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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Dresden
Beschluss verkündet am 06.02.2008
Aktenzeichen: 2 VAs 20/07
Rechtsgebiete: StPO, StVollstrO, GG, StPO, SächsMG


Vorschriften:

StPO § 457
StVollstrO § 33
GG Art. 103
StPO § 33a
SächsMG § 16
1. Ein Vollstreckungshaftbefehl ist aufzuheben, wenn sich nachträglich ergibt, dass die aus einer ex-ante-Sicht seinen Erlass rechtfertigenden Umstände in Wahrheit nicht bestehen und nicht bestanden haben.

2. Zur Ermittlung der aktuellen Wohnanschrift eines aus der Strafhaft nach "unbekannt" Entlassenen ist regelmäßig eine Anfrage beim Einwohnermeldeamt am Sitz der Justizvollzugsanstalt angezeigt.


Oberlandesgericht Dresden

2. Strafsenat

Aktenzeichen: 2 VAs 29/07

Beschluss

vom 06. Februar 2008

in der Strafvollstreckungssache

wegen Nötigung u.a.

hier: Feststellung der Rechtswidrigkeit des Vollstreckungshaftbefehls

Tenor:

1. Auf Antrag des Verurteilten wird festgestellt, dass Aufrechterhaltung und Vollzug des Vollstreckungshaftbefehls der Staatsanwaltschaft Zwickau vom 30. Oktober 2007 rechtswidrig waren.

2. Das Verfahren ist gebührenfrei. Die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers trägt die Staatskasse.

3. Der Geschäftswert wird auf 3.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe:

I.

Mit Urteil des Amtsgerichts Zwickau vom 05. Dezember 2006, rechtskräftig seit dem 07. September 2007, wurde gegen den Antragsteller wegen Nötigung, Beleidigung und Betrugs eine Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Monaten verhängt.

Zum Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft befand sich der Antragsteller wieder auf freiem Fuß, nachdem er sich zuvor in anderen Sachen bis zum 31. August 2007 in nahezu zweijähriger Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt P. befunden hatte. Bei seiner Entlassung aus dem Strafvollzug am 31. August 2007 hat er keine genaue Wohnanschrift als Entlassungsadresse genannt. Seinem - unbestätigten - Vortrag nach hatte er allerdings gegenüber der Justizvollzugsanstalt angegeben, in C. auf Wohnungssuche zu gehen. Er wurde daher in den Unterlagen der Justizvollzugsanstalt als "ohne festen Wohnsitz entlassen" geführt.

Zur Vorbereitung der in vorliegender Sache anstehenden Strafvollstreckung ergingen auf Verfügung der zuständigen Rechtspflegerin der Staatsanwaltschaft Zwickau am 15. Oktober 2007 zwei Wohnsitzanfragen an die Einwohnermeldeämter in G. und A., weil der Antragsteller hier zuletzt vor Antritt seiner Strafhaft amtlich gemeldet war. Das Einwohnermeldeamt A. teilte als Wegzugsanschrift und als damit zuletzt bekannten Wohnsitz des Antragstellers die Anschrift der Justizvollzugsanstalt Plauen mit. Eine bei seinem früheren Verteidiger erfolgte Anfrage der Vollstreckungsrechtspflegerin verlief negativ. Weitere Aufenthaltsermittlungsversuche unterblieben.

Mit Verfügung vom 29. Oktober 2007 ordnete die zuständige Rechtspflegerin den Erlass eines Vollstreckungshaftbefehls nach § 457 Abs. 2 StPO, § 33 Abs. 2 StVollstrO an. Der Antragsteller wurde daraufhin am 08.November 2007 aufgrund des am 30. Oktober 2007 erlassenen und zugleich zur Festnahme des Antragstellers ausgeschriebenen Haftbefehls verhaftet und in die Justizvollzugsanstalt verbracht, nachdem er zuvor in anderer Ermittlungssache einer Vorladung der Polizei zur Zeugenvernehmung gefolgt war. Tatsächlich war der Antragsteller seit dem 06. September 2007 (mit Zuzug am 03. September 2007) beim Einwohnermeldeamt Chemnitz unter seiner neuen Anschrift gemeldet. Hiervon von der Polizei anlässlich der beabsichtigten Verhaftung am 08. November 2007 gegen 09.00 Uhr telefonisch in Kenntnis gesetzt, verfügte die zuständige Rechtspflegerin die Aufrechterhaltung und den Vollzug des Vollstreckungshaftbefehls.

Mit Schreiben vom 08. November 2007 erhob der Antragsteller "Haftbeschwerde" und begehrte seine sofortige Freilassung. Zu Unrecht habe es die Staatsanwaltschaft unterlassen, sich beim "zentralen Einwohnermelderegister" kundig zu machen. Durch die unrechtmäßige Verhaftung sei darüber hinaus sein sich im Aufbau befindendes Gewerbe eines Werkzeugverleihs ruiniert. Im Einzelnen nimmt der Senat auf das Schreiben des Antragstellers vom 08. November 2007 Bezug.

Die Generalstaatsanwaltschaft hält das Begehren des Antragstellers mit ihrem zuletzt gestellten Antrag zwar als Feststellungsantrag für zulässig, in der Sache indes für unbegründet.

II.

Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist zulässig.

Zwar ist der Vollstreckungshaftbefehl mit der Aufnahme des Antragstellers im Strafvollzug gegenstandslos geworden, weil die Vollstreckung der Haft nicht auf ihm, sondern allein auf dem zu vollstreckenden rechtskräftigen Urteil beruht (OLG Hamm NStZ 1982, 524; OLG Frankfurt NStZ-RR 2002, 224; OLG Hamm StV 2005, 676). Doch kommt die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit einer solcherart erledigten Maßnahme nach § 28 Abs. 1 S. 4 EGGVG dann in Betracht, wenn ein berechtigtes Interesse vorliegt. Ein solches besteht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch zur Klärung schwerwiegender Grundrechtseingriffe, wenn deren direkte Belastung sich auf eine Zeitspanne beschränkt, in der der Betroffene nach der maßgeblichen Prozessordnung regelmäßig eine gerichtliche Entscheidung nicht erlangen kann (vgl. BVerfG NJW 1997, 2163 ff.). Dabei bleibt das Rechtsschutzinteresse an einer gerichtliche Überprüfung auch dann erhalten, wenn - wie hier - nicht die auf dem rechtskräftigen Urteil beruhende (vgl. BVerfG NStZ-RR 2004, 252 ff.; OLG Frankfurt a.a.O.) Freiheitsentziehung als solche, sondern die besonders einschneidende, weil am Maßstab des einfachen Rechts eklatant fehlerhafte und unverhältnismäßige Art und Weise ihrer Durchführung geltend gemacht wird (vgl. BVerfG a.a.O; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 249 ff.).

Danach ist vorliegend ein Feststellungsinteresse gegeben. Weil die den Erlass eines Vollstreckungshaftbefehls regelnden Vorschriften des § 457 StPO und der - die Vollstreckungsbehörden bindende (vgl. Fischer in KK-StPO 5. Aufl., § 457 Rdnr. 1) - Strafvollstreckungsordnung einen angemessenen Ausgleich zwischen dem öffentlichen Interesse, die Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe sicherzustellen, und dem Interesse des Verurteilten, seine Angelegenheiten vor Antritt der Haft zu ordnen, anstreben und die Einhaltung des dort vorgeschriebenen Verfahrens die Verhältnismäßigkeit der Art und Weise der Durchsetzung des Strafantritts sichert (vgl. BVerfG a.a.O.), ist wegen der in Rede stehenden erheblichen Verstöße gegen diese Vorschriften bei Erlass und Vollzug des Haftbefehls eine nachträgliche Kontrolle der Zwangsmaßnahme geboten (vgl. OLG Karlsruhe a.a.O.).

III.

Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat auch in der Sache Erfolg; er führt zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Aufrechterhaltung des Vollstreckungshaftbefehls.

1. Nach § 457 Abs. 2 S. 1 1. Alt. StPO ist die Vollstreckungsbehörde zum Erlass eines Vollstreckungshaftbefehls befugt, wenn der Verurteilte sich nach einer an ihn ergangenen Ladung nicht zum Strafantritt stellt. Dabei bestimmt § 27 Abs. 2 S. 1 StVollstrO, dass der verurteilten Person bei der Ladung zum Strafantritt grundsätzlich eine Frist von einer Woche zu setzen ist, damit diese ihre Angelegenheiten ordnen kann. Nur wenn die sofortige Vollstreckung geboten ist (wobei auch hier konkrete Umstände vorliegen müssen), darf der Verurteilte zum sofortigen Strafantritt geladen werden. Damit kommt bereits in diesen Vorschriften ein Regel-Ausnahme-Verhältnis auf Grundlage des verfassungsrechtlich hergeleiteten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zum Ausdruck.

Entsprechend erlaubt auch § 457 Abs. 2 S. 1 2. Alt. StPO den Erlass eines Vollstreckungshaftbefehls nur, wenn ein Verurteilter der Flucht verdächtig ist. Wenngleich in diesem Fall von einer Ladung abgesehen werden kann, besteht Fluchtverdacht allerdings nur, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen der Verdacht naheliegt, dass sich der Verurteilte der Strafvollstreckung in irgendeiner Weise entziehen werde.

Diese Voraussetzungen für den Erlass eines Vollstreckungshaftbefehls waren vorliegend unter Berücksichtigung des der Vollstreckungsbehörde in dieser Frage eröffneten Beurteilungsspielraums erfüllt. Aus der damaligen Sicht der Behörde lagen Tatsachen vor, die einen Schluss auf eine - wenngleich auch tatsächlich nicht gegebene - Fluchtabsicht des Antragstellers berechtigt zuließen.

a) Der Umstand, dass das Einwohnermeldeamt A. als zuletzt bekannten Wohnsitz die Anschrift der Justizvollzugsanstalt benannte, diese allerdings den Antragsteller als "ohne festen Wohnsitz" entlassen hatte und auch der Verteidiger keine Aussage über den derzeitigen Aufenthalt des Antragstellers treffen konnte, rechtfertigte aus damaliger Sicht die Annahme des Verdachts, der Antragsteller werde sich der Strafvollstreckung zu entziehen suchen. Gerade vor dem Hintergrund, dass der Antragsteller bei seiner Entlassung aus der Strafvollzugsanstalt am 31. August 2007 keinen bestimmten Wohnsitz angeben konnte, und er offenbar auch in der Folgezeit seinen Verteidiger nicht informiert hatte, obwohl dieser in dem damals noch vom Antragsteller veranlassten Revisionsverfahren beauftragt war, waren keine weiteren zusätzlichen Umstände erforderlich, um den Schluss zu rechtfertigen, dass sich der Antragsteller dem Vollstreckungsverfahren nicht stellen werde, dass er seine Erreichbarkeit für die Vollstreckungsbehörde ausschaltet.

b) Vor diesem Hintergrund kann der Tatsache, dass die Vollstreckungsrechtspflegerin eine an sich gebotene Anfrage bei dem Einwohnermeldeamt in Plauen als der Gemeinde des zuletzt gemeldeten Wohnsitzes unterlassen hat, kein maßgebliches Gewicht beigemessen werden. Zwar lag es angesichts der vom Einwohnermeldeamt A. erteilten Auskunft nahe, dass diese Behörde ihre Kenntnis gemäß § 28 Abs. 1 des Sächsischen Meldegesetzes (SächsMG) vom Einwohnermeldeamt Plauen erhalten hatte. Denn immerhin erfolgt unter den Voraussetzungen der §§ 10 Abs. 1, 16 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 3 SächsMG eine Wohnsitzanmeldung für Strafgefangene am Sitz der Justizvollzugsanstalt. Damit lag es grundsätzlich gleichfalls nahe, dass auch diese Behörde über weitere Erkenntnisse zum aktuellen Wohnsitz des Antragstellers aufgrund einer Mitteilung durch die neue Zuzugsgemeinde nach § 28 Abs. 1 SächsMG verfügen könnte.

Angesichts der (immerhin behördlichen) Auskunft der Justizvollzugsanstalt, der zufolge eine Entlassung des Antragstellers "ohne festen Wohnsitz" erfolgt war, musste sich diese Möglichkeit der Auskunftserlangung der Vollstreckungsrechtspflegerin jedoch nicht mehr aufdrängen. Sie durfte im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums vorliegend ausnahmsweise berechtigt davon ausgehen, dass sich der Antragsteller dem Strafvollstreckungsverfahren nicht zur Verfügung halten wird.

c) Auch stand der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz angesichts der zu vollstreckenden Freiheitsstrafe von fünf Monaten dem Erlass eines Vollstreckungshaftbefehls und die Ausschreibung des Antragsteller zur Festnahme nicht entgegen, § 457 Abs. 1 und Abs. 3 S. 2, § 131 StPO, § 34 StVollstrO.

2. Allerdings hätte der Vollstreckungshaftbefehl am 08. November 2007 (Anruf der Polizei) unverzüglich aufgehoben und der Antragsteller auf freien Fuß gesetzt werden müssen, nachdem die Umstände, die zunächst die Annahme einer Fluchtgefahr gerechtfertigt hatten, sich nachträglich als unzutreffend herausstellten. Dies war nach dem Rechtsgedanken des Art. 103 Abs. 1 GG, § 33 a StPO geboten, weil sich - polizeilich bestätigt - nachträglich ergeben hatte, dass die Voraussetzungen des § 457 Abs. 2 StPO in Wahrheit nicht erfüllt waren.

Die Staatsanwaltschaft hätte, nachdem ihr die aktuelle Wohnanschrift des Antragstellers bekannt war, sich an die sie bindenden Vorgaben der Strafvollstreckungsord-nung für den Regelfall halten müssen, zumal auch aus dem Verhalten des Antragstellers im Übrigen ersichtlich war, dass er sich der Erreichbarkeit durch die Justizbehörden nicht entziehen will. Immerhin war dieser mit der Anmeldung seines neuen Wohnsitzes in Chemnitz seiner einwohnermelderechtlichen Verpflichtung aus § 10 Abs. 1 SächsMG ordnungsgemäß nachgekommen und hatte sich darüber hinaus selbst (auf polizeiliche Bitte hin) als Zeuge auf der Polizeidienststelle eingefunden. Die Staatsanwaltschaft hätte daher den Antragsteller ordnungsgemäß unter üblicher Fristgewährung zur Regelung seiner persönlichen Angelegenheiten zum Straf- antritt laden müssen. Denn nur die Einhaltung dieses in der Strafvollstreckungsordnung bindend vorgeschriebenen Verfahrens sichert die Verhältnismäßigkeit der Art und Weise der Durchsetzung des Strafantritts (vgl. BVerfG a.a.O.)

Die stattdessen verfügte Aufrechterhaltung des Vollstreckungshaftbefehls sowie sein Vollzug verstießen gegen die Vorschrift des § 457 Abs. 2 StPO und waren mithin rechtswidrig.

IV.

Da die angefochtene Verfügung für rechtswidrig erklärt wurde, sind Gebühren nicht zu erheben. Die Entscheidung über die Auslagen des Antragstellers beruht auf § 30 Abs. 2 EGGVG. Der Geschäftswert wurde nach den §§ 30 Abs. 3 EGGVG, 30 Abs. 2 KostO festgesetzt.

Ende der Entscheidung

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