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Gericht: Oberlandesgericht Dresden
Beschluss verkündet am 03.03.2009
Aktenzeichen: 2 Ws 84/09
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 112
StPO § 116
Der verfassungsrechtlich zu beachtende Maßstab für die Wiederinvollzugsetzung eines ausgesetzten Haftbefehls nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO wegen veränderter Sachlage gilt erst recht, wenn der frühere Haftbefehl nicht nur außer Vollzug gesetzt, sondern gerade wegen Nichtvorliegens des nunmehr erneut angenommenen Haftgrundes (hier: Fluchtgefahr) sogar aufgehoben worden war.
Oberlandesgericht Dresden

Aktenzeichen: 2 Ws 84/09

Beschluss

vom 03. März 2009

in der Strafsache gegen

wegen schwerer Körperverletzung u. a. hier: Haftbeschwerde

Tenor:

Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Haftbefehl des Landgerichts Leipzig (Az.: 7 KLs 300 Js 27545/08) vom 10. Februar 2009 aufgehoben.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten hat die Staatskasse zu tragen.

Gründe:

I.

Der Beschwerdeführer wurde vom Landgericht Leipzig am 10. Februar 2009 wegen "gefährlicher Körperverletzung und wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung" zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, da der Angeklagte Revision eingelegt hat. Im Anschluss an die Urteilsverkündung erging gegen den bis dahin (wieder) auf freiem Fuß befindlichen Beschwerdeführer Haftbefehl wegen Fluchtgefahr.

Die Strafkammer sah nach Durchführung der Hauptverhandlung dringende Gründe für die Annahme, dass der Angeklagte seinem am 22. April 2008 geborenen Sohn am 23. Mai 2008 und am 31. Mai 2008 in erheblich schuldgemindertem Zustand jeweils einmal derart - möglicherweise mit der Hand - gegen den Kopf geschlagen hat, dass der Säugling hierdurch schwere Kopf- und Hirnverletzungen mit akuter Lebensgefahr davongetragen hat. Der andernfalls sehr wahrscheinliche Tod des Kindes konnte, nachdem der Angeklagte es selbst in die Universitäts-Kinderklinik Leipzig verbracht hatte, durch intensivmedizinische Maßnahmen verhindert werden. Durch die Gewalteinwirkungen erlitt neben vielfachen Brüchen des Schädeldaches und großflächigen Einblutungen in das Hirngewebe u. a. als bleibende Folge eine irreversible Totalschädigung der linken Hirnhälfte mit der sicheren Folge einer dauerhaft halbseitigen Lähmung, epileptischen Anfällen sowie geistiger Behinderung. Wegen der Einzelheiten nimmt der Senat auf die Darlegungen im Haftbefehl Bezug.

Der Angeklagte und seine Verteidigerin haben mit ihrer Beschwerde, der die Strafkammer nicht abgeholfen hat, beantragt, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise außer Vollzug zu setzen. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen.

II. Die Beschwerde führt zur Aufhebung des Haftbefehls.

1. Bei einer Haftentscheidung eines erkennenden Gerichts aufgrund einer vorangegangenen Hauptverhandlung ist die Nachprüfung durch das Beschwerdegericht darauf beschränkt, ob die Entscheidung auf die in der Hauptverhandlung gewonnenen wesentlichen Tatsachen gestützt ist und auf einer vertretbaren Bewertung des Beweisergebnisses beruht (BGH StV 1991, 525; OLG Karlsruhe StV 1997, 312). Da dem Senat die volle Kenntnis vom Ergebnis der Beweisaufnahme fehlt, kann der angefochtene Beschluss insoweit nur eingeschränkt überprüft werden (OLG Frankfurt StV 1995, 593).

Die Ausführungen der Strafkammer genügen den Anforderungen an eine in sich schlüssige und vertretbare Darlegung des dringenden Tatverdachts gegen den insoweit geständigen Angeklagten. Auch die Voraussetzungen des erfolgsqualifizierten Delikts nach § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB (schwere Körperverletzung) liegen den Darlegungen zufolge vor.

2. Indes sind die Erwägungen der Strafkammer zum Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO im Ergebnis nicht geeignet, die (erneute) Anordnung der Untersuchungshaft zu rechtfertigen. Untersuchungshaft im Sinne des § 112 StPO dient nicht der Vorwegnahme künftiger Strafhaft (KK-Graf, StPO 6. Aufl. Rdnr. 12 vor § 112).

Sie hat ausschließlich den Zweck, "die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherzustellen" (BVerfGE 32, 87, 93).

a) Zwar ist der Strafkammer darin beizupflichten, dass von einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren ein erheblicher Fluchtanreiz ausgeht. Diese hohe Straferwartung kann aber grundsätzlich nicht allein die Fluchtgefahr begründen (KK-Graf, a.a.O. Rdnr. 19 zu § 112). Sie ist bei der Beurteilung der Fluchtgefahr vielmehr nur Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht auch unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass die Annahme gerechtfertigt ist, der Angeklagte werde ihm wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden; dabei mögen diese weiteren Umstände ihr Gewicht verlieren, je höher die Strafe ist. Insgesamt müssen jedoch, wie sich aus dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes ergibt, "bestimmte Tatsachen" vorliegen, die den Schluss rechtfertigen, der Angeklagte werde dem in der Straferwartung liegenden Fluchtanreiz nachgeben (OLG Köln StV 1995, 419; Meyer-Goßner, StPO 51. Aufl. Rdnr. 24 m.w.N.). Solche konkreten Tatsachen lassen sich in der Gesamtschau vorliegend indessen nicht feststellen.

aa) Die Beurteilung der Fluchtgefahr erfordert insbesondere die Berücksichtigung der Lebensverhältnisse des Angeklagten und seines bisherigen Verhaltens während des Verfahrens (OLG Hamm OLG StPO § 112 Nr. 15, m.w.N.). Insoweit ist maßgeblich darauf abzustellen, dass sich der Angeklagte dem gesamten bisherigen Verfahren auch in Kenntnis der zwischenzeitlich bei dem Kleinkind eingetretenen schweren Verletzungsfolgen (und damit des in Rede stehenden Strafrahmens nach § 226 StGB) gestellt hat. Er ist überdies nur unbedeutend vorbestraft und durch die im Vorfeld bereits erlittene Untersuchungshaft sichtlich beeindruckt. Er weiß - und wünscht es selbst -, dass er für seine Taten, unter denen er selbst leidet, zur Verantwortung gezogen werden muss. In diesem Zusammenhang hat er auch die Schadenersatzforderung der Nebenklage im Verfahren anerkannt. Die Tatsache, dass er gegen das Urteil Revision eingelegt hat, erlaubt gleichfalls nicht den Schluss, der Angeklagte werde nunmehr dem Fluchtanreiz nachgeben und flüchtig werden. Im Übrigen kann das Revisionsverfahren auch ohne Anwesenheit des Angeklagten durchgeführt werden (vgl. §§ 349, 350 StPO), weshalb es zu seiner Sicherung nicht der Inhaftierung des Angeklagten bedarf.

bb) Bereits am 12. Dezember 2008 hatte der Senat den damals bestehenden Haftbefehl aufgehoben und den Angeklagten aus der Untersuchungshaft entlassen (2 AK 37/08), weil schon damals kein Haftgrund, insbesondere nicht der Haftgrund der Fluchtgefahr zu begründen war. Der Senat war bereits damals -auch in Kenntnis der gutachterlich dargelegten Persönlichkeit des Angeklagten - zu der Auffassung gelangt, "dass sich der Angeklagte dem Verfahren stellen" werde. Dieses in ihn gesetzte Vertrauen hat der Angeklagte trotz der Belastung der Hauptverhandlung, die überdies von einem besonderen Medieninteresse geprägt war, und trotz seiner "Defizite" in Person und Persönlichkeit, mit der die Strafkammer ihre Haftentscheidung allein begründet, bisher nicht enttäuscht.

Der Senat verkennt nicht, dass es sich bei dem Angeklagten dem testpsychologischen Zusatzgutachten zum forensich-psychiatrischen Hauptgutachten des Sachverständigen Winckler zufolge um eine introvertierte, psychisch labile, impulsive Persönlichkeit handelt, die leicht kränkbar und misstrauisch ist. Zugleich wird ihm aber eine durchschnittliche Intelligenz bescheinigt, so dass ihm durchaus die Einsicht, mit einem (im Ergebnis erfolglosen) Flüchtigwerden im weiteren Verfahrensverlauf alle Möglichkeiten im Vollstreckungsverfahren (von zeitnahen Vollzugslockerungen bis hin zu günstigen Kriminalprognosen, u.a.) zu zerstören, unterstellt werden kann.

cc) Das Bundesverfassungsgericht (Strafverteidiger 2008, 25 ff., m.w.N. auf die obergerichtliche Rechtsprechung) hat schon für Fälle, in denen ein Haftbefehl lediglich außer Vollzug gesetzt worden war, bestimmt, dass jede neue haftrechtliche Entscheidung, die den Wegfall der Haftverschonung zur Folge hat, nur unter den eingeschränkten Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO möglich ist. Der erneute Vollzug des Haftbefehls durch den Richter kommt nach Nr. 3 jener Vorschrift nur dann in Betracht, wenn neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machen.

"Neu" im Sinne dieser Vorschrift sind nachträglich eingetretene oder nach Erlass des Aussetzungsbeschlusses bekannt gewordene Umstände indes nur dann, wenn sie die Gründe des Haftverschonungsbeschlusses in einem so wesentlichen Punkt erschüttern, dass eine Aussetzung nicht bewilligt worden wäre, wenn sie bei der Außervollzugsetzungsentscheidung bereits bekannt gewesen wären. Das maßgebliche Kriterium für den Widerruf besteht somit im Wegfall der Vertrauensgrundlage der Aussetzungsentscheidung.

An die Beurteilung der Umstände, auf denen die Aussetzung beruht, ist das Gericht grundsätzlich gebunden. Eine nachträglich lediglich andere Beurteilung bei gleichbleibender Sachlage rechtfertigt den Widerruf daher nicht. Vielmehr ist angesichts der Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) die Schwelle für eine Widerrufsentscheidung grundsätzlich sehr hoch anzusetzen. Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung ist stets zu berücksichtigen, ob der Angeklagte inzwischen Gelegenheit hatte, sein Verhalten gegenüber dem Strafverfahren zu dokumentieren und das in ihn gesetzte Vertrauen (vgl. hierzu § 116 Abs. 4 Nr. 2 StPO) namentlich durch strikte Beachtung der ihm erteilten Auflagen, zu rechtfertigen.

Zwar können auch ein nach der Haftverschonung ergangenes (nicht rechtskräftiges) Urteil oder ein hoher Strafantrag der Staatsanwaltschaft grundsätzlich geeignet sein, die (Wieder)Invollzugsetzung eines Haftbefehls zu rechtfertigen. Dies setzt aber voraus, dass der Rechtsfolgenausspruch des Tatrichters oder die von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafe von der Prognose des Haftrichters erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht und sich dadurch der Fluchtanreiz wesentlich erhöht. Ein solcher Fall ist vorliegend indes nicht gegeben.

Selbst der Umstand, dass ein um ein günstiges Ergebnis bemühter Angeklagter infolge des Schlussantrags der Staatsanwaltschaft oder gar durch das Urteil selbst die Vergeblichkeit seiner Hoffnungen erkennen muss, kann einen Widerruf der Haftverschonung nicht rechtfertigen, sofern ihm die Möglichkeit eines für ihn ungünstigen Ausgangs stets vor Augen stand und der gleichwohl allen Auflagen beanstandungsfrei nachkam. Insoweit setzt sich der vom Angeklagten auf der Grundlage des Verschonungsbeschlusses gesetzte Vertrauenstatbestand als Ausprägung der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung durch.

b) Diese Maßstäbe, die von der Strafkammer zu wenig beachtet worden sind, haben nicht nur dann zu gelten, wenn der Vollzug eines Haftbefehls ausgesetzt wird, sondern erst Recht auch dann, wenn der Haftbefehl -wie hier - aufgehoben worden ist. Anhaltspunkte für eine berechtigt abweichende Beurteilung der Sachverhalte sind in Anbetracht ihrer Vergleichbarkeit nicht zu erkennen (vgl. dazu auch OLG Hamm StV 2008).

Nachdem das Bundesverfassungsgericht selbst in einem Fall, in dem es um den Verdacht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in Tateinheit mit Beihilfe zu Mord in 3.116 Fällen, in welchen der Angeklagte mit einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren zu rechnen hatte, die Wiederinvollzugsetzung eines Haftbefehls nach Urteil für "verfassungswidrig" (vgl. BVerfG, StV 2006, 139 ff) erklärt hatte, weil der Angeklagte vom Vollzug verschont war und alle Auflagen erfüllt hatte, hebt der Senat den Haftbefehl auf, § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO.

III.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Staatskasse zu tragen, nachdem ein anderer Kostenschuldner nicht ersichtlich ist. Die Auslagenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 StPO.

Ende der Entscheidung

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