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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Beschluss verkündet am 03.08.2006
Aktenzeichen: 13 U 72/06
Rechtsgebiete: EG-Vertrag, Landesvergabegesetz Nds


Vorschriften:

EG-Vertrag Art. 49
Landesvergabegesetz Nds
Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften wird zur Auslegung des EG-Vertrages gemäß Art. 234 EG folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Stellt es eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit nach den EG-Vertrag dar, wenn dem öffentlichen Auftraggeber durch ein Gesetz aufgegeben wird, Aufträge für Bauleistungen nur an solche Unter nehmen zu vergeben, die sich bei der Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren Arbeitnehmern bei der Ausführung dieser Leistungen mindestens das am Ort der Ausführung tarifvertraglich vorgesehene Entgelt zu bezahlen ?


13 U 72/06

Verkündet am 3. August 2006

Beschluss

In dem Rechtsstreit

hat der 13. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ####### sowie der Richter am Oberlandesgericht ####### und ####### aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 18. Juli 2006 beschlossen:

Tenor:

I. Das Verfahren wird ausgesetzt.

II. Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften wird zur Auslegung des EG-Vertrages gemäß Art. 234 EG folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Stellt es eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit nach den EG-Vertrag dar, wenn dem öffentlichen Auftraggeber durch ein Gesetz aufgegeben wird, Aufträge für Bauleistungen nur an solche Unternehmen zu vergeben, die sich bei der Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren Arbeitnehmern bei der Ausführung dieser Leistungen mindestens das am Ort der Ausführung tarifvertraglich vorgesehene Entgelt zu bezahlen ?

Gründe:

I.

Das Niedersächsische Landesvergabegesetz (Landesvergabegesetz Nds.) enthält Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge, sofern die Aufträge mindestens einen Wert von 10.000 EUR haben. Das Gesetz lautet auszugsweise:

"Präambel

Das Gesetz wirkt Wettbewerbsverzerrungen entgegen, die auf dem Gebiet des Bauwesens und das öffentlichen Personennahverkehrs durch den Einsatz von Niedriglohnkräften entstehen, und mildert Belastungen für die sozialen Sicherungssysteme. Es bestimmt zu diesem Zweck, dass öffentliche Auftraggeber Aufträge über Baumaßnahmen und im öffentlichen Personennahverkehr nur an Unternehmen vergeben dürfen, die das in Tarifverträgen vereinbarte Arbeitsentgelt am Ort der Leistungserbringung zahlen.

...

§ 3 Tariftreueerklärung

(1) Aufträge für Bauleistungen dürfen nur an solche Unternehmen vergeben werden, die sich bei der Aufgebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bei der Ausführung dieser Leistungen mindestens das am Ort der Ausführung tarifvertraglich vorgesehe Entgelt zum tarifvertraglich vorgesehenen Zeitpunkt zu bezahlen. Bauleistungen im Sinne des Satzes 1 sind Leistungen des Bauhauptgewerbes und des Baunebengewerbes. Satz 1 gilt auch für die Vergabe von Verkehrsleistungen im öffentlichen Personennahverkehr.

(2) Gelten am Ort der Leistung mehrere Tarifverträge für dieselbe Leistung, so hat der öffentliche Auftraggeber einen repräsentativen Tarifvertrag zugrunde zu legen, der mit einer tariffähigen Gewerkschaft vereinbart wurde. Die Landesregierung wird ermächtigt, durch Verordnung zu bestimmen, in welchem Verfahren festgestellt wird, welche Tarifverträge als repräsentativ im Sinne von Satz 1 anzusehen sind. Die Verordnung kann auch die Vorbereitung der Entscheidung durch einen Beirat vorsehen; sie regelt in diesem Fall auch die Zusammensetzung des Beirats.

§ 4 Nachunternehmereinsatz

(1) Der Auftragnehmer darf Leistungen, auf die sein Betrieb eingerichtet ist, nur auf Nachunternehmer übertragen, wenn der Auftraggeber im Einzelfall schriftlich zugestimmt hat. Die Bieter sind verpflichtet, schon bei Abgabe ihres Angebots anzugeben, welche Leistungen an Nachunternehmer weiter vergeben werden sollen. Soweit Leistungen auf Nachunternehmer übertragen werden, hat sich der Auftragnehmer auch zu verpflichten, den Nachunternehmern die für Auftragnehmer geltenden Pflichten der §§ 3, 4 und 7 Abs. 2 aufzuerlegen und die Beachtung dieser Pflichten durch die Nachunternehmer zu überwachen.

(2) Die nachträgliche Einschaltung oder der Wechsel eines Nachunternehmers bedarf der Zustimmung des Auftraggebers; § 6 Abs. 2 gilt entsprechend. Die Zustimmung darf nur wegen mangelnder Fachkunde, Zuverlässigkeit oder Leistungsfähigkeit des Nachunternehmers sowie wegen Nichterfüllung der Nachweispflicht gemäß § 6 Abs. 2 versagt werden.

...

§ 6 Nachweise

(1) Ein Angebot ist von der Wertung auszuschließen, wenn der Bieter folgende Unterlagen nicht beibringt:

...

3. eine Tariftreueerklärung nach § 3.

...

(2) Soll die Ausführung eines Teils des Auftrags einem Nachunternehmer übertragen werden, so sind bei der Auftragserteilung auch die auf den Nachunternehmer lautenden Nachweise gemäß Absatz 1 vorzulegen.

§ 7 Kontrollen

(1) Der öffentliche Auftraggeber ist berechtigt, Kontrollen durchzuführen, um die Einhaltung der geforderten Vergabevoraussetzungen zu überprüfen. Er darf zu diesem Zweck Einblick in die Entgeltabrechnungen der Auftragnehmer und der Nachunternehmer und die Unterlagen über die Abführung von Steuern und Beiträgen gemäß § 6 Abs. 1 sowie in die zwischen Auftragnehmer und Nachunternehmer abgeschlossenen Werkverträge nehmen. Der Auftragnehmer hat seine Beschäftigen auf die Möglichkeit solcher Kontrollen hinzuweisen.

(2) Der Auftragnehmer und seine Nachunternehmer haben vollständige und prüffähige Unterlagen gemäß Absatz 1 über die eingesetzten Beschäftigen bereitzuhalten. Auf Verlangen des öffentlichen Auftraggebers sind ihm diese Unterlagen vorzulegen.

§ 8 Sanktionen

(1) Um die Einhaltung der Verpflichtungen gemäß den §§ 3, 4 und 7 Abs. 2 zu sichern, haben die öffentlichen Auftraggeber für jeden schuldhaften Verstoß eine Vertragsstraße in Höhe von 1 vom Hundert, bei mehreren Verstößen bis zu 10 vom Hundert des Auftragswertes mit dem Auftragnehmer zu vereinbaren. Der Auftragnehmer ist zur Zahlung einer Vertragsstrafe nach Satz 1 auch für den Fall zu verpflichten, dass der Verstoß durch einen von ihm eingesetzten Nachunternehmer oder einen von diesem eingesetzten Nachunternehmer begangen wird, es sei denn, dass der Auftragnehmer den Verstoß weder kannte noch kennen musste. Ist die verwirkte Vertragsstrafe unverhältnismäßig hoch, so kann sie vom Auftraggeber auf Antrag des Auftragnehmers auf den angemessenen Betrag herabgesetzt werden.

(2) Die öffentlichen Auftraggeber vereinbaren mit dem Auftragnehmer, dass die Nichterfüllung der in § 3 genannten Anforderungen durch den Auftragnehmer oder seine Nachunternehmer sowie grob fahrlässige oder mehrfache Verstöße gegen die Verpflichtungen der §§ 4 und 7 Abs. 2 den öffentlichen Auftraggeber zur fristlosen Kündigung berechtigen.

(3) Hat ein Unternehmen nachweislich mindestens grob fahrlässig oder mehrfach gegen Verpflichtungen dieses Gesetzes verstoßen, so können es die öffentlichen Auftraggeber jeweils für ihren Zuständigkeitsbereich von der öffentlichen Auftragsvergabe für die Dauer von bis zu einem Jahr ausschließen.

(4) Das Land richtet ein Register über Unternehmen ein, die nach Absatz 3 von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen worden sind.

Das Land Niedersachsen erteilte im Herbst 2003 der Beklagten nach öffentlicher Ausschreibung einen Auftrag für Rohbauarbeiten beim Bau der Justizvollzugsanstalt G.R. Die Auftragssumme betrug 8.493.331 EUR zzgl. MWSt. Gegenstand des Vertrags war die vom Land vorformulierte "Vereinbarung zur Einhaltung der tarifvertraglichen Bestimmungen bei der Ausführung von Bauleistungen", in der es heißt:

"Meinem/Unserem Angebot liegt die nachstehende Vereinbarung zugrunde:

Zu § 3 des Landesvergabegesetzes (Tariftreueerklärung):

Ich verpflichte mich im Fall der Auftragserteilung, den in meinem Unternehmen beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bei der Arbeitsführung der beauftragten Leistungen mindestens das am Ort der Ausführung tarifvertraglich vorgesehene Entgelt nach dem aus der Liste der repräsentativen Tarifverträge unter Nr. 01 "Baugewerbe" genannten Tarifvertrag ... zu zahlen.

Zu § 4 des Landesvergabegesetzes (Nachunternehmereinsatz):

Mir ist bekannt, dass ich Leistungen, auf die mein Betrieb eingerichtet ist, nur auf Nachunternehmer übertragen darf, wenn der Auftragnehmer im Einzelfall schriftlich zugestimmt hat.

...

Ich verpflichte mich, auch den Nachunternehmern die für mich geltenden Pflichten der §§ 3, 4 und 7 Abs. 2 des Landesvergabegesetzes aufzuerlegen und die Beachtung dieser Pflichten durch die Nachunternehmer zu überwachen.

Mir ist bekannt, dass die nachträgliche Einschaltung oder der Wechsel eines Nachunternehmers der Zustimmung des Auftraggebers bedarf.

Zu § 8 des Landesvergabegesetzes (Sanktionen und Vertragsstrafe):

Ich verpflichte mich, für jeden schuldhaften Verstoß gegen die vorstehenden vertraglichen Verpflichtungen zu den §§ 3 und 4 des Landesvergabegesetzes sowie gegen die gesetzlichen Verpflichtungen gemäß § 7 Abs. 2 des Landesvergabegesetzes eine Vertragsstrafe in Höhe von 1 v. H. des Auftragswertes, bei mehreren Verstößen bis zu 10 v. H. des Auftragswertes, - je nach pflichtgemäßem Ermessen des öffentlichen Auftraggebers - an den Auftraggeber zu zahlen. Diese Verpflichtung umfasst auch Verstöße des von mir eingesetzten Nachunternehmers oder eines von diesem eingesetzten Nachunternehmers (Nachnachunternehmers), soweit die Verstöße mir bekannt waren oder ich sie hätte kennen müssen.

Ich bin damit einverstanden, dass die Nichterfüllung der in § 3 des Landesvergabegesetzes genannten Anforderungen durch mich oder durch die von mir eingesetzten Nachunternehmer sowie grob fahrlässige oder mehrfache Verstöße gegen die Verpflichtungen der §§ 4 und 7 Abs. 2 des Landesvergabegesetzes den Auftraggeber zur fristlosen Kündigung berechtigen."

Die Beklagte setzte die Fa. P. K. Z. Sp.zo.o. aus T./P. mit einer Zweigniederlassung in W./D. als Nachunternehmer ein. Im Sommer 2004 geriet dieses Unternehmen in Verdacht, bei dem Bauvorhaben polnische Arbeiter untertariflich beschäftigt zu haben. Nach Beginn der Ermittlungen kündigten sowohl die Beklagte als auch das Land Niedersachsen den zwischen ihnen geschlossenen Werkvertrag. Das Land stützte die Kündigung u. a. darauf, dass die Beklagte gegen die vereinbarte Tariftreuepflicht verstoßen habe. Gegen den Hauptverantwortlichen der Fa. PKZ erging ein Strafbefehl, der den Vorwurf enthielt, den auf der Baustelle eingesetzten 53 Arbeitnehmern nur 46,57 % des gesetzlich vorgesehenen Mindestlohns ausgezahlt zu haben. Der Strafbefehl ist rechtkräftig geworden.

Das Land hat die Vertragsstrafe - teilweise im Wege der Aufrechnung mit restlichen Werklohnansprüchen der Beklagten - geltend gemacht. Es hat vorgetragen, der Beklagten hätten die Verstöße des Nachunternehmers bekannt sein müssen. Die untertarifliche Bezahlung eines jeden Mitarbeiters stelle einen gesonderten Verstoß dar, so dass eine Vertragsstrafe in Höhe von 10 % der Auftragssumme angefallen sei.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten.

Das Landgericht hat festgestellt, dass die Werklohnforderung der Beklagten durch Aufrechnung der Klägerin mit dem ihr zustehenden Vertragsstrafenanspruch in Höhe von 84.934,31 EUR (1 % der Auftragssumme) erloschen ist. Die weitergehende Klage hat es abgewiesen.

Beide Parteien verfolgen mit der Berufung ihre erstinstanzlichen Anträge weiter.

II.

Die Auslegung des Rechtsstreits hängt davon ab, ob der Senat das Landesvergabegesetz Nds., insbesondere § 8 Abs. 1 des Gesetzes unangewendet zu lassen hat, weil das Gesetz nicht mit der Dienstleistungsfreiheit des Art. 49 EG vereinbar ist. Der Senat will die Entscheidung über die Anwendbarkeit des Landesvergabegesetzes nicht treffen, ohne zuvor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gemäß Art. 234 Satz 1 lit. a EG die im Beschlusstenor genannte, bislang nicht geklärte Frage vorzulegen.

1. Die Frage ist entscheidungserheblich.

a) Von ihrer Beantwortung hängt es ab, ob das Landesvergabegesetz Nds. außer Anwendung bleiben muss.

b) Im Falle der Nichtanwendbarkeit des Landesvergabegesetzes Nds. wäre die in der vom Auftraggeber für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierten "Vereinbarung zur Einhaltung der tarifvertraglichen Bestimmungen bei der Anwendung von Bauleistungen" enthaltene Tariftreueverpflichtung nebst Vertragsstrafenklausel nach vorläufiger Beurteilung des Senats gemäß § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB unwirksam. Nach dieser Vorschrift sind Bestimmungen in AGB unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine unangemessene Benachteiligung ist gemäß § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB im Zweifel anzunehmen, wenn eine Bestimmung mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist. Gesetzliche Regelungen in diesem Sinn sind die europarechtlichen Bestimmungen über die Dienstleistungsfreiheit. Diese Bestimmungen greifen hier nach Auffassung des Senats ein, weil weder allgemein noch bei dem in Rede stehenden Auftrag anzunehmen ist, das Unternehmen, die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassen sind, kein Interesse an 10.000 EUR überschreitenden Aufträgen für Rohbauarbeiten in der Bundesrepublik Deutschland haben. Eine europarechtswidrige Tariftreueverpflichtung einschließlich der für den Fall eines Verstoßes gegen die Verpflichtung vereinbarten Vertragsstrafe wäre unwirksam. Die Vertragsstrafenverpflichtung wäre bei Nichtanwendbarkeit des Landesvergabegesetzes Nds. auch deshalb unwirksam, weil sie auch bei weniger gravierenden, folgelosen Verstößen - etwa gegen die Verpflichtung, Nachunternehmer im Hinblick auf ihre Tariftreue zu überwachen oder die Verpflichtung, die in § 7 Abs. 1 bezeichneten Unterlagen über die eingesetzten Beschäftigten vollständig und prüffähig bereitzuhalten - unabhängig davon anfällt, ob der Auftragnehmer mit diesen Verpflichtungen in Verzug geraten ist.

c) Stehen die europarechtlichen Vorschriften der Anwendbarkeit des Landesvergabegesetzes Nds. nicht entgegen, so muss zunächst geprüft werden, ob sich die Ungültigkeit des Gesetzes aus nationalen Vorschriften ergibt (vgl. Vorlageschluss des Bundesgerichtshofs an das Bundesverfassungsgerichts vom 18. Januar 2000, Aktenzeichen KVR 23/98, betreffend das Berliner Vergabegesetz). Liegt auch keine Unwirksamkeit des Landesvergabegesetzes Nds. nach den nationalen Bestimmungen vor, so scheidet eine Unwirksamkeit der vereinbarten Vertragsstrafenverpflichtung gemäß § 307 Abs. 1 BGB nach vorläufiger Beurteilung des Senats aus, weil § 307 Abs. 1 BGB dann entweder von vornherein nicht eingreift (§ 307 Abs. 3 Satz 1 BGB), oder weil der Umstand, dass die Vertragsstrafenvereinbarung den öffentlichen Auftraggebern in § 8 Abs. 1 Landesvergabegesetz Nds. zwingend vorgeschrieben ist, bei der Angemessenheitsprüfung im Rahmen des § 307 Abs. 1 BGB entscheidend berücksichtigt werden muss.

2. Ob das Landesvergabegesetz Niedersachsen im Hinblick auf die Tariftreuepflicht mit der Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 49 EG vereinbar ist, ist umstritten.

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften verlangt Art. 49 EG die Aufhebung aller Beschränkungen - selbst wenn sie unterschiedslos für inländische Dienstleistende wie für solche aus anderen Mitgliedstaaten gelten , sofern sie geeignet sind, die Tätigkeiten des Dienstleistenden, der in einem anderen Mitgliedsstaat ansässig ist und der dort rechtmäßig ähnliche Dienstleistungen erbringt, zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Die Anwendung nationaler Regelungen des Aufnahmemitgliedstaats für Dienstleistende ist geeignet, Dienstleistungen von in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Personen oder Unternehmen zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, sofern sie zusätzliche administrative und wirtschaftliche Kosten und Belastungen verursacht (EuGH, Urteil vom 12. Oktober 2004 in der Rechtssache C60/03, Rn. 31, 32; Urteil vom 24. Januar 2002 in der Rechtssache C164/99, Rn. 16, 18 m. w. N.).

Die Tariftreueverpflichtungen haben zu Folge, dass die Bauunternehmen anderer Mitgliedstaaten die ihren Arbeitnehmern gezahlten Entgelte dem regelmäßig höheren Niveau am Ort der Ausführung in der Bundesrepublik Deutschland anpassen müssen. Dadurch verlieren sie ihren aufgrund geringerer Lohnkosten bestehenden Wettbewerbsvorteil. Die Tariftreueverpflichtung stellt damit eine Behinderung des Marktzugangs für Personen oder Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten dar.

Solche Regelungen können gerechtfertigt sein, wenn sie auf zwingenden Gründen des Allgemeininteresses beruhen, soweit dieses Interesse nicht bereits durch Vorschriften geschützt wird, denen der Dienstleistende in dem Mitgliedstaat unterliegt, in dem er ansässig ist, und sofern sie geeignet sind, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, ohne über das hinauszugehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist. Zu dem bereits vom Gerichtshof anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gehört der Schutz der Arbeitnehmer (EuGH, Urteil vom 12. Oktober 2004 in der Rechtssache C60/03 Rn. 34, 35; Urteil vom 24. Januar 2002 in der Rechtssache C164/99 Rn. 19, 20 m. w. N.).

Ob diese Voraussetzungen im Hinblick auf Tariftreueverpflichtungen gegeben sind, wie sie nach dem Landesvergabegesetz Nds. von den öffentlichen Auftraggebern vereinbart werden müssen, ist umstritten.

Teilweise wird vertreten, dass Tariftreueerklärungen mit Art. 49 EG grundsätzlich vereinbar sind (vgl. Mühlbach RdA 2003, 239; Däubler ZIP 2000, 681). Nach der Rechtsprechung des EuGH verwehre das Gemeinschaftsrecht einem Mitgliedstaat grundsätzlich nicht, ein Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat, das Dienstleistungen im erstgenannten Mitgliedstaat erbringe, zu verpflichten, seinen Arbeitnehmern die durch nationale Vorschriften oder durch Tarifverträge festgelegten Mindestlöhne zu zahlen. Wie der Entscheidung in der Sache Finalarte (EuGH, Urteil vom 25. Oktober 2001 in der Rechtssache C49/98) zu entnehmen sei, entspreche zwingenden Gründen des Allgemeininteresses nicht nur eine Verpflichtung auf Mindestarbeitsbedingungen sondern auch die Verpflichtung auf die ortsüblichen Tarifbedingungen (Mühlbach a. a. O.).

Demgegenüber kann nach herrschender Meinung, die der Senat für vorzugswürdig hält, nicht davon ausgegangen werden, dass die Tariftreueverpflichtungen auf zwingenden Gründen des Allgemeininteresses beruhen (Lehne/Haak, ZfBR 2002, 656; Konzen, NZA 2002, 781; Kling, EuZW 2002, 229; Kämmerer/Thüsing, ZIP 2002, 596; Karenfort, BB 1999, 1825; Knipper WuW 1999, 677; Gröning ZIP 1999, 52). Das Tariftreuegesetz bezwecke zumindest auch eine Abschottung der deutschen Bauunternehmen vor der Konkurrenz aus anderen Mitgliedstaaten. Ein solcher wirtschaftlicher Zweck könne nach der Rechtssprechung des EuGH (Urteil vom 25. Oktober 2001 in der Rechtssache C49/98) nicht als zwingendes Erfordernis des Allgemeininteresses eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen. Die "Mindestlohn"Rechtssprechung des EuGH (Urteil vom 12. Oktober 2004 in der Rechtssache C60/03; Urteil vom 24. Januar 2002 in der Rechtssache C164/99; Urteil vom 15. März 2001 in der Rechtssache C165/98) greife nicht ein, weil die geforderten Lohn und Gehaltstarife am Ort der Ausführung weitaus höher lägen als die Mindestentgeltregelungen, die in Deutschland im Arbeitnehmerentsendegesetz festgelegt seien. Es gehe bei der Tariftreueverpflichtung mithin um eine über die bisherigen gesetzlichen bzw. tarifvertraglichen Verpflichtungen hinausgehende, überschießende Lohnzahlungsverpflichtung der EG-ausländischen Auftragnehmer. Diese Verpflichtung überschreite das zum Schutz der Arbeitnehmer erforderliche Maß. Das zum Schutz der Arbeitnehmer Erforderliche werde durch den Mindestlohnstandard markiert. Für die ausländischen Arbeitnehmer bewirke die Tariftreueverpflichtung gerade nicht die faktische Gleichstellung mit den deutschen Arbeitnehmern, sondern verhindere regelmäßig ihre Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland, weil ihr Arbeitgeber seinen Kostenvorteil nicht in den Wettbewerb einbringen könne.

Ende der Entscheidung

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