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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Dresden
Urteil verkündet am 09.09.2008
Aktenzeichen: 5 U 762/08
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 253 Abs. 2
BGB § 254 Abs. 1
BGB § 823 Abs. 1
1. Treffen sich befreundete Schüler zum gemeinsamen Musikhören, ist eine bei dieser Gelegenheit durch einen Schuss mit einer so genannten "Soft-air"-Waffe verursachte Augenverletzung eines Beteiligten auch dann nicht als Folge der Teilnahme an einem sportlichen Kampfspiel anzusehen, wenn der Verletzte mit einer ähnlichen Waffe dabei selbst auf den Schützen geschossen hat.

2. Zur Frage des (hier verneinten) Mitverschuldens des Geschädigten in einem solchen Fall.


Oberlandesgericht Dresden IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

Aktenzeichen: 5 U 762/08

Verkündet am 09.09.2008

In dem Rechtsstreit

wegen Schmerzensgeld

hat der 5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Dresden aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 26.08.2008 durch

Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Sch , Richter am Oberlandesgericht Dr. L und Richter am Oberlandesgericht A

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Einzelrichters der 8. Zivilkammer des Landgerichts Dresden vom 10.04.2008, Az. 8 O 3152/07, abgeändert. Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger alle künftigen materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die aufgrund der Verletzung des linken Auges des Klägers infolge des Schusses vom 19. August 2006 entstanden sind, soweit der Anspruch nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen ist.

2. Von den Kosten der 1. Instanz hat der Kläger 70 % und der Beklagte 30 % zu tragen. Die Kosten der 2. Instanz hat der Beklagte allein zu tragen.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Streitwert des Berufungsverfahrens:

bis zur Rücknahme der Anschlussberufung 3.000,00 EUR

nach Rücknahme der Anschlussberufung 1.500,00 EUR

Tatbestand:

Der damals 16-jährige Kläger und der 19 Jahre alte Beklagte trafen sich am 19. August 2006 in der Wohnung der Eltern des Beklagten, um in dessen Zimmer gemeinsam mit dem Zeugen F Musik zu hören. Der Beklagte holte nach einer gewissen Zeit eine in seinem Besitz befindliche "Soft-air"-Pistole hervor und schoss damit auf den Kläger und F, die den Beklagten darum baten, mit dem Schießen aufzuhören. Sie versuchten, sich mit Kissen vor den Schüssen zu schützen. Schließlich konnte F dem Beklagten die Pistole wegnehmen. Der Beklagte holte darauf ein "Soft-air"-Gewehr und schoss damit vom Flur der Wohnung durch die einen Spalt geöffnete Tür in das Zimmer auf den Kläger und F. Der Kläger nahm die Pistole und schoss damit in Richtung des Beklagten, wobei er sich ein Kissen vor das Gesicht hielt. Er wurde durch einen vom Beklagten abgegebenen Schuss aus dem Gewehr am Auge getroffen und verletzt.

Der Kläger fordert Schmerzensgeld und die Feststellung, dass der Beklagte zum Ersatz noch eintretender Schäden verpflichtet sei. Das Landgericht hat der Klage nur zum Teil stattgegeben und ist dabei von einem hälftigen Mitverschulden des Klägers ausgegangen. Die Berufung des Klägers, die nur den Feststellungsantrag zum Gegenstand hatte, war erfolgreich.

Gründe:

I.

Die Parteien haben in 1. Instanz um Schmerzensgeld und Feststellung der Ersatzpflicht des Beklagten wegen einer Verletzung des Klägers gestritten. In 2. Instanz ist nur noch die Feststellung der Ersatzpflicht für alle künftigen materiellen und immateriellen Schäden zu 100 % im Streit.

Das Landgericht, auf dessen Entscheidung für den Sachverhalt und die erstinstanzlich gestellten Anträge Bezug genommen wird, ist von einem hälftigen Mitverschulden des Klägers ausgegangen.

Mit seiner Berufung macht der Kläger geltend, das Landgericht habe zu Unrecht ein Mitverschulden angenommen. Der Kläger habe sich nicht in die Lage einer bewussten Eigengefährdung begeben. Es habe keine Verabredung zum Schießen gegeben. Der Beklagte sei zum Aufhören aufgefordert worden. Der Kläger habe auch keine Möglichkeit gehabt, dem Schießen zu entgehen. Die Schüsse, die der Kläger selbst abgegeben habe, hätten nur den Beklagten vom Schießen abhalten sollen.

Der Kläger beantragt:

Unter Abänderung des am 10. April 2008 verkündeten Urteils des Landgerichts Dresden, Az. 8 O 3152/07, wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger alle zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden zu 100 % zu ersetzen, die aufgrund der Verletzung des linken Auges infolge des Schusses vom 19. August 2006 entstanden sind, soweit der Anspruch nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen ist.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er macht geltend, dass der Kläger die Wohnung hätte verlassen können. Die Schüsse seien mehrfach hin und her gegangen. Es sei auch zu beachten, dass der Kläger das Kissen vom Gesicht genommen habe.

II.

Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet. Die vom Kläger begehrte Feststellung der Ersatzpflicht für materielle und immaterielle Schäden ist ohne Einschränkung auszusprechen.

1. Die Feststellungsklage ist gemäß § 256 ZPO zulässig. Es besteht ein Feststellungsinteresse, da vom Beklagten eine Schadensersatzpflicht geleugnet wird und der Kläger angesichts der erlittenen Verletzungen noch Spätfolgen zu befürchten hat. Insbesondere besteht nach den vorgelegten Unterlagen angesichts der erlittenen Contusio bulbi ein erhöhtes Risiko einer Netzhautablösung.

2. Dem Grunde nach ergibt sich der Anspruch des Klägers aus § 823 Abs. 1 BGB im Hinblick auf die durch den Schuss des Beklagten erlittene Verletzung des Körpers. Der immaterielle Schaden ist gemäß § 253 Abs. 2 BGB zu ersetzen, indem eine billige Entschädigung in Geld zu leisten ist.

3. Die Ersatzpflicht des Beklagten ist nicht unter dem Gesichtspunkt der Teilnahme an einem Kampfspiel oder des selbstwidersprüchlichen Verhaltens ausgeschlossen.

Der Teilnehmer an einem sportlichen Kampfspiel nimmt grundsätzlich Verletzungen in Kauf, die auch bei regelgerechtem Spielen nicht zu vermeiden sind, so dass ein Schadensersatzanspruch gegen einen Mitspieler den Nachweis voraussetzt, dass dieser sich nicht regelgerecht verhalten hat. Deshalb verstößt es jedenfalls gegen das Verbot des treuwidrigen Selbstwiderspruchs, wenn der Geschädigte den Schädiger in Anspruch nimmt, obwohl er ebenso gut in die Lage hätte kommen können, in der sich nun der Schädiger befindet, sich dann aber (und mit Recht) dagegen gewehrt haben würde, diesem trotz Einhaltens der Spielregeln Ersatz leisten zu müssen. Bei dieser Haftungsfreistellung von Kampfspielen handelt es sich um eine eigenständige Fallgruppe, die durch das Vorliegen verbindlicher Spielregeln geprägt ist, doch reichen die Grundsätze über die Auswirkung widersprüchlichen Verhaltens über den Bereich sportlicher Kampfspiele hinaus (BGH NJW 2003, 2018, 2019). Der BGH hat diese Grundsätze allgemein auf Wettkämpfe mit nicht unerheblichem Gefahrenpotenzial übertragen, bei denen typischerweise auch bei Einhaltung der Wettkampfregeln oder geringfügiger Regelverletzung die Gefahr gegenseitiger Schadenszufügung besteht (a.a.O., S. 2020).

Ein Haftungsausschluss auf dieser Grundlage greift nicht ein. Für die Annahme eines Kampfspiels oder eines Wettkampfes fehlt es an einer vorherigen Verabredung zu diesem Zweck sowie einer gewissen Regelgeleitetheit des gegenseitigen Verhaltens. Die Initiative für das Schießen mit Soft-Air-Waffen ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, letztlich aber bereits nach unstreitiger Darstellung des Sachverhalts durch die Beteiligten, vom Beklagten ausgegangen. Es lässt sich nicht als Teilnahme an einem Wettkampf qualifizieren, dass der Kläger zwischenzeitlich versucht hat, sich nicht nur passiv durch Vorhalten einer Decke bzw. eines Kissens vor Schüssen zu schützen, sondern auch aktiv das Schießen des Beklagten erwidert hat.

4. Die Haftung des Beklagten ist auch nicht dadurch ausgeschlossen, dass sich der Kläger bewusst in eine Situation drohender Eigengefährdung begeben hätte.

In solchen Fällen nimmt die Rechtsprechung einen Haftungsausschluss unter dem Gesichtspunkt des widersprüchlichen Verhaltens an. Dabei soll es sich aber um eng begrenzte Ausnahmefälle wie bei der Teilnahme an Boxkämpfen oder anderen besonders gefährlichen Sportarten handeln. Nur bei derartiger Gefahrexponierung kann von einer Einwilligung des Geschädigten in die als möglich vorgestellte Rechtsgutsverletzung mit der Folge einer Nichthaftung des Schädigers ausgegangen werden (vgl. BGH, Urteil vom 21.02.1995, VI ZR 19/94, NJW-RR 1995, 857).

Eine solche bewusste Eigengefährdung des Klägers liegt nicht vor. Sie kann nicht darin gesehen werden, dass der Kläger den Beklagten aufgesucht hat, weil sich die Parteien unstreitig zum Musikhören und nicht zum wechselseitigen Beschießen aus Soft-Air-Waffen verabredet hatten.

Der Kläger hat sich auch nicht dadurch im Sinne der oben genannten Rechtsprechung selbst gefährdet, dass er die Möglichkeit nicht genutzt hätte, sich durch Verlassen des Zimmers und der Wohnung des Beklagten in Sicherheit zu bringen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob das Verharren des Klägers in der vom Beklagten aufgezwungenen Gefährdungssituation überhaupt als Eigengefährdung mit der Folge einer Einwilligung in mögliche Verletzungen gewertet werden kann. Die Beweisaufnahme wie auch die Befragung der Parteien durch den Senat hat nämlich ergeben, dass aus Sicht des Klägers keine zumutbare und nahe liegende Möglichkeit bestand, sich durch Entfernen aus dem Zimmer und der Wohnung des Beklagten in Sicherheit zu bringen. Selbst wenn man dazu zugunsten des Beklagten davon ausgeht, der Beklagte habe, wie es der Kläger und der Zeuge F angeben, das Zimmer zwischenzeitlich verlassen, konnte der Kläger nicht beurteilen, ob sich ihm die Möglichkeit und Gelegenheit zum gefahrlosen Verlassen der Wohnung bot. Angesichts der geringen Größe der Wohnung und der Tatsache, dass der Kläger nicht sehen konnte, wohin sich der Beklagte entfernt, musste der Kläger damit rechnen, alsbald wieder beschossen zu werden, auch wenn er den Versuch unternommen hätte, die Wohnung zu verlassen. Zu dem erneuten Beschießen durch den Beklagten ist es dann gekommen, indem der Beklagte unter Zuhilfenahme des Soft-Air-Gewehrs auf den Kläger von der Tür aus geschossen hat.

5. Der Senat vermag auch nicht festzustellen, dass bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Klägers mitgewirkt hätte (§ 254 Abs. 1 BGB).

a) Entgegen der Auffassung des Landgerichts genügt hierzu nicht die bloße Teilnahme an den Auseinandersetzungen zwischen den Parteien. Denn es ist nicht ersichtlich, dass der Beklagte, der mit dem Schießen begonnen hatte, damit aufgehört hätte, wenn der Kläger nicht - in dem eingeräumten Umfang - zurückgeschossen hätte. Der Beklagte hat zu keinem Zeitpunkt geltend gemacht, durch das Zurückschießen des Klägers zum eigenen Weiterschießen veranlasst worden zu sein. Diesbezügliche Zweifel gehen zu Lasten des Beklagten, der für die Voraussetzungen des § 254 Abs. 1 BGB darlegungs- und beweisbelastet ist. Ohne Darlegung der Ursächlichkeit des Verhaltens des Klägers für die erlittene Verletzung kommt eine Anwendung des § 254 Abs. 1 BGB zugunsten des Beklagten nicht in Betracht (vgl. Palandt/Heinrichs, BGB, 67. Aufl., § 254 Rn. 12).

b) Aus den unter 4. genannten Gründen liegt ein Mitverschulden des Klägers auch nicht darin, dass er das Zimmer und die Wohnung des Beklagten nicht verlassen hat.

c) Ein Mitverschulden des Klägers kann auch nicht darin gesehen werden, dass er kurzzeitig das Kissen nicht mehr schützend vor sein Gesicht gehalten hat. Es liegt kein Verschulden des Klägers gegen sich selbst darin, dass er auf diese Weise erkundet hat, ob sich für ihn ein Weg aus der Gefahr bietet.

III.

Die Kostenentscheidung ergibt sich für die 1. Instanz aus § 92 Abs. 1 S. 1 ZPO, für die 2. Instanz aus § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO. Der Senat ist dabei von der zwischen den Parteien nicht umstrittenen erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung ausgegangen, nach der für den erstinstanzlich noch gestellten Schmerzensgeldantrag ein Streitwert von 7.000,00 EUR und für den Feststellungsantrag ein Streitwert von 3.0000,00 EUR anzunehmen ist. Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 543 Abs. 2 ZPO) sieht der Senat nicht. Die Entscheidung des OLG Hamm (NJW 1997, 949) betrifft einen nicht vergleichbaren Sachverhalt, da sich der Geschädigte dort freiwillig auf die Gefährdung eingelassen hatte, der er ansonsten hätte entgehen können.

Ende der Entscheidung

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