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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Dresden
Beschluss verkündet am 11.12.2006
Aktenzeichen: 8 U 1940/06
Rechtsgebiete: GVG, ZPO


Vorschriften:

GVG § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b
ZPO § 281
1. Bei Zweifeln an der Anwendbarkeit des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG und vorsorglicher Anrufung der beiden als funktionell zuständig in Frage kommenden Berufungsgerichte besteht nicht die Möglichkeit, den Rechtsstreit in entsprechender Anwendung von § 281 ZPO durch das eine an das andere Gericht (oder umgekehrt) zu verweisen.

2. Rechtshängigkeit, auf deren Zeitpunkt § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG abstellt, ist nicht zwingende Anwendungsvoraussetzung der Vorschrift. Hatte eine Partei ihren allgemeinen Gerichtsstand während des gesamten ersten Rechtszuges unzweifelhaft nicht im Inland, kommt es auf eine - nur für den genauen Beurteilungszeitpunkt innerhalb der ersten Instanz relevante - wirksame Klagezustellung nicht an und ist das Oberlandesgericht für die Berufung selbst dann zuständig, wenn das Amtsgericht die Rechtshängigkeit des beschiedenen Anspruchs zu Unrecht angenommen hat.

3. Hat das Amtsgericht über eine Nichtigkeitsklage entschieden, ist für die Berufung das Oberlandesgericht zuständig, wenn eine der Parteien bei Rechtshängigkeit der Nichtigkeitsklage ihren allgemeinen Gerichtsstand im Ausland hatte; die Gerichtsstandsverhältnisse des Ausgangsverfahrens sind insoweit bedeutungslos.

4. Im Falle der Verwerfung oder Abweisung einer unbeschränkten Nichtigkeitsklage bemisst sich die Beschwer allein nach dem Wert des Hauptsacheanspruchs, über den im Ausgangsprozess zu Lasten des Nichtigkeitsklägers entschieden wurde.


Oberlandesgericht Dresden

Aktenzeichen: 8 U 1940/06

Beschluss

des 8. Zivilsenats

vom 11.12.2006

In dem Rechtsstreit

wegen Forderung aus Reisevertrag

hat der 8. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Dresden ohne mündliche Verhandlung durch

Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Häfner, Richter am Oberlandesgericht Bokern und Richter am Landgericht Meyer

beschlossen:

Tenor:

1. Die Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Leipzig vom 06.09.2006 - 9 C 2497/03 - wird auf Kosten der Beklagten verworfen.

2. Streitwert der Berufung: 570,00 EUR.

Gründe:

I.

Die Klägerin nahm bzw. nimmt die Beklagte, ein in Malta ansässiges Unternehmen, auf Rückzahlung vorausbezahlter, aber nicht erbrachter Reiseleistungen i.H.v. 570,00 EUR in Anspruch. Das Amtsgericht erließ im schriftlichen Vorverfahren - ähnlich wie in zwei weiteren, vor demselben Richter geführten Verfahren gegen die Beklagte - ein der Klage in vollem Umfang stattgebendes Versäumnisurteil; nach Einschätzung des Amtsgerichts ist es wirksam zugestellt und rechtskräftig. Mit dem angegriffenen Urteil, auf das wegen der Einzelheiten verwiesen wird, hat das Amtsgericht die Nichtigkeitsklage der Beklagten, ihren Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sowie ihren Einspruch gegen das Versäumnisurteil vom 16.02.2004 verworfen. Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Auf den Berichterstatterhinweis u.a. darauf, dass in vorliegender Sache die erforderliche Beschwer von mehr als 600,00 EUR nicht erreicht sei, hat die Beklagte entgegnet, ihr Vollstreckungsabwehrinteresse sei maßgebend und übersteige im Hinblick auf die zusätzlich angeordnete Kostentragungspflicht 600,00 EUR.

II.

Die Berufung ist unzulässig und daher gemäß § 522 Abs. 1 ZPO mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zu verwerfen.

1. Die Unstatthaftigkeit des Rechtsmittels folgt daraus, dass der Wert des Beschwerdegegenstandes nur 570,00 EUR beträgt und das Amtsgericht die Berufung im Urteil nicht zugelassen hat, § 511 Abs. 2 ZPO. Entgegen der Ansicht der Beklagten bemisst sich die Beschwer im Falle der Verwerfung oder Abweisung einer Nichtigkeitsklage - unabhängig davon, ob das Amtsgericht die Antragsschrift der Beklagten nach ihrem Inhalt nicht ausschließlich als Einspruch hätte behandeln müssen (vgl. BGH, Urteil vom 06.10.2006 - V ZR 282/05, www.bundesgerichtshof.de) - allein nach dem Wert des Hauptsacheanspruchs, über den im Ausgangsprozess zu Lasten des Nichtigkeitsklägers entschieden wurde. Für den Streitwert einer Nichtigkeits- oder Restitutionsklage ist dies allgemein anerkannt (Zöller/Herget, ZPO, 25. Aufl., § 3 Rn. 16 Stichworte "Nichtigkeitsklage" und "Restitutionsklage" m.w.N.; vgl. auch BFH, Beschluss vom 26.07.1988 - VII E 3/88, juris). Für die Beschwer, die der erstinstanzliche Misserfolg eines Wiederaufnahmeverfahrens begründet, gilt dasselbe. Dies hat der Bundesgerichtshof bereits zutreffend entschieden (Beschluss vom 04.04.1978 - VI ZB 11/77, AnwBl. 1978, 260). Die im Versäumnisurteil getroffene Kostengrundentscheidung erhöht die Beschwer nicht (vgl. auch BGH, Beschluss vom 29.03.1968 - VIII ZR 141/65, NJW 1968, 1275: nicht einmal bei einer Klage aus § 826 BGB auf Unterlassung der Zwangsvollstreckung aus einem angeblich erschlichenen Urteil nebst Kostenfestsetzungsbeschluss und auf Herausgabe der beiden Titel sind die festgesetzten Kosten bei der Streitwertbemessung hinzuzurechnen). Die im Schriftsatz der Beklagten vom 30.11.2006 angeführte Entscheidung des Bundesgerichtshofes (abgedruckt in NJW 2001, 1652) betrifft eine gänzlich andere Frage, nämlich diejenige, wie die Beschwer des zur Auskunftserteilung Verurteilten zu berechnen ist. Hierfür ist seit der grundlegenden Klärung durch BGHZ 128, 85 in der Tat vornehmlich das Kosteninteresse des Verurteilten maßgeblich. Allerdings sind auch in diesem Zusammenhang nicht die Kosten gemeint, die eine gerichtliche - im praktisch wichtigsten Anwendungsfall einer Stufenklage bei einem Teilurteil über die erste Stufe regelmäßig fehlende - Kostengrundentscheidung mit sich bringt; beschwerbestimmend ist vielmehr der Aufwand an Zeit und Kosten, der mit der Erteilung der Auskunft verbunden ist.

2. Dass die Beklagte im vorliegenden Rechtsstreit - ebenso wie in den beiden anderen beim Senat anhängigen Verfahren 8 U 1938/06 und 8 U 1939/06 - fristgerecht Berufung sowohl zum Landgericht als auch anschließend beim Oberlandesgericht eingelegt hat, sie aber nach wie vor Zweifel an der Zuständigkeit des Oberlandesgerichts äußert und für den Fall der Unzuständigkeit Verweisung an das Landgericht beantragt, hindert die auf §§ 511 Abs. 2, 522 Abs. 1 ZPO gestützte Verwerfung des beim Oberlandesgericht eingelegten Rechtsmittels nicht.

a) Die Zivilprozessordnung eröffnet bei Zweifeln an der Anwendbarkeit des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG und vorsorglicher Anrufung der beiden als funktionell zuständig in Frage kommenden Berufungsgerichte schon nicht die Möglichkeit, den Rechtsstreit durch das eine an das andere Gericht (oder umgekehrt) zu verweisen.

Zwar hat der Bundesgerichtshof in einer derartigen Konstellation dem auf eine entsprechende Anwendung von § 281 ZPO gestützten Unzuständigkeitserklärungs- und Verweisungsbeschluss eines Landgerichts Bindungswirkung zuerkannt und hiermit die in Wahrheit nicht bestehende funktionelle Zuständigkeit des urteilenden Oberlandesgerichts begründet (Urteile vom 15.02.2005 - XI ZR 171/04 bis 177/04, NJW-RR 2005, 780 f.). Damit ist jedoch nur geklärt, dass eine solche, nach dem Gesetz unanfechtbare Verweisung Bindungswirkung entfaltet und nicht von vornherein gegen das Willkürverbot verstößt. Die Entscheidungen des Bundesgerichtshofes vom 15.02.2005 besagen aber nichts dazu, ob § 281 ZPO, der auf Fälle örtlicher und sachlicher (Un-)Zuständigkeit zugeschnitten ist, bei einem Zuständigkeitsstreit in funktioneller Hinsicht - der hier auf Seiten der beteiligten Rechtsmittelgerichte gar nicht besteht - tatsächlich entsprechend anwendbar ist. Diese Frage verneint der erkennende Senat (ebenso KG, Beschlüsse vom 18.10.2004 - 8 W 67/04, KGR 2005, 84 und vom 09.06.2003 in dem in BGH JurBüro 2004, 456 mitgeteilten Sachverhalt; offen gelassen in BGHZ 155, 46; vgl. ferner BGH, Beschluss vom 10.07.1996 - XII ZB 90/95, NJW-RR 1997, 55: Verweisung durch mit der Berufung angerufenes Oberlandesgericht an das funktionell gemäß § 23a Nr. 2 i.V.m. § 72 GVG zuständige Landgericht weder in unmittelbarer noch in entsprechender Anwendung von § 281 ZPO zulässig, stattdessen Verwerfung der Berufung). Die entsprechende Heranziehung der Vorschrift scheidet mangels Vergleichbarkeit der zu regelnden Sachverhalte, aber auch deshalb aus, weil ein unabweisbares Bedürfnis dafür nicht besteht:

Ernstliche Zweifel am zuständigen Gericht werden bei einem Berufungskläger nach sorgfältiger Prüfung der Voraussetzungen des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG und Auswertung der hierzu seit Inkrafttreten der Vorschrift am 01.01.2002 ergangenen, durchweg am klaren Gesetzeswortlaut und -zweck orientierten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (Urteil vom 13.05.2003 - VI ZR 430/02, BGHZ 155, 46; Beschlüsse vom 19.02.2003 - IV ZB 31/02, NJW 2003, 1672; vom 15.07.2003 - VIII ZB 30/03, NJW 2003, 3278; vom 28.01.2004 - VIII ZB 66/03, WM 2004, 2227; vom 23.03.2004 - VIII ZB 11/03, JurBüro 2004, 456; vom 01.06.2004 - VII ZB 2/04, NJW-RR 2004, 1505; vom 16.11.2004 - VIII ZB 45/04, NZM 2005, 147; vom 01.03.2006 - VIII ZB 28/05 NJW 2006, 1810; vom 28.03.2006 - VIII ZB 100/04, NJW 2006, 1808; vom 03.05.2006 - VIII ZB 88/05, NJW 2006, 2782; zuletzt vom 17.10.2006 - VIII ZB 94/05, ZIP 2006, 2125) allenfalls noch in seltenen Einzelfällen verbleiben. In einem solchen Ausnahmefall kann sich der Berufungsführer gehalten sehen, vorsichtshalber Berufung bei beiden Gerichten einzulegen. Er hat indes ohne weiteres die Möglichkeit, geraume Zeit vor Ablauf der Rechtsmittelfrist die Berufung bei dem nach seiner Beurteilung nächstliegenden Gericht einzureichen, um eine unverzügliche Stellungnahme dieses Gerichts zu bitten und ggf. auf eine Übermittlung der Berufungsschrift innerhalb offener Frist an das vom zunächst angerufenen Gericht für zuständig gehaltene Berufungsgericht hinzuwirken. Der Meistbegünstigungsgrundsatz wird dann bei Beurteilungsfehlern des Gerichts zu seinen Gunsten eingreifen (vgl. BGH, Beschluss vom 25.11.2003 - VIII ZR 121/03, WM 2004, 220; OLG Düsseldorf, Urteil vom 07.07.2005 - 10 U 202/04, ZMR 2005, 710). Auch Wiedereinsetzung wird dem Berufungsführer bei einem solchen Vorgehen ggf. zu gewähren sein (vgl. BGH, Beschlüsse vom 15.06.2004 - VI ZB 75/03, NJW-RR 2004, 1655 und vom 05.10.2005 - VIII ZB 125/04, NJW, 3776). Der Grundsatz, dass es sich bei einer wiederholt eingelegten Berufung um ein einheitliches Rechtsmittel handelt, gilt nur für Mehrfacheinlegungen bei demselben Gericht, nicht hingegen - sofern keine bindende Verweisung entsprechend § 281 ZPO erfolgt ist (vgl. BGH, Urteile vom 15.02.2005 aaO.) - bei der Anrufung unterschiedlicher Gerichte. Kostennachteile, die dem Berufungsführer aus der getrennten Behandlung von zwei Berufungen deshalb erwachsen, weil eines der Rechtsmittel gemäß § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG in jedem Falle unzulässig ist, rechtfertigen keine andere Beurteilung. Sie müssen und können im Hinblick auf die nur seltenen Fälle, in denen nachvollziehbar Ungewissheit über die Zuständigkeit besteht, hingenommen werden, lassen sich durch rechtzeitige Rücknahme des unzulässigen Rechtsmittels gering gehalten und wären selbst im Falle einer entsprechenden Anwendung des § 281 ZPO nicht ganz zu vermeiden (§ 281 Abs. 3 ZPO).

b) Im Streitfall kam und kommt eine Verweisung durch den Senat trotz entsprechenden Hilfsantrages der Beklagten ohnehin nicht in Betracht. Denn das Oberlandesgericht ist das zuständige Berufungsgericht. Das gilt sowohl für die Verwerfung der Nichtigkeitsklage als auch für die Verwerfung des Einspruchs.

aa) Da jedes Wiederaufnahmeverfahren nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung nur durch Klage in Gang kommt und einen eigenständigen, wenngleich mit dem Ausgangsprozess in Zusammenhang stehenden Rechtsstreit bildet, ist für die formale Anknüpfung in § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG auf die Rechtshängigkeit der Nichtigkeitsklage im ersten Rechtszug abzustellen. Diese Rechtshängigkeit ist vorliegend zwar nicht durch Zustellung der Antragsschrift vom 24.01.2006, die einen in erster Linie im Wege der Nichtigkeitsklage verfolgten Aufhebungsantrag enthielt, an die Klägerin bewirkt worden (§§ 253 Abs. 1, 261 Abs. 1 ZPO); denn das Amtsgericht hat es versäumt, den Schriftsatz - wie geboten - förmlich zuzustellen. Die Wirkungen der Rechtshängigkeit sind aber gemäß § 295 ZPO durch rügeloses Verhandeln der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 16.08.2006 eingetreten (vgl. Zöller/Greger, a.a.O., § 253 Rn. 26a m.w.N.). Zu diesem, aber auch zu jedem früheren und späteren Zeitpunkt hatte die Beklagte ihren allgemeinen Gerichtsstand in M .

bb) Soweit sich die Berufung gegen die Verwerfung von Einspruch und Wiedereinsetzungsgesuch richtet, ergibt sich die Zuständigkeit des Oberlandesgericht ebenfalls aus § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG.

Zwar stellt die Beklagte die vom Amtsgericht ausdrücklich für wirksam gehaltene Zustellung der ursprünglichen Klageschrift (und auch des Versäumnisurteils) in Abrede. Sie folgert hieraus, es fehle bis heute an der Rechtshängigkeit des Hauptsacheanspruchs. Ob diese Auffassung zutrifft, kann im vorliegenden Zusammenhang offen bleiben. § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG greift nach seinem Sinn und Zweck bei durchweg ausländischem Gerichtsstand einer Partei (von der Einreichung der Klage bis zur Einlegung der Berufung) stets und erst recht dann ein, wenn das Amtsgericht die bestrittene Klagezustellung geprüft und bejaht hat. Mit dem Merkmal der Rechtshängigkeit will die Vorschrift eine wirksame Klagezustellung nicht zur notwendigen und damit inzident zu prüfenden Anwendungsvoraussetzung erheben. Vielmehr bezweckt sie aus Gründen der Rechtssicherheit lediglich, den regelmäßig leicht und zuverlässig feststellbaren erstinstanzlichen Zeitpunkt festzulegen, auf den es zur Bestimmung des zuständigen Berufungsgerichts allein deshalb ankommt, weil auf ihn die Prüfung zu beziehen ist, ob eine der Parteien ihren allgemeinen Gerichtsstand im Ausland hatte. Änderungen des allgemeinen Gerichtsstandes während des ersten Rechtszuges sollen danach unerheblich sein; ein inländischer Gerichtsstand beider Parteien vor oder nach, nicht aber gerade bei Zustellung der Klage beseitigt die zeitpunktbezogen festliegende Berufungszuständigkeit des Oberlandesgerichts also nicht. Hatte dagegen eine Partei während des gesamten ersten Rechtszuges ihren allgemeinen Gerichtsstand unstreitig nicht im Inland, kommt es auf eine für den genauen Beurteilungszeitpunkt relevante Klagezustellung nicht an und ist das Oberlandesgericht für die Berufung selbst dann zuständig, wenn das Amtsgericht im angefochtenen Urteil die Rechtshängigkeit des beschiedenen Anspruchs zu Unrecht angenommen hat.

Ende der Entscheidung

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