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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Urteil verkündet am 20.12.2005
Aktenzeichen: 14 U 138/05
Rechtsgebiete: SGB VII


Vorschriften:

SGB VII § 115 Abs. 1
1. Hatte der Unfallgeschädigte zunächst erklärt, dass sich der Unfall auf einer Geschäftsfahrt ereignet hatte, ist er dafür beweispflichtig, dass diese Erklärung irrtümlich abgegeben wurde und § 115 Abs. 1 SGB VII nicht eingreift.

2. Selbst wenn anlässlich einer mehrtägigen Besuchsreise (hier: Teilnahme an einer Gaststätteneröffnung der Tochter) an einem Tag auch eine geschäftliche Unterredung an einem anderen Ort stattfand, handelt es sich bei der Heimfahrt, die an einem späteren Tag stattfand, nicht um eine betriebliche Tätigkeit i. S. von § 115 Abs. 1 SGB VII.


Oberlandesgericht Celle Im Namen des Volkes Grundurteil

14 U 138/05

Verkündet am 20. Dezember 2005

In dem Rechtsstreit

hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die mündliche Verhandlung vom 29. November 2005 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... und die Richter am Oberlandesgericht ... und ... für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der Einzelrichterin der 19. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 28. April 2005 aufgehoben.

Die Klage ist dem Grund nach gerechtfertigt.

Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung über ein etwaiges Mitverschulden des Klägers sowie die Höhe des Anspruchs an das Landgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt - auch hinsichtlich der Kosten des Berufungsverfahrens - dem Schlussurteil vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Streitwert des Berufungsverfahrens: 17.500 EUR

Gründe:

(abgekürzt gem. §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO):

I.

Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen wird Bezug genommen auf das angefochtene Urteil (Bl. 69 d. A.). Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, weil der Verkehrsunfall vom 4. Oktober 2003 auf einer Geschäftsfahrt und damit während einer von der Haftungsbeschränkung des § 105 Abs. 1 SGB VII erfassten innerbetrieblichen Tätigkeit - nicht vorsätzlich und nicht auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 - 4 SGB VII versicherten Weg - verursacht worden sei. Dagegen wendet sich die Berufung des Klägers, der sein ursprüngliches Klageziel weiterverfolgt; die Beklagte verteidigt demgegenüber das angefochtene Urteil (jeweils mit Anträgen wie im Protokoll Bl. 162 d. A.). Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Der Senat hat über den Anlass der Autofahrt mit Beschluss vom 18. Oktober 2005 (Bl. 141 d. A.) Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeuginnen R. H. und C. K. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 29. November 2005 (Bl. 162 d. A.) und den Vermerk des Berichterstatters vom 8. Dezember 2005 (Bl. 173 d. A.) Bezug genommen.

II.

Die Berufung ist zulässig und begründet. Die Klage ist dem Grund nach gerechtfertigt. Dies war daher festzustellen und der Rechtsstreit gem. § 538 Abs. 2 Nr. 1 u. 4 ZPO auf den hilfsweise gestellten Antrag des Klägers unter Aufhebung des Urteils und des Verfahrens an das Landgericht zurückzuverweisen, weil der Streit über den Betrag des Anspruchs noch nicht zur Entscheidung reif ist und in diesem Rahmen eine umfangreiche und aufwendige Beweisaufnahme erforderlich sein wird.

1. Die Beklagte hat dem Grund nach für den vom Kläger geltend gemachten Schadensersatzanspruch einzustehen gem. § 3 Nr. 1 PflVG. Sie kann sich nicht auf eine Haftungsprivilegierung nach § 105 SGB VII berufen. Denn der Verkehrsunfall hat sich nicht während einer betrieblichen Tätigkeit ereignet. Das folgt aus der vom Senat durchgeführten Beweisaufnahme.

a) Grundsätzlich wäre die Beklagte dafür beweispflichtig, dass die zum Unfall führende Fahrt Teil eines innerbetrieblichen Vorgangs war, weil es sich insoweit um ein sie begünstigendes Tatbestandsmerkmal (des § 105 SGB VII) handelt. Wegen der schriftlichen Erklärungen des Klägers vom 3. März 2004 (Bl. 12 d. A.) sowie seiner Prozessbevollmächtigten vom 5. März 2004 (Bl. 36 d. A.) spricht allerdings der Anschein dafür, dass der Unfall im Zusammenhang mit einer betrieblichen Tätigkeit auf einer "Geschäftsreise" passiert ist. Dem Kläger ist jedoch der Beweis des Gegenteils gelungen, dass die Fahrt nicht mehr zum Teil der betrieblichen Organisation gehörte und ihre Durchführung davon nicht geprägt war:

Die Zeuginnen H. und K. haben übereinstimmend und glaubhaft bekundet, der Kläger habe zusammen mit der Zeugin H. am 3. Oktober 2003 vom späten Vormittag bis in den Abend an der Eröffnungsfeier der zum damaligen Zeitpunkt von der Zeugin K. geführten Gaststätte "..." in D. teilgenommen. Von da seien sie zur Tochter der Zeugin H. nach R. gefahren, wo sie übernachtet hätten. Die Rückfahrt nach N. - auf der es zum streitbefangenen Verkehrsunfall gekommen ist - sei dann am nächsten Tag, dem 4. Oktober 2003, von R. aus erfolgt. Anlass der Reise sei insgesamt die Geschäftseröffnung der Zeugin K. gewesen (vgl. im Einzelnen Bl. 173 f. d. A.).

b) Die Fahrt vom 4. Oktober 2003 kann damit nicht als innerbetrieblicher Vorgang angesehen werden. Sie war weder Teil einer betrieblichen Tätigkeit noch in ihrer Durchführung davon geprägt (vgl. dazu Senat, Beschl. v. 4. Juli 2005, 14 W 18/05, OLGR 2005, 604 = SchadenPraxis 2005, 337 m. w. N.). Im Gegensatz zur Ansicht des Landgerichts war der Kläger mit der Zeugin H. am 4. Oktober 2003 nicht "von einem Geschäftstermin kommend unterwegs" (LGU 8). Selbst wenn er noch am frühen Vormittag des 3. Oktober 2003 geschäftliche Gespräche in O. geführt hätte - wofür allerdings nichts ersichtlich ist , bildete die anschließende ganztägige Teilnahme an einer mit dem Betrieb in keinem Zusammenhang stehenden Gaststätteneröffnung eine derart deutliche Zäsur, dass die am darauffolgenden Tag stattfindende Rückfahrt nach N. nicht mehr Teil der betrieblichen Organisation und von dieser geprägt war. Anders wäre das nur gewesen, wenn der Kläger noch am 4. Oktober 2003 unmittelbar vor dem Unfall eine geschäftliche Besprechung wahrgenommen hätte. Das wird aber nicht behauptet. Die Erklärung des Klägers vom 3. März 2003 (Bl. 12 d. A.) scheint zwar zunächst dafür zu sprechen. Angesichts der klaren und eindeutigen Bekundungen der Zeuginnen kommt ihr aber nicht mehr die vom Landgericht angenommene (LGU 6/7) Bedeutung zu.

Der Senat hat keine Veranlassung, insbesondere an der Glaubhaftigkeit der Aussage der (am Unfall unbeteiligten) Zeugin K. zu zweifeln. Dass die Gaststätteneröffnung am 3. Oktober 2003 stattgefunden hat, hat der Kläger durch Vorlage eines gedruckten Plakats (vgl. Bl. 164 a d. A.) untermauert; auf diesem Plakat ist die Zeugin K. zu erkennen. Es liegt zudem nahe, dass der Kläger als Vater der Zeugin an dieser Veranstaltung hat teilnehmen wollen. Wenn er dies aber getan hat, können seine vorgerichtlichen Erklärungen vom 3. und 5. März 2003 hinsichtlich der hier entscheidenden Frage nicht ausschlaggebend sein. Das gilt umso mehr, als sich der Unfall - entgegen der Erklärung vom 5. März 2003 (Bl. 36 d. A.) - unstreitig nicht "während einer Fahrt zu einer geschäftlichen Besprechung nach O. zur Firma Gebrüder F. ereignet hat", sondern auf der BAB 2 Hannover in Richtung Berlin. Das lässt sich nur mit der Hergangsschilderung der Zeuginnen und entsprechend der des Klägers überein bringen.

Zudem ist die Erklärung des Klägers vom 3. März 2003 auch nicht so eindeutig, wie sie das Landgericht hat verstehen wollen. Unstreitig - und von der Zeugin H. bestätigt - hat der Kläger im Rahmen der gesamten Reise von N. nach R., O. und D. eine geschäftliche Besprechung gehabt; diese hat allerdings nach Bekundung der Zeugin H. am 1. Oktober 2003 stattgefunden. Es kann nicht ohne weiteres angenommen werden, dass sich der Kläger bei seiner Erklärung zum Anlass der Reise ausreichend Gedanken über die nicht unbedingt offensichtlichen Abgrenzungskriterien zwischen (dem Ende) einer Betriebsfahrt und (dem Beginn) einer Privatfahrt gemacht hat, auch weil die Bedeutung der Antwort für etwaige haftungsrechtliche Auswirkungen aus dem Anschreiben der Prozessbevollmächtigten vom 3. März 2003 nicht erkennbar war. Jedenfalls kann bei einem "juristischen Laien" nicht unterstellt werden, dass er die hierzu erforderliche Unterscheidung mit hinreichender Klarheit vorgenommen hat.

Unter diesem Blickwinkel waren demnach die Auskünfte des Klägers vom 3. und 5. März 2003 nicht falsch; denn tatsächlich war er im Rahmen der gesamten Fahrt auch auf einer geschäftlichen Besprechung in O. Es liegt nahe, dass er deshalb verkannt hat, worauf es im Hinblick auf § 105 SGB VII maßgeblich ankam, nämlich nicht darauf, ob die allein maßgebliche Fahrt vom 4. Oktober 2003 - z. B. hinsichtlich einer evtl. steuerlichen Absetzbarkeit - private oder "dienstliche" Bezüge aufwies, sondern ob sie unmittelbar mit dem Zweck der betrieblichen Beschäftigung zusammenhing und dem Betrieb dienlich war (vgl. Geigel/Kolb, Der Haftpflichtprozess, 23. Aufl., Kap. 31, Rn. 104). Dann aber ist die Auskunft vom 3. März 2003 in Bezug auf die hier entscheidende Rechtsfrage ohne Belang. Unter den gegebenen Umständen geht es allein noch um eine rechtliche Bewertung des - unstreitigen oder nachgewiesenen - Geschehens. Danach befand sich der Kläger auf der Rückfahrt von einer privaten Veranstaltung ohne Geschäftsbezug. Da der Begriff der betrieblichen Tätigkeit objektiv zu bestimmen ist (vgl. Geigel/Kolb a. a. O.) und nicht nach der Einschätzung der Beteiligten, scheidet eine Betriebsfahrt aus.

2. Das Landgericht hätte Anlass gehabt, die Zeugin K. selbst zu vernehmen. Sie ist bereits erstinstanzlich zum Beweis der Tatsache, dass der Kläger und die Zeugin H. am 3. Oktober 2003 nach D. zur Eröffnung der Gaststätte "...." und von da nach R. gefahren seien und es sich insoweit um einen "rein privaten Besuch" gehandelt habe, benannt worden (Schriftsatz vom 11. Februar 2005, Bl. 45 d. A.). Der Beweisantrag ist ohne Angaben von Gründen übergangen worden. Auch wenn der Antrag erst nach Zustellung der prozessleitenden Verfügung vom 1. Februar 2005 (Bl. 38 d. A.) gestellt worden ist, hätte bis zum Termin am 21. März 2005 noch ausreichend Gelegenheit bestanden, die Zeugin K. zu laden. Dass dies nicht geschehen ist, hat sich zum Nachteil des Klägers ausgewirkt, weil das Landgericht der Zeugin R. H. allein nicht hat Glauben wollen (LGU 6/7) und letztlich deshalb die Klage abgewiesen hat. Der Aussage der am Unfallgeschehen unbeteiligten Zeugin K. wäre also besonderes Gewicht zugekommen.

3. Die Klage ist dem Grund nach gerechtfertigt. Bedenken gegen die Zulässigkeit der Feststellungsanträge (wie sie die Beklagte andeutet, Bl. 35, 139 d. A.) hat der Senat angesichts der geltend gemachten Verletzungen und (möglichen) Dauerschäden nicht. Die Beklagte bestreitet nicht den Unfall an sich und dass der Kläger dadurch verletzt wurde (vgl. Bl. 30/31 d. A.). Sie nimmt jedoch ein Mitverschulden des Klägers von mindestens 50 % an, weil er im Unfallzeitpunkt nicht angeschnallt gewesen sein soll (Bl. 34, 138 d. A.). Allerdings entfällt auch nach Ansicht der Beklagten ihre Haftung damit nicht insgesamt. Der Kläger persönlich hat hierzu vor dem Senat erklärt, er sei angeschnallt gewesen (Bl. 163 d. A.). Die nähere Klärung dieser Frage bleibt dem Landgericht vorbehalten.

Auch im Übrigen kann ohne eine weitere aufwendige Beweisaufnahme eine Entscheidung über die Höhe des Anspruchs nicht getroffen werden: Die Beklagte bestreitet den Verletzungsumfang und zum Teil auch den Zusammenhang mit dem vorliegenden Unfallereignis sowie die Darstellung des Klägers über fortbestehende Beschwerden und Beeinträchtigungen nebst etwaigen Zukunftsschäden ebenso wie die (Dauer der) Arbeitsunfähigkeit des Klägers; das begehrte Schmerzensgeld sei zu hoch, die Feststellungsanträge seien unbegründet (vgl. im Einzelnen Schriftsatz der Beklagten vom 7. Januar 2005, Bl. 32 ff., sowie Bl. 138 f.). Beide Parteien berufen sich zum Beweis ihrer Behauptungen auf Sachverständigengutachten (Bl. 34 und 66 d. A.). All diese Punkte werden ebenfalls vor dem Landgericht zu klären sein.

4. Der Senat weist darauf hin, dass das Näheverhältnis zwischen dem Kläger und der Fahrerin - entgegen der Ansicht der Beklagten (Bl. 35 d. A.) - nicht schmerzensgeldmindernd zu berücksichtigen ist (vgl. OLG München, VersR 1989, 1056; OLG Hamm, NJWRR 1998, 1179 m. w. N.).

5. Über Kosten und vorläufige Vollstreckbarkeit war keine Entscheidung zu treffen (vgl. Zöller/Vollkommer, ZPO, 25. Aufl., § 304, Rn. 18 a. E., 26; § 538, Rn. 58).

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne von § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens war im Hinblick auf den später vorzunehmenden Kostenausgleich gemäß der Kostenentscheidung im Schlussurteil nach dem Wert der (abgewiesenen) Anträge erster Instanz zu bemessen (vgl. Beschluss vom 10. November 2004, Bl. 17 d. A.).

Ende der Entscheidung

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