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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Dresden
Beschluss verkündet am 31.03.2009
Aktenzeichen: 2 AK 6/09
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 121
Die Zurückhaltung von "haftbefehlsreifen" Tatvorwürfen durch die Staatsanwaltschaft zur Erlangung eines gesonderten Haftbefehls ist jedenfalls dann unzulässig, wenn die Taten ohne weiteres bereits Gegenstand eines parallel als Haftsache geführten Strafverfahrens hätten sein und abgehandelt werden können.
Oberlandesgericht Dresden

Aktenzeichen: 2 AK 6/09

Beschluss

vom 31. März 2009

in der Strafsache gegen

wegen vorsätzlicher Körperverletzung u. a. hier: Erste Haftprüfung gemäß § 121 StPO

Tenor:

Der Haftbefehl des Amtsgerichts Dresden vom 17. Februar 2009 wird aufgehoben.

Gründe:

I.

Der Angeklagte befand sich seit seiner Verhaftung am 27. August 2008 zunächst aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts Dresden vom 18. August 2008, der in einem von der Staatsanwaltschaft Dresden gesondert geführten Verfahren (Az.: 431 Js 37589/08) erlassen worden war, in Untersuchungshaft. Der Haftbefehl wurde aufgehoben, nachdem der Angeklagte in jener Sache am 05. März 2009 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt worden war.

In vorliegender Sache erging daneben ein weiterer Haftbefehl des Amtgerichts Dresden am 17. Februar 2009, der nach anfänglicher Überhaftnotierung seit dem 05. März 2009 vollzogen wird.

Das Amtsgericht Dresden hat die Akten zur Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO vorgelegt; die Sechs-Monats-Frist sei abgelaufen, weil die hier verfahrensgegenständlichen Taten bereits in den früheren Haftbefehl des Verfahrens 431 Js 37589/08 hätten aufgenommen werden können; es hält, ebenso wie die Staatsanwaltschaft Dresden, die Fortdauer der Untersuchungshaft für erforderlich.

Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat beantragt, die Fortdauer der Untersuchungshaft anzuordnen.

Der Angeklagte und sein Verteidiger hatten Gelegenheit zur Stellungnahme; sie haben sich nicht geäußert.

II.

Der Senat hat gemäß §§ 121, 122 StPO über die Fortdauer der Untersuchungshaft zu entscheiden, obwohl die Untersuchungshaft formal erst seit dem 05. März 2009 vollzogen wird. Maßgeblich ist dabei, dass bei allen hier verfahrensgegenständlichen Tatvorwürfen mit den Taten des anderweitigen Verfahrens 431 Js 37589/08 Tatidentität im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO vorliegt, weshalb sie in den früheren Haftbefehl hätten aufgenommen werden können und die Sechs-Monats-Frist erreicht ist.

Unter den Begriff "derselben Tat" im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO fallen jedenfalls alle Straftaten von dem Zeitpunkt an, in dem sie unter dem Blickwinkel des dringenden Tatverdachts "bekannt" sind und daher in einen bestehenden Haftbefehl tatsächlich hätten aufgenommen werden können ("Haftbefehlsreife"; - vgl. zum übrigen Meinungs- und Auslegungsstreit die Nachweise bei Paeffgen in SK, § 121 Rdnrn. 8 ff.); dabei kommt es nicht darauf an, ob sie Gegenstand desselben oder getrennter Verfahren sind (OLG Düsseldorf, StV 2004, 496 ff m.w.N.). Entscheidend ist auch nicht der (möglicherweise prozesstaktisch bestimmte) Zeitpunkt, in welchem die Staatsanwaltschaft den dringenden Tatverdacht tatsächlich angenommen hat, sondern in welchem sie ihn hätte annehmen können (vgl. OLG des Landes SachsenAnhalt, Beschluss vom 02. Dezember 2008 - 1 Ws 674/08 -m.w.N.).

III.

Der Haftbefehl in vorliegender Sache ist aufzuheben, weil er am 17. Februar 2009 wegen Tatidentität im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO nicht mehr hätte ergehen dürfen.

1. § 121 Abs. 1 StPO verlangt von den Strafverfolgungsbehörden und den Strafgerichten, dass sie alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen (Meyer-Goßner, StPO 51. Aufl. § 121 Rdnr. 1 m.w.N.). Hierzu gehört es allerdings auch, dass, sofern die Strafverfolgungsbehörde die Anordnung von Untersuchungshaft für erforderlich erachtet, "haftbefehlsreif" bekannte Tatvorwürfe nicht vorgehalten, sondern schnellstmöglich einer gerichtlichen Entscheidung durch Aufnahme in bestehende Haftbefehle zugänglich gemacht werden. Eine "Reservehaltung" von Tatvorwürfen, die den Erlass eines weiteren oder die Erweiterung des bestehenden Haftbefehls rechtfertigen, ist nicht zulässig (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O. Rdnr. 12 m.w.N.).

2. Eine solch unzulässige Vorratshaltung liegt dem hier zu beurteilenden Haftbefehl zugrunde. Der Angeklagte ist der angelasteten Taten, die rechtlich als Beleidigung in zwei tateinheitlichen Fällen gemäß §§ 185, 52 StGB, Beleidigung in Tateinheit mit versuchter Nötigung gemäß §§ 185, 240 Abs. 1, 22, 23, 52 StGB und als vorsätzliche Körperverletzung in zwei Fällen gemäß §§ 223 Abs. 1, 53 StGB zu werten sind, dringend verdächtig. Zwar macht er selbst zu den Tatvorwürfen keine Angaben, er wird jedoch durch die eindeutigen Aussagen der jeweils Geschädigten belastet, an deren Glaubhaftigkeit derzeit keine Zweifel bestehen. Auch besteht grundsätzlich Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO, nachdem der Angeklagte bereits im anderweitigen Verfahren gezeigt hatte, dass er fluchtanfällig ist. Er hatte seiner richterlichen Vernehmung vom 27. August 2008 zufolge "übelsten Schiss", verhaftet zu werden. Die Angst hatte gerade dazu geführt, dass der Angeklagte geraume Zeit "untergetaucht" war.

Sämtliche Tatvorwürfe hätten jedoch ohne Weiteres bereits Gegenstand von Haftbefehl und Anklageschrift im anderweitigen Verfahren 431 Js 37589/08 sein können; sie waren spätestens am 20. August 2008 "haftbefehlsreif" bekannt.

Die erste Tat des vorliegenden Verfahrens war am 02. Juni 2008 begangen worden, wobei zwei Polizeibeamte beleidigt wurden. Bei der Bedrohung und versuchten Nötigung vom 17. Juli 2008 wurde der Angeklagte von der Geschädigten noch am selben Tag zweifelsfrei identifiziert. Selbst bei den vorsätzlichen Körperverletzungen vom 28. Juli 2008 (Nrn. 3. und 4. des Haftbefehls) lag der dringende Tatverdacht spätestens vor, nachdem einer der Geschädigten den Angeklagten auf einem Pressefoto zweifelsfrei wiedererkannt und sich am 20. August 2008 bei der Polizei gemeldet hatte.

Dem verfahrensgegenständlichen Haftbefehl liegen damit ausschließlich Taten zugrunde, die entweder deutlich vor Erlass des anderweitigen Haftbefehls vom 18. August 2008 "bekannt" waren oder kurze Zeit später in diesen hätten aufgenommen werden können, zumal Anklage im dortigen Verfahren erst am 18. November 2008 erhoben worden war. Dann aber wären die Taten heute nicht mehr Gegenstand eines eigenständigen Haftbefehls, sondern - auch angesichts der übersichtlichen Beweislage - im gesondert geführten Strafverfahren spätestens am 05. März 2009 mit abgehandelt worden. Deshalb war es unzulässig, den neuen Haftbefehl auf diese Tatvorwürfe zu stützen. Er wird aufgehoben.

3. Überdies waren die Ermittlungen bereits Ende Oktober 2008 abgeschlossen; seither sind keine nennenswerten Ermittlungshandlungen mehr zu verzeichnen. Statt dessen wurde erst am 08. Januar 2009 Anklage erhoben, der Erlass des hier maßgeblichen Haftbefehls wurde gar erst am 09. Februar 2009 beantragt.

Zudem wäre der weitere Vollzug der Untersuchungshaft angesichts des Gewichts der Vorwürfe auch nicht verhältnismäßig (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Im Hinblick darauf, dass die einschneidendste Strafe, die der Angeklagte bisher erfahren musste, ein Jugendarrest von einer Woche war und er bislang mit Gewaltdelikten kaum in Erscheinung trat, rechtfertigen die Tatvorwürfe im vorliegenden Verfahren für sich allein gesehen kaum die Erwartung einer empfindlichen Freiheitsstrafe. Dies gilt erst recht, nachdem die Taten nun über neun Monate zurückliegen. Dies hat offenbar auch die Staatsanwaltschaft so gesehen, hat sie doch über Monate hinweg von der Beantragung eines Haftbefehls abgesehen.

Ende der Entscheidung

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