadurch verringert, dass die Klägerin sich ein Mitverschulden i. S. v. § 254 BGB zurechnen lassen müsste. Die für ein derartiges Mitverschulden darlegungs- und beweispflichtige Beklagte trägt nicht vor, was die Klägerin im Sinne der Verletzung einer Obliegenheit missachtet oder unterlassen hätte. Das allgemeine Lebensrisiko, sich nicht so fortbewegt zu haben, dass ein Sturz vermieden werden konnte, hat in der Phase der Schadensbeseitigung, in die sich die Klägerin auf Betreiben der Erfüllungsgehilfen der Beklagten begeben hatte, die Klägerin nicht im Sinne eines Mitverschuldens selbst zu tragen.

III.

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen. Zwar liegt eine höchstrichterliche Entscheidung zu der Frage, ob die dem Urteil zugrundegelegte Risikoverteilung, die sich in der Rechtsprechung in so genannten "Herausforderungsfällen" herausgebildet hat, auch für die Schadensbeseitigung im Rahmen dem Veranstalter zurechenbarer Mängel von Pauschalurlauben gelten soll - soweit ersichtlich - noch nicht vor. Sollte der Bundesgerichtshof die hier vertretene Ansicht nicht teilen oder die Frage grundsätzlich behandeln wollen, wäre es ihm aber möglich, auf eine Nichtzulassungsbeschwerde die Sache zur Entscheidung anzunehmen. Vor diesem Hintergrund erschien es dem Senat im Sinne einer möglichen Verfahrensbeschleunigung tunlich, von der Zulassung abzusehen.

Ende der Entscheidung

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