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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Beschluss verkündet am 11.11.1999
Aktenzeichen: 1 Ws 919/99
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 140 Abs. 1 Nr. 5
StPO § 140 Abs. 2 Satz 1
StPO § 140 Abs. 3 Satz 1
§ 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO § 140 Abs. 3 Satz 1 StPO

1. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers für einen seit mindestens drei Monaten in Untersuchungshaft einsitzenden Angeklagten ist, wenn dieser mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung in die Freiheit entlassen wird, nicht zwingend aufzuheben; vielmehr ist dem Vorsitzenden des Gerichts ein Ermessensspielraum eingeräumt, den auszuschöpfen er verpflichtet ist.

2. Auch wenn die Aufhebung der wegen der Inhaftierung des Angeklagten angeordneten Bestellung eines Pflichtverteidigers wegen dessen Entlassung aus der Haft vor Beginn der Hauptverhandlung in Betracht kommt, ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO vorliegen.

3. Bei der Beurteilung, ob die Schwere der Tat die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO erfordert, sind neben der Höhe der zu erwartenden Strafe auch sonstige schwerwiegende mittelbare Nachteile für den Angeklagten - etwa der drohende Widerruf der Aussetzung der Vollstreckung einer (insbesondere längeren) Freiheitsstrafe in anderer Sache - zu berücksichtigen.

OLG Düsseldorf Beschluß 11.11.1999 - 1 Ws 919-920/99 - 311 Js 1175/98 StA Düsseldorf


wegen Diebstahls

hat der 1. Strafsenat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... und die Richter am Oberlandesgericht ... und ... am 11. November 1999 auf die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluß der XXI. Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf vom 11. August 1999 nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluß wird, soweit durch ihn die Bestellung des Rechtsanwalts ... zum Pflichtverteidiger des Angeklagten zurückgenommen worden ist, aufgehoben.

Gründe

I.

1.

Der Angeklagte hat sich aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Düsseldorf vom 30. November 1998 seit diesem Tage in Untersuchungshaft befunden. In der Hauptverhandlung vom 22. Februar 1999 ist der frühere Wahlverteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt ..., antragsgemäß nach Niederlegung seines Wahlmandats zum Pflichtverteidiger des Angeklagten bestellt worden, weil dieser sich bereits länger als drei Monate in Haft befinde. Nachdem der Angeklagte in derselben Hauptverhandlung wegen versuchten Diebstahls in einem besonders schweren Fall zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden war, wurde der Haftbefehl aufgehoben. Der Angeklagte hat sich danach auf freiem Fuß befunden. Gegen das Urteil vom 22. Februar 1999 hat der Angeklagte Berufung eingelegt.

2.

Durch den angefochtenen Beschluß hat der Vorsitzende der Berufungsstrafkammer u.a. die Bestellung des Rechtsanwalts ... zum Pflichtverteidiger des Angeklagten aufgehoben, "weil die Voraussetzungen nicht länger vorliegen".

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde, die nach § 304 Abs. 1 StPO zulässig und auch begründet ist.

II.

1.

Nach § 140 Abs. 3 Satz 1 StPO kann die nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO wegen mindestens drei Monate andauernder Haft erfolgte Bestellung eines Pflichtverteidigers aufgehoben werden, wenn der Beschuldigte mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung aus der Haft entlassen worden ist. Der Grund für diese Regelung ist, daß es dem auf freiem Fuß befindlichen Beschuldigten möglich ist, innerhalb dieses Zeitraumes einen Verteidiger seines Vertrauens auszuwählen oder sich selbst auf die Hauptverhandlung vorzubereiten. Diesem Zweck entsprechend ist § 140 Abs. 3 Satz 1 StPO auch dann anzuwenden, wenn der Angeklagte - wie hier - mit der Verkündung des erstinstanzlichen Urteils aus der Untersuchungshaft entlassen wird und sich bis zur Berufungshauptverhandlung mindestens zwei Wochen auf freiem Fuß befunden hat.

§ 140 Abs. 3 Satz 1 StPO ordnet die Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung jedoch nicht zwingend an, sondern räumt dem Vorsitzenden des Gerichts einen Ermessensspielraum ein ("kann"), den auszuschöpfen er verpflichtet ist. Macht er von dem ihm eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch oder ist er sich der Möglichkeit einer Ermessensentscheidung nicht bewußt geworden, ist seine Entscheidung fehlerhaft (vgl. BGHSt 22, 266, 267).

Die Begründung des angefochtenen Beschlusses, die Bestellung des Pflichtverteidigers werde aufgehoben, weil die Voraussetzungen nicht länger vorlägen, spricht dafür, daß der Strafkammervorsitzende nicht gesehen hat, daß ihm ein Ermessensspielraum eingeräumt ist, oder daß er von dem ihm eingeräumten Ermessen keinen Gebrauch gemacht hat. Schon aus diesem Grunde ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben.

2.

Einer Zurückverweisung der Sache zur Nachholung einer ermessensfehlerfreien Entscheidung bedurfte es jedoch nicht, weil ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO wegen der Schwere der Tat vorliegt und der Angeklagte deshalb zwingend des Beistandes eines Verteidigers bedurfte und bedarf.

Die verhängte Freiheitsstrafe von sechs Monaten allein, die in der Berufungshauptverhandlung nicht erhöht werden kann, kennzeichnet die Tat zwar noch nicht als schwer, denn die Tendenz der Rechtsprechung geht dahin, bei einer Straferwartung ab einem Jahr Freiheitsstrafe die Schwere der Tat zumindest dann zu bejahen, wenn die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt wird (vgl. Senat VRS 89, 140, 141; zum Meinungsstand KK-Laufhütte, StPO, 4. Aufl., § 140 Rn. 27). Jedoch sind bei der Beurteilung der Schwere der Tat auch sonstige schwerwiegende mittelbare Nachteile in die Beurteilung einzubeziehen und eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen (Senat aaO). Hier hat der Angeklagte bei Bestand der erstinstanzlichen Verurteilung und insbesondere bei Versagung einer Strafaussetzung zur Bewährung den Widerruf einer ihm durch Urteil des Amtsgerichts Wittlich vom 31. Oktober 1996 für eine Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Monaten bewilligte Strafaussetzung zur Bewährung zu gewärtigen. Die ihm danach drohende Strafvollstreckung von 21 Monaten kennzeichnet die Tat als schwer, so daß der Angeklagte nach § 140 Abs. 2 StPO des Beistandes eines Verteidigers bedarf.

III.

Mit der Aufhebung des angefochtenen Beschlusses bleibt es bei der Bestellung des Rechtsanwalts ... zum Pflichtverteidiger des Angeklagten.

Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlaßt.

Ende der Entscheidung

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