Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 17.12.2001
Aktenzeichen: 1 U 26/00
Rechtsgebiete: StVG, BGB, PflVG, ZPO


Vorschriften:

StVG § 7
StVG § 17
StVG § 18
BGB § 823
BGB § 847
PflVG § 3 Nr. 1
ZPO § 91
ZPO § 91 a
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 713
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT DÜSSELDORF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

1 U 26/00

Verkündet am 17. Dezember 2001

In dem Rechtsstreit

wegen Schadensersatzes aus Verkehrsunfall

hat der 1 Zivilsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. E und die Richter am Oberlandesgericht auf die mündliche Verhandlung vom 26. November 2001

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das am 9. Dezember 1999 verkündete Urteil der 10 Zivilkammer des Landgerichts Mönchengladbach teilweise abgeändert und wie folgt neu gefaßt:

1.

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger noch 2.403,42 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 20. November 1998 zu zahlen.

2.

Die Beklagten werden ferner als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 18.750,- DM nebst 4 % Zinsen seit dem 24 Februar 1999 zu zahlen.

3.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche materiellen und immateriellen Zukunftsschäden zu ersetzen, die durch den Unfall vom 29. Mai 1998 in H entstehen, soweit Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.

Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und begründet.

Die Beklagten sind dem Kläger zum vollen Ausgleich seines unfallbedingten Schadens verpflichtet §§ 7, 17, 18 StVG, 823, 847 BGB i. V. m. § 3 Nr. 1 PflVG. Im einzelnen gilt folgendes.

1.

Zum Haftungsgrund

Entgegen der Ansicht des Landgerichts haften die Beklagten nicht nur zu 75 %. Sie sind dem Kläger vielmehr in vollem Umfang ersatzpflichtig. Allerdings ist der Unfall vom 29.05.1998 kein unabwendbares Ereignis für den Kläger gewesen. Das bedarf keiner näheren Begründung. Die Mithaftung des Klägers unter dem Gesichtspunkt der Betriebsgefahr seines Motorrades tritt indessen in vollem Umfang zurück. Anders wäre es, wenn dem Kläger - wie vom Landgericht angenommen - eine unfallursächliche Geschwindigkeitsüberschreitung zur Last fiele. Nach dem Ergebnis der zweitinstanzlichen Beweisaufnahme ist das jedoch nicht der Fall.

Gestützt auf das Gutachten des Sachverstandigen N ist das Landgericht von einer Ausgangsgeschwindigkeit des Klägers von mindestens 60 km/h bei zulässigen 50 km/h ausgegangen. Diese Feststellung kann nach den Berechnungen des Sachverständigen S keinen Bestand haben. Der vom Senat beauftragte Sachverständige ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Bremsausgangsgeschwindigkeit zwischen 52,6 und 64 km/h gelegen hat. Zugunsten des Klägers muß der geringere Wert, also 52,6 km/h, zugrundegelegt werden. Denn in die Haftungsabwägung dürfen nur solche Tatsachen einbezogen werden, die unstreitig oder bewiesen sind.

Mit 52,6 km/h ist der Kläger nur unwesentlich schneller als die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h gefahren. Entscheidend ist indessen, dass der Senat die Unfallursächlichkeit dieser geringen Geschwindigkeitsüberschreitung nicht feststellen kann.

Selbst wenn die Annäherungsgeschwindigkeit des Klägers mit dem oberen Wert von 64 km/h angesetzt wird, war die Kollision bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h nicht vermeidbar. Auch das ergibt sich aus dem Gutachten des Sachverständigen S. Er ist dem Senat seit vielen Jahren als besonders kompetenter Unfallanalytiker bekannt. Das gilt insbesondere mit Blick auf die Aufklärung von Motorradunfällen. Sie verlangen besondere Kenntnisse und Erfahrungen, soweit es um die Ermittlung der Annäherungsgeschwindigkeit und um Vermeidbarkeitsbetrachtungen geht.

Statt der bei der Geschwindigkeitsrückrechnung möglicherweise zu berücksichtigenden Vollbremsung mit einem Verzögerungswert von beispielsweise 8 m/s² - diesen Wert hat der Sachverständige N zugrundegelegt - muß bei der Prüfung der räumlichen Vermeidbarkeit eine gerade noch beherrschbare Verzögerung angesetzt werden. Aus dem nur mündlich erstatteten Gutachten des Sachverständigen N geht nicht hervor, dass er diese wichtige Differenzierung im Rahmen seiner Vermeidbarkeitsprüfung bedacht hat. Nach seiner Einschätzung war die Kollision für den Kläger ohnehin eher zeitlich als räumlich vermeidbar. Demgegenüber berücksichtigt der Sachverständige M die oben angesprochene Besonderheit bei der Vermeidbarkeitsprüfung, indem er für die Vermeidbarkeit ein sturzfreies Bremsmanöver voraussetzt. In der Tat muß eine gerade noch sicher beherrschbare Abbremsung des Motorrades Ausgangspunkt der Vermeidbarkeitsprüfung sein. Denn von einem Motorradfahrer kann schlechterdings nicht verlangt werden, dass er sich zur Vermeidung einer Kollision mit einem anderen Kraftfahrzeug einer unmittelbaren Sturzgefahr aussetzt. Erst recht muß er seine Maschine nicht zu Fall bringen, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.

Wenn aber von einem sturzfreien Bremsmanöver auszugehen ist, geht es nicht an, im Rahmen der Vermeidbarkeitsbetrachtung einen Verzögerungswert von 8 m/s² zugrundezulegen. Realistisch sind Werte in der Größenordnung von 5 bis 6 m/s². So sieht es auch der Sachverständige S.

Nach alledem kann der Senat eine unfallursächliche Geschwindigkeitsüberschreitung nicht feststellen. Das geht zu Lasten der Beklagten. Denn sie sind insoweit beweisbelastet.

Ohne nachweisbaren Geschwindigkeitsverstoß des Klägers kann lediglich die reine Betriebsgefahr seines Motorrades in die Haftungsabwägung einbezogen werden. Angesichts des eindeutigen Linksabbiegerverschuldens der Beklagten zu 2) muß die Betriebsgefahr des Motorrades in vollem Umfang zurücktreten, zumal es sich bei dem Beklagtenfahrzeug um einen Mercedes Geländewagen des Typs 280 GE (460.2) handelt. Von einem solchen Fahrzeug geht von vornherein eine deutlich höhere Betriebsgefahr als von einem Motorrad aus.

2.

Materieller Schaden

Auf der Grundlage einer Ersatzpflicht der Beklagten zu 100 % schulden sie dem Kläger noch einen Restbetrag in Höhe von 2.403,42 DM. Das ist die Differenz aus der Summe der Schadenspositionen, die der Kläger zur Abrechnung gestellt hat (7.280,29 DM) und dem Betrag, den die beklagte Versicherung vorgerichtlich gezahlt hat (4.876,87 DM). Soweit es um die in erster Instanz allein streitigen Positionen "Reiserücktrittskosten" und "Fahrtkosten Krankenhaus" geht, hat das Landgericht diese Positionen für erstattungsfähig gehalten und sie lediglich um den Mithaftungsanteil des Klägers von 25 % gekürzt. Da diese Kürzung unberechtigt ist, siehe oben, muß es bei beiden Positionen bei der für den Kläger günstigen Beurteilung des Landgerichts bleiben. Die Beklagten haben von der Möglichkeit einer Anschlußberufung abgesehen.

3.

Immaterieller Schaden

Ausgangspunkt ist die zweitinstanzliche Klageerweiterung gemäß Schriftsatz vom 16. August 2001. Hiernach fordert der Kläger ein Schmerzensgeld, dessen Höhe er in das Ermessen des Senats stellt, das jedoch 30.000 DM nicht unterschreiten sollte, und zwar abzüglich am 2. März 1999 gezahlter 11.250,- DM. Dieses Begehren ist gerechtfertigt.

Der Senat setzt den Schmerzensgeldbetrag auf 30.000,00 DM fest. Dieser Betrag ist erforderlich, aber auch ausreichend, um alle bereits eingetretenen oder erkennbaren sowie alle objektiv vorhersehbaren unfallbedingten Verletzungsfolgen abzugelten. Nicht erfaßt werden solche Verletzungsfolgen, die im Zeitpunkt der letzten Verhandlung vor dem Senat noch nicht eingetreten sind und mit deren Eintritt nicht oder nicht ernstlich zu rechnen ist. Derartige Folgen sind Gegenstand des Feststellungsausspruchs.

Durch den Unfall vom 29. Mai 1998 ist der Kläger erheblich verletzt worden. Im wesentlichen hat erfolgende Primarverletzungen erlitten

- Distale Radiustrümmerfrakturen beidseitig,

- Patellafraktur rechts,

- Symphysiolyse,

- Beckenringfraktur rechts,

- Sitzbeinfraktur links,

- Kniekomplextrauma beidseitig,

- Kontusion am Hals,

- Rißwunde an der Zunge,

- multiple Prellungen mit Rißwunden.

All diese Verletzungen, für einen Motorradunfall nicht untypisch, sind unstreitig, jedenfalls durch ärztliche Bescheinigungen belegt. Die vorgelegten Arztbescheinigungen geben ferner Auskunft über die Dauer des Krankenhausaufenthaltes und über die verschiedenen Operationen, denen der Kläger sich hat unterziehen müssen. Insgesamt hat er - ohne die Zeit der Metallentfernung - 55 Tage im Krankenhaus gelegen (29. Mai 1998 bis 22. Juli 1998). Während dieser Zeit konnte er nicht bei seiner Familie (zwei minderjährige Kinder) sein. Eine geplante Urlaubsreise mußte storniert werden.

Die eingereichten Farbfotos belegen eindrucksvoll den Zustand des Klägers während der ersten Phase seines Krankenhausaufenthaltes.

Nach stationärer Aufnahme des Klägers im erfolgte zunächst die Primärbehandlung der sturzbedingten Unfallverletzungen. Im Anschluß an die erforderlichen operativen Maßnahmen wurde der Kläger zwei Tage auf die Intensivstation verlegt. Später fanden weitere Operationen statt. Im weiteren Verlauf des Krankenhausaufenthaltes entwickelte sich eine tiefe Beinvenenthrombose am linken Unterschenkel. Auch sie mußte behandelt werden. Der weitere Aufenthalt war dann komplikationslos. Der Kläger wurde wieder zunehmend mobil, wozu auch eine Gangschulung im Rahmen einer krankengymnastischen Übungstherapie beigetragen hat. Am 17. Juli 1998 konnte der Fixateur externe des linken Handgelenks zeitgerecht entfernt werden. Am 27. Juli 1998 wurde der Kläger in die hausärztliche Weiterbehandlung entlassen. Die krankengymnastische Übungstherapie sollte fortgesetzt werden. Wegen der Entfernung der externen Fixteure am Becken sowie am rechten Handgelenk musste der Kläger erneut das (20.08. - 03.09.1998). Wie er unwidersprochen vorgetragen hat, hat er sich auch noch im Jahre 1999 aus Gründen des Unfalls vom Mai 1998 in ärztlicher Behandlung befunden.

Bei der Schmerzensgeldbemessung war ferner die Tatsache zu berücksichtigen, dass der Kläger unfallbedingt seinen Beruf als Gas- und Wasserinstallateur verloren hat. Er bezieht inzwischen eine Rente wegen Berufsunfähigkeit, wie er durch den Rentenbescheid vom 11. Juli 2001 (Anl. R 1) nachgewiesen hat. Die mit dem Verlust seines Berufes verbundene psychische Belastung muß sich bei der Festsetzung des Schmerzensgeldes zugunsten des Klägers auswirken. Zur Unfallzeit war der Kläger erst knapp 38 Jahre alt.

Schließlich konnte nicht unberücksichtigt bleiben, dass die beklagte Versicherung trotz wiederholter Aufforderung erst Anfang März 1999 einen Betrag von 11.250,- DM als Schmerzensgeld überwiesen hat. Dass der Kläger mit anwaltlichem Schreiben vom 24. September 1998 ein deutlich überzogenes Schmerzensgeld in Höhe von 80.000,- DM verlangt hat, kann die Beklagten in diesem Zusammenhang nicht entlasten. Mit Schreiben vom 1. Oktober 1998 hat die zuständige Sachbearbeiterin F ein Schmerzensgeld in Höhe von 15.000,- DM für angemessen erachtet, eine volle Haftung der Beklagten vorausgesetzt. Sie konnte nicht erwarten, dass der Kläger sich angesichts seiner Forderung auf eine Regulierung auf dieser Basis einläßt. Die erst Anfang März 1999, nach Klageerhebung, geleistete Zahlung auf den Schmerzensgeldanspruch in Höhe von 11.250,- DM hatte ohne weiteres bereits im Herbst des Vorjahres geleistet werden können. Dabei verkennt der Senat nicht, dass der Anwalt des Klägers die Schweigepflicht-Entbindungserklärung erst mit Schreiben vom 13.11.1998 übersandt hat. Für eine angemessene Vorschußzahlung war das kein Hindernis. Bis Anfang März 1999 bei einem eindeutigen Verschulden der Zweitbeklagten keinerlei Schmerzensgeld angesichts der schwerwiegenden und offenkundigen Unfallverletzungen erhalten zu haben, hat nachvollziehbar zu einer Verbitterung des Klägers geführt, die bei der Festsetzung des Schmerzensgeldes nicht unberücksichtigt bleiben konnte.

4.

Feststellungsantrag

Der Feststellungsantrag ist zulässig Die Möglichkeit von Spätschäden ist in Anbetracht von Art und Umfang der Unfallverletzungen ohne weiteres gegeben. Damit hat der Kläger das erforderliche Feststellungsinteresse. Sein Feststellungsbegehren ist auch sachlich gerechtfertigt. Denn es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Kläger aufgrund des Unfalls vom 29. Mai 1998 in materieller wie in immaterieller Hinsicht Spätschäden erleiden wird. Diese Prognose kann der Senat in seiner Eigenschaft als Fachsenat ohne sachverständige Hilfe treffen.

II.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 91 a, 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Es besteht kein Anlaß, die Revision zuzulassen (§ 546 ZPO).

Streitwert für das Berufungsverfahren: 24.570,07 DM (2.403,42 DM ./. 583,35 DM + 18.750,- DM + 4.000,- DM für den Feststellungsantrag = 25 % von 10.000,- DM).

Beschwer für die Beklagten: unter 60.000,- DM.

Ende der Entscheidung

Zurück