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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Beschluss verkündet am 23.11.1999
Aktenzeichen: 1 Ws 948/99
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 120 Abs. 1
StPO § 121
StPO §§ 120 Abs. 1, 121

1. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen knüpft an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des § 120 Abs. 1 StPO an. Daher sind - außerhalb der besonderen Haftprüfung nach §§ 121, 122 StPO - bei der Entscheidung über die Haftfortdauer die Schwere der Tat und die Höhe der zu erwartenden Strafe zu berücksichtigen.

2. Bei der Frage, ob der Haftbefehl nach Erlaß eines tatrichterlichen Urteils wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot aufzuheben oder außer Vollzug zu setzen ist, sind auch das Gewicht der Straftat und die Höhe der zu erwartenden Strafe gegenüber dem Ausmaß der Verfahrensverzögerung und dem Grad des die Justiz treffenden Verschuldens abzuwägen.

OLG Düsseldorf, 1. Strafsenat, Beschluß vom 23.11.1999 - 1 Ws 948/99 -


OBERLANDESGERICHT DÜSSELDORF

BESCHLUSS

1 Ws 948/99 231 Js 1034/97 StA Düsseldorf

In der Strafsache

gegen

M D, aus, geboren am, in J, zur Zeit in der Justizvollzugsanstalt Düsseldorf,

wegen Diebstahls

hat der 1. Strafsenat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht S und die Richter am Oberlandesgericht und S am 23. November 1999 auf die Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluß der XXVI. kleinen Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf vom 18. März 1999 nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde wird als unbegründet verworfen.

Gründe:

I.

Der Angeklagte hat sich aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts Neuss vom 1. September 1997 (8 Gs 1263/97) vom 1. September 1997 bis zum 23. Oktober 1997 in Untersuchungshaft befunden. Sodann wurde er gegen Zahlung einer Kaution in Höhe von 15.000,-- DM vom weiteren Vollzug der Untersuchungshaft verschont.

Am 27. August 1998 hat das Amtsgericht - Schöffengericht - Neuss den Angeklagten wegen gemeinschaftlichen Diebstahls in zwei Fällen und gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und unerlaubtem Entfernen vom Unfallort zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Die Fahrerlaubnis wurde dem Angeklagten auf Dauer entzogen.

Mit der Verkündung des Urteils hat das Schöffengericht den Haftbefehl vom 1. September 1997 unter Neufassung wieder in Vollzug gesetzt und seit dem 27. August 1998 befindet sich der Angeklagte erneut in Untersuchungshaft.

Die gegen das Urteil des Schöffengerichts gerichtete Berufung des Angeklagten hat die XXVI. kleine Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf durch Urteil vom 18. März 1999 mit der Maßgabe verworfen, daß eine Einzelstrafe gemildert und die Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis auf vier Jahre herabgesetzt werden, es jedoch bei der Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verbleibt.

Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Revision eingelegt, über die noch nicht entschieden worden ist.

In der Hauptverhandlung vom 18. März 1999 hat die Strafkammer die Fortdauer der Untersuchungshaft aus den Gründen ihrer Anordnung und des zuvor verkündeten Urteils angeordnet.

II.

Die gegen den neu gefaßten Haftbefehl des Schöffengerichts vom 27. August 1998 gerichtete Beschwerde des Angeklagten vom 1. Oktober 1999 ist als Rechtsmittel gegen die zuletzt getroffene Haftentscheidung anzusehen, also gegen den Haftfortdauerbeschluß der Strafkammer vom 18. März 1999.

Die Beschwerde ist nicht begründet.

1. Aufgrund der von der Strafkammer in ihrem Urteil vom 18. März 1999 getroffenen Feststellungen ist der Angeklagte der abgeurteilten Taten dringend verdächtig.

Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

Der vielfach vorbestrafte Angeklagte muß damit rechnen, daß die gegen ihn erkannte Freiheitsstrafe von vier Jahren rechtskräftig wird und er sie wird verbüßen müssen. Der dadurch begründete hohe Fluchtanreiz wird durch seine persönlichen Verhältnisse nicht ausgeräumt. Zwar verfügt der Angeklagte in Deutschland über einen festen Wohnsitz und familiäre Bindungen. Jedoch ist er seit 1991 keiner Beschäftigung mehr nachgegangen und lebt mit seiner Familie von Sozialhilfe. Es besteht die hohe Wahrscheinlichkeit, daß der Angeklagte, der als Roma über familäre Auslandskontakte verfügt und in der Vergangenheit, um seine Identität zu verschleiern, vielfach unter unterschiedlichen Personalien aufgetreten ist, sich bei seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft durch Flucht oder Untertauchen der weiteren Strafverfolgung und der späteren Strafvollstreckung entzieht.

2. Die Untersuchungshaft steht nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 112 Abs. 1 Satz 2 StPO). Ihr Zweck kann durch weniger einschneidende Maßnahmen im Sinne des § 116 Abs. 1 StPO nicht erreicht werden.

Auch die etwa 4 1/2-monatige Verzögerung des Verfahrens, die dadurch eingetreten ist, daß das aufgrund einer Verfügung der Strafkammervorsitzenden vom 22. April 1999 am 30. April 1999 an den Verteidiger zugestellte Berufungsurteil vom 18. März 1999 erneut zugestellt werden mußte, bedeutet nicht, daß die weitere Untersuchungshaft unverhältnismäßig ist.

Nachdem am 11. August 1999 festgestellt worden war, daß sich eine Vollmacht des Verteidigers nicht bei den Akten befand, wurde diese am 19. August 1999 und nochmals am 3. September 1999 telefonisch bei dem Verteidiger angefordert und von diesem am 6. September 1999 die Ablichtung einer Vollmacht vom 4. September 1997 übersandt. Die nach Anforderung der Originalvollmacht von der Strafkammervorsitzenden am 17. September 1999 verfügte erneute Zustellung des Urteils erfolgte am 24. September 1999.

a) Daß das Beschleunigungsgebot gemäß § 121 Abs. 1 StPO und Art. 6 Abs. 1 MRK nicht nur bis zum Erlaß eines Urteils gilt, sondern die Untersuchungshaft auch nach Ergehen eines erstinstanzlichen und eines Berufungsurteils nicht uneingeschränkt aufrechterhalten werden darf, steht in Rechtsprechung und Schrifttum außer Streit (vgl. BVerfGE 53, 152, 158 ff.; OLG Hamburg, JR 1983; 259; KG StV 1985, 67; OLG Köln, MDR 1992, 694; OLG Oldenburg m. Anm. Paeffgen, NStZ 1993, 578; OLG Bamberg, StV 1994, 141; LG Gera, NJW 1996, 2586; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 44. Aufl., § 121 Rn. 8,). Dabei wird auch überwiegend anerkannt, daß die §§ 121, 122 StPO nicht entsprechend anzuwenden sind (so OLG Frankfurt NJW 1968, 2118), was angesichts ihrer eindeutigen, auf das Haftprüfungsverfahren beschränkten und deshalb nicht analogiefähigen Regelung ausgeschlossen ist, sondern daß Grundlage des weitreichenden Beschleunigungsgebots § 120 Abs. 1 Satz 1 StPO ist, wonach der Haftbefehl aufzuheben ist, wenn die weitere Untersuchungshaft unverhältnismäßig ist. Streitig ist, ob aufgrund einer sachlich nicht zu rechtfertigen den, vermeidbaren und erheblichen, von dem Angeklagten nicht zu vertretenden Verfahrensverzögerung der Haftbefehl ohne Rücksicht auf die Höhe der zu erwartenden Strafe aufzuheben ist (so OLG Hamburg, aaO; KG aaO; OLG Oldenburg aaO), oder ob das Gewicht der Straftat und die Höhe der zu erwartenden Strafe gegenüber dem Ausmaß der Verfahrensverzögerung und dem Grad des die Justiz hieran treffenden Verschuldens gegeneinander abzuwägen sind (so OLG Köln aaO; LG Gera aaO; wohl auch OLG Bamberg aaO; Rieß, JR 1983, 260).

Der Senat folgt der zweiten Ansicht.

Knüpft man das Beschleunigungsgebot nicht an § 121 StPO, sondern an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des § 120 Abs. 1 StPO, so sind - anders als nach § 121 StPO - die Schwere der Tat und die Höhe der verhängten Strafe nicht unberücksichtigt zu lassen.

§ 120 Abs. 1 StPO gestattet und gebietet eine umfassende Abwägung. Daher ist bei der Frage, ob ein Haftbefehl nach Erlaß eines tatrichterlichen Urteils wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot aufzuheben oder außer Vollzug zu setzen ist, auch das Gewicht der Straftat und die Höhe der zu erwartenden Strafe gegenüber dem Ausmaß der Verfahrensverzögerung und dem Grad des die Justiz treffenden Verschuldens abzuwägen (OLG Köln aaO; Rieß aaO).

b) In Anbetracht der gegen den Angeklagten nach Urteilen des Amtsgerichts und der kleinen Strafkammer wegen Diebstahls in zwei Fällen und gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und unerlaubtem Entfernen vom Unfallort verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren, die der Angeklagte - sofern sie rechtskräftig werden sollte angesichts seiner erheblichen Vorstrafen voraussichtlich weitgehend wird verbüßen müssen, ist die bisherige durch zwei Instanzen bedingte Untersuchungshaft von ca. 17 Monaten noch nicht unverhältnismäßig. Die Verhältnismäßigkeit wird auch durch die eingetretene Verfahrensverzögerung von etwa 4 1/2 Monaten nicht aufgehoben. Die Verzögerung war zwar nicht unvermeidbar und ist auch durch die Justiz verschuldet, indem bei Verfügung der Zustellung des Berufungsurteils an den Wahlverteidiger nicht geprüft wurde, ob sich dessen Vollmacht bei den Akten befand (§ 145a Abs. 1 StPO). Dieses Verschulden erscheint jedoch nicht gröblich, nachdem es der Verteidiger, der in den Hauptverhandlungen aufgetreten war, verabsäumt hatte, eine Vollmacht zu den Akten zu reichen. Hinzu kommt, daß der Verteidiger auf die erste telefonische Anforderung einer Vollmacht vom 19. August 1999 nicht reagiert, sondern erst auf die wiederholte Anforderung vom 3. September 1999 am 6. September 1999 eine Ablichtung übersandt hat.

Bei Abwägung dieser Umstände wiegt die eingetretene, von der Justiz verschuldete Verfahrensverzögerung nicht so schwer, daß die Fortdauer der Untersuchunghaft angesichts der zu erwartenden Rechtsfolgen unverhältnismäßig erscheint.



Ende der Entscheidung

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