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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Urteil verkündet am 28.05.2003
Aktenzeichen: 9 U 23/03
Rechtsgebiete: BGB, GG


Vorschriften:

BGB § 839
GG Art. 34
1. Das Maß der vom Verkehrssicherungspflichtigen einzuhaltenden Sorgfalt beim Schutz vor in das Luftraumprofil der Straße hineinragenden Baumteilen ist nicht absolut bestimmbar, sondern im Einzelfall festzulegen.

2. Zu den im Einzelfall vor allem zu berücksichtigenden Kriterien.


Oberlandesgericht Celle Im Namen des Volkes Urteil

9 U 23/03 5 O 388/02 Landgericht S#######

Verkündet am 28. Mai 2003

In dem Rechtsstreit

hat der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. S####### sowie die Richter am Oberlandesgericht S#######t und Dr. S####### auf die mündliche Verhandlung vom 14. Mai 2003 für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 11. Dezember 2002 verkündete Urteil des Einzelrichters der 5. Zivilkammer des Landgerichts S####### geändert und die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits werden der Klägerin auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe:

I.

Wegen des Sach und Streitstandes wird zunächst auf die Feststellungen der angefochtenen Entscheidung verwiesen, § 540 ZPO.

Mit ihrer Berufung begehrt die Beklagte weiterhin Klagabweisung. Dabei wiederholt sie ihr erstinstanzliches Vorbringen und rügt die Vorgehensweise des Landgerichts als verfahrensfehlerhaft. Der Einzelrichter habe - offenkundig privat erkannte - Tatsachen zu den Örtlichkeiten am Unfallort zur Grundlage seines Urteils gemacht, ohne die Parteien vorab über diese Tatsachen zu informieren und ihnen hierzu rechtliches Gehör zu gewähren.

Die Klägerin, die ebenfalls ihren erstinstanzlichen Vortrag wiederholt, verteidigt die angefochtene Entscheidung als richtig.

II.

Die Berufung ist begründet. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch aus Schadensersatz gegen die Beklagte aus § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG nicht zu. Dabei kann zugunsten der Klägerin der von ihr geschilderte Unfallhergang ebenso als zutreffend unterstellt werden wie ihr Vortrag zum Ausmaß des in das Luftraumprofil der Straße hinein ragenden Teiles der Birke.

1. Zwar obliegt der Beklagten gemäß § 10 NStrG die Verkehrssicherungspflicht für den Ha#######weg, auf dem sich der Unfall ereignet hat. Jedoch liegt ein Verstoß gegen diese hoheitlich geregelte Verkehrssicherungspflicht nicht vor. Gegenstand der Verkehrssicherungspflicht sind diejenigen Gefahren, die für den sorgfältigen Benutzer nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzustellen vermag (vgl. etwa BGH VersR 1967, 281; VersR 1979, 1055; VersR 1985, 336).

a) Absolute Grenzen für den Umfang der Verkehrssicherungspflicht betreffend die in den Luftraum über der Fahrbahn hinein ragenden Teile (insbesondere Äste) von Straßenbäumen gibt es nicht. Insoweit ist lediglich gefestigte Rechtsprechung, dass es die Verkehrssicherungspflicht nicht erfordert, den Luftraum über den Straßen generell in der nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 StVZO für Fahrzeuge maximal zulässige Höhe von 4 m freizuhalten (BGH VersR 1968, 72 f; OLG Düsseldorf VersR 1989, 273; OLG Köln VersR 1991, 1265; Senat OLGR Celle 1998, 63 f). Denn § 32 StVZO ist eine Bau und Betriebsvorschrift für Kraftfahrzeuge, nicht aber für Straßen.

Der Umfang der Verkehrssicherungspflicht hängt entscheidend vom Charakter der Straße ab und wird maßgebend durch Art und Ausmaß ihrer Benutzung und durch ihre Verkehrsbedeutung bestimmt (BGH VersR 1965, 260 f; Senat a. a. O.). Dabei kann vom Verkehrssicherungspflichtigen nicht verlangt werden, dass die Straße völlig gefahrlos ist. Hingegen muss der Pflichtige in geeigneter und in objektiv zumutbarer Weise alle, aber auch nur diejenigen Gefahren ausräumen und erforderlichenfalls vor ihnen warnen, die für den sorgfältigen Benutzer nicht erkennbar sind und auf die er sich deshalb nicht einzurichten vermag (BGH VersR 1989, 927).

b) Das Maß der vom Verkehrssicherungspflichtigen einzuhaltenden Sorgfalt zum Schutz vor einem in das Luftraumprofil der Straße hinein ragenden Baumteil ist im Einzelfall und vor allem anhand folgender Kriterien (OLG Brandenburg, VersR 1995, 1051 f; Senat a. a. O.) zu bestimmen:

Verkehrsbedeutung der Straße unter besonderer Berücksichtigung ihrer Bedeutung für den Verkehr von Fahrzeugen mit hohen Aufbauten,

Fahrbahnbreite,

Erkennbarkeit der Gefahrenstelle,

Höhe des hinein ragenden Astwerkes.

Hinzu kommt eine Abwägung zwischen den Belangen der Verkehrssicherheit einerseits und dem ökologischen Interesse an der Erhaltung des Baumbestandes andererseits (OLG Köln a. a. O.).

c) Bei Straßen von erheblicher Verkehrsbedeutung, namentlich Bundesstraßen und Ausfallstraßen, ist es im Interesse der Verkehrssicherheit und des Schutzes der Rechtsgüter der Verkehrsteilnehmer geboten, den Verkehrsraum in dem Umfang, in dem er von Fahrzeugen mit den gesetzlich maximal zulässigen Abmessungen in Anspruch genommen werden kann, von störenden Einflüssen - also auch von Baumteilen - freizuhalten. Dies folgt daraus, dass die Dichte und Schnelligkeit des Verkehrs auf solchen Straßen die volle Konzentration der Fahrzeugführer auf die Verkehrsvorgänge erfordert. Den Führern von Fahrzeugen mit hohen Aufbauten kann auf solchen Straßen nicht auch noch abverlangt werden, dass sie ihr Augenmerk auf den Luftraum oberhalb der Straße richten, um vor niedrigen Ästen oder in den Luftraum hinein ragenden Stammteilen auszuweichen oder anhalten zu können. Hingegen kann und muss bei geringer Verkehrsdichte und reduzierter Fließgeschwindigkeit des Verkehrs von den Führern dieser Fahrzeuge auch - neben dem eigentlichen Verkehrsgeschehen - der Luftraum oberhalb der Straße beachtet werden.

Die Fahrbahnbreite ist insofern von Einfluss auf das Maß der einzuhaltenden Sorgfalt, als mit abnehmender Breite die Möglichkeit eines Ausweichens des Verkehrsteilnehmers erschwert ist. Ebenso beeinflusst die Erkennbarkeit der Gefahrenstelle den Sorgfaltsmaßstab; denn auf einen in das Luftraumprofil der Straße hinein ragenden Baumteil kann sich ein Verkehrsteilnehmer naturgemäß besser einstellen, wenn dieser weithin sichtbar ist, als wenn es an dieser Sichtbarkeit wegen der besonderen örtlichen Gegebenheiten (Kurve, Kuppe) mangelt. Schließlich ist - gerade unter Berücksichtigung des ökologischen Interesses - der Umfang der zu wahrenden Sorgfalt im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht geringer, je höher über der Straße der Baumteil in das Luftraumprofil hinein ragt.

2. Überträgt man diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall, so ist eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht der Beklagten nicht feststellbar.

a) Dabei bedarf es keiner vertiefenden Auseinandersetzung mit der - hier zu bejahenden - Frage, ob der Einzelrichter des Landgerichts verfahrensfehlerhaft gehandelt hat. Der Einzelrichter hat zwar ihm offenbar privat bekannt gewordene Tatsachen zu den örtlichen Verhältnissen im Hainbuchenweg zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht, die von keiner Partei vorgetragen waren, sodass - weil er den Parteien hierzu kein rechtliches Gehör gewährt hat, wozu er ungeachtet einer Beweisbedürftigkeit (vgl. § 291 ZPO) verpflichtet gewesen wäre (vgl. etwa BGH NJWRR 1993, 1122; Zöller-Greger, ZPO, 23. Aufl., § 291 Rn. 3) - ein Verstoß gegen das Verfahrensrecht vorliegt. Für das Ergebnis der landgerichtlichen Entscheidung war dieser Fehler aber nicht ursächlich, weil der Einzelrichter maßgeblich auf das von der Beklagten vorgelegte Ergebnis einer Verkehrszählung abgestellt hat. Die hieraus vom Einzelrichter gezogenen Schlussfolgerungen halten aber einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

b) Beim H#######weg handelt es sich entgegen der Ansicht des Einzelrichters nicht um eine Straße mit "erheblichem Verkehrsaufkommen", vielmehr hat die Verkehrszählung ergeben, dass während eines Zeitraums von 23 Stunden lediglich 50 Lkw den H#######weg in beiden Richtungen passiert haben. Selbst wenn man nicht von dem rechnerisch hieraus folgenden Mittelwert von 2 Lkw pro Stunde ausgeht, sondern die verkehrsarme, insbesondere also die Nachtzeit unberücksichtigt lässt, und lediglich 10 bis 12 Stunden zugrunde legt, in denen Lkw den H####### weg durchfahren, sind pro Stunde nicht mehr als 4 bis 5 Lkw zu erwarten. Der H#######weg ist daher für den Lkw-Verkehr von allenfalls untergeordneter Bedeutung.

Unstreitig ist der Straßenverlauf an der Unfallstelle gerade und gut einsehbar; dies wird durch die zur Akte gereichten Lichtbilder deutlich. Ebenso deutlich sind die am rechten Fahrbahnrand stehenden Birken zu erkennen, deren Schrägstellung gleichfalls einem die eigenübliche Sorgfalt beachtenden Verkehrsteilnehmer nicht verborgen bleiben kann.

c) Allein die Möglichkeit, dass einem Lkw-Fahrer an der Unfallstelle ein anderer Lkw entgegen kommen konnte - was angesichts der oben dargestellten Zahlen zum Verkehrsaufkommen äußerst unwahrscheinlich ist - und dass dann die Aufmerksamkeit des Fahrers auch auf diesen Begegnungsverkehr zu richten war, erhöht die der Beklagten obliegenden Verpflichtung zur Einhaltung der erforderlichen Sorgfalt im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht nicht. Denn wollte man hierin eine geeignete Begründung für die Erhöhung der im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht zu erfüllenden Anforderungen sehen, dann würde eine Differenzierung nach der Verkehrsbedeutung der jeweiligen Straße sinnlos: mit Begegnungsverkehr ist auch auf Straßen von untergeordneter Bedeutung zu rechnen. Es kann daher im Einzelfall für die Frage, ob die Verkehrssicherungspflicht verletzt ist, keinen Unterschied machen, ob in dem Zeitpunkt, in dem ein Kraftfahrzeug gegen einen in den Luftraum oberhalb der Straße hinein ragenden Baumteil gerät, gerade Begegnungsverkehr herrschte oder nicht (Senat a. a. O.).

Berücksichtigt man schließlich, dass im H#######verkehr ohnehin eine einzuhaltende Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h vorgeschrieben war, so hätte der Fahrer des im Eigentum der Klägerin stehenden Lkw gerade angesichts des Umstandes, dass er ein Fahrzeug mit besonders hohem Aufbau führte und die am Straßenrand stehenden Bäume gut sichtbar waren, seine Fahrt nicht am unmittelbaren rechten Fahrbahnrand fortsetzen dürfen, sondern ggf. anhalten müssen.

3. Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1; 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Ende der Entscheidung

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