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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Beschluss verkündet am 25.07.2001
Aktenzeichen: 4 Ws 346/01
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 122 Abs. 1 u. 4
StPO § 121 Abs. 2
StPO § 121
StPO § 122
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT DÜSSELDORF BESCHLUSS

In der Strafsache

hat der 4, Strafsenat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Servos und die Richter am Oberlandesgericht Kosche und Bischop

am 25. Juli 2001

auf Vorlage gemäß § 122 Abs. 1 und 4 StPO nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, des Angeklagten, und des Verteidigers

beschlossen:

Tenor:

Der Haftbefehl des Amtsgerichts Krefeld vom 18. Januar 200 (23 Gs 217-218/01) wird aufgehoben.

Gründe

I.

Der Angeklagte befindet sich seit dem 18. Januar 2001, also über sechs Monate, in Untersuchungshaft. Zur Entscheidung über deren Fortdauer ist die Sache dem Oberlandesgericht vorgelegt worden.

II.

Die Staatsanwaltschaft hat mit der beim Landgericht Krefeld am 27. April 2001 eingegangenen Anklageschrift vom 19. April 2001 gegen drei Angeklagte, hierunter den Angeklagten B Anklage wegen unterschiedlich schwerwiegender Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz erhoben. Während sich der Anklagevorwurf gegen den Angeklagten M u. a. auf das unerlaubte Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge - tateinheitlich mit der unerlaubten Einfuhr - in 27 Fällen, der unerlaubte Abgabe von Betäubungsmitteln an Personen unter 18 Jahren in 111 Fällen erstreckt, wird dem Angeklagten B zur Last gelegt, in 4 Fällen mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unerlaubt Handel getrieben und tateinheitlich hiermit unerlaubt eingeführt zu haben. Unter dem 03. Mai 2001 hat der Vorsitzende der Strafkammer die Zustellung der Anklageschriften verfügt. Mit Vermerk vom 26. Juni 2001 hat die jetzige Vorsitzende der Strafkammer die Fortdauer der Untersuchungshaft für notwendig erachtet (§ 122 Abs. 1 StPO) und gleichzeitig mitgeteilt, dass die Erstakten sich derzeit zur Einsichtnahme bei den Verteidigern befänden und nach der Rückkehr der Akten die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens und die - baldige - Terminierung anstehe. Zwischenzeitlich ist - nach Vorlage der Akten zur Prüfung der Haftfortdauer gemäß § 122 Abs. 1 StPO beim Senat - die Anklage zugelassen worden und Termin für den Beginn der Hauptverhandlung auf den 13. September 2001 bestimmt worden.

III.

Der Haftbefehl ist gemäß § 121 Abs. 2 StPO aufzuheben, da die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Fortdauer der Untersuchungshaft über 6 Monate nicht gegeben sind.

1. Zwar ist der Angeklagte nach dem Ergebnis der Ermittlungen, insbesondere aufgrund seiner im wesentlichen geständigen Einlassung und der weiteren Beweismittel, die in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Krefeld vom 19. April 2001 angeführt werden, der ihm zur Last gelegten Straftaten dringend verdächtig (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO).

2. Auch mag der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) bestehen.

3. Die besonderen Voraussetzungen des § 121 Abs. 1 StPO für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen indessen nicht vor.

Solange - wie hier - kein auf Freiheitsentzug lautendes, Urteil vorliegt, darf nach dieser Vorschrift der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat über 6 Monate nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (vgl. OLG Düsseldorf, 2. Strafsenat, JMBl. NW 1996, 201, 202, BVerfG, NJW 1974, 307, 308; NJW 1994, 2081) rechtfertigen.

a) Die besondere Schwierigkeit und der besondere Umfang der Ermittlungen rechtfertigen die Fortdauer der Untersuchungshaft schon deswegen nicht mehr, weil der Sachverhalt in objektiver und subjektiver Hinsicht - spätestens seit Fertigung und Vorlage der Anklageschrift vom 19. April 2001 - ausermittelt ist und weitere verfahrensfördernde Handlungen bis zum Beginn der Hauptverhandlungen nicht vorgesehen sind und deren Notwendigkeit auch nicht ersichtlich ist (vgl. hierzu OLG Düsseldorf, 1. Strafsenat, NJW 1993, 1088; OLG Bremen, StV 1992, 480; 1994, 326).

b) Ein "anderer wichtiger Grund", der demnach allein geeignet wäre, die Untersuchungshaft gemäß § 121 StPO aufrechtzuerhalten, liegt ebenfalls nicht vor. Die Ausnahmetatbestände des § 121 Abs. 1 StPO sind eng auszulegen (vgl. OLG Düsseldorf, 2 Strafsenat, NJW 1991, 3046, 3047; StV 1992, 586; JMBl. NW 1994, 272, 273; JMBl. NW 1996, 201, 202). Die wichtigen Gründe müssen in ihrem Gewicht den beiden besonders genannten Gründen der besonderen Schwierigkeit oder des besonderen Umfangs der Ermittlungen gleichstehen (vgl. OLG Düsseldorf, 3. Strafsenat, StV 1990, 168; 2. Strafsenat - Beschluß vom 22. Februar 1999, 2 Ws 28/99, S. 4; KG, StV 1994, 90). Der wichtige Grund für die Verlängerung der Untersuchungshaft über die Regeldauer von sechs Monaten muss ein derartiges Gewicht besitzen, dass es gerechtfertigt ist, den Freiheitsanspruch und das Beschleunigungsinteresse des Beschuldigten unter Berücksichtigung von Art. 5 Abs. 3 Satz 2 MRK hinter unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zurücktreten zu lassen (vgl. OLG Düsseldorf, 3. Strafsenat, StV 1990, 168; 2. Strafsenat - Beschluss vom 22. Februar 1999, 2 Ws 28/99, S. 4). Ausprägung dieses Gedanken und des durch die Verfassung geschützten Freiheitsgrundrechts (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ist das in Haftsachen geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot. Dieses verlangt, dass die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um eine Entscheidung über den Anklagevorwurf mit der gebotenen Schnelligkeit herbeizuführen (vgl. BVerfG NJW 1994, 2081, 2082).

Hier könnte eine Haftverlängerung nur nach dieser derart zu interpretierenden Generalklausel des "anderen wichtigen Grundes" unter dem Gesichtspunkt einer Überlastung des Gerichts gerechtfertigt sein. Als wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO ist eine Überlastung infolge Häufung anhängiger Sachen oder unzulänglicher Besetzung des Spruchkörpers, die länger andauert oder durch Ausschöpfung von gerichtsorganisatorischen Mitteln und Möglichkeiten hätte ausgeglichen werden können, nicht anzusehen (vgl. BVerfG, NJW 1994, 2081, 2082; NJW 1974, 307, 308; OLG Düsseldorf, 2. Strafsenat - Beschluss vom 22. Februar 1999, 2 Ws 28/99, S. 4). Demnach kommt eine Überlastung des Gerichts nur dann als wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1. StPO in Betracht, wenn sie kurzfristig ist und weder voraussehbar noch vermeidbar war. Wenn also im Rahmen der vorhandenen Gerichtsausstattung mit personellen und sachlichen Mitteln die Möglichkeit besteht, durch organisatorische Maßnahmen die Erledigung aller Sachen binnen verfahrensangemessener Frist sicherzustellen, verbietet sich die Annahme eines "wichtigen Grundes". Zu solchen Maßnahmen gehört es, dass der Vorsitzende eines überlasteten Spruchkörpers beim Präsidium vorstellig wird und dieser durch Geschäftsverteilungsmaßnamen, notfalls durch Heranziehung von Zivilrichtern, Abhilfe schafft (vgl. OLG Düsseldorf, 3. Strafsenat, StV 1990, 168, 169; 2. Strafsenat, NJW 1991, 3046, 3047; StV 1992, 586, 587; JMBl. NW 1996, 201, 202; Beschluss vom 22. Februar 1999, 2 Ws 28/99, S. 4 jeweils mit Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des BVerfG).

Die nicht nur kurzfristige Überlastung eines Gerichts ist des weiteren selbst dann kein wichtiger Grund, wenn sie auf einen Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten nicht mehr innerhalb angemessener Frist erledigen lässt (vgl. BVerfG StV 1997, 535, 536; NJW 1974, 307, 308; OLG Düsseldorf; 2. Strafsenat, NJW 1991, 3046, 3047; StV 1992, 586, 587). Der Staat kann, sich dem Untersuchungsgefangenen gegenüber nicht darauf berufen, dass er seine Gerichte nicht so ausstattet, wie es erforderlich ist, um die anstehenden Verfahren ohne vermeidbare Verzögerung abzuschließen. Es ist seine Aufgabe, im Rahmen des Zumutbaren alle Maßnahmen zu treffen, die geeignet und nötig sind, einer Überlastung der Gerichte vorzubeugen und ihr dort, wo sie eintritt, rechtzeitig abzuhelfen. Es hat die dafür erforderlichen - personellen wie sachlichen - Mittel aufzubringen, bereitzustellen und einzusetzen. Diese Aufgabe folgt aus der staatlichen Pflicht zur Justizgewährung, die Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips ist. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Zeit in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, dieser Pflicht nachzukommen (vgl. BVerfG NJW 1974, 307, 308).

4. Die Anforderungen an das mit Verfassungsrang ausgestatteten Beschleunigungsgebot sind im vorliegenden Verfahren nicht eingehalten.

a) Soweit die Vorsitzende der Strafkammer in ihrer auf Anfrage des Senats abgegebenen Stellungnahme vom 24. Juli 2001 darauf hinweist, dass nach Zustellung der Anklageschrift mit Verfügung vom 03. Mai 2001 "nach Akteneinsichtsgesuchen für die Verteidiger und Vervollständigung der Zweitakten die Erstakten zur Eröffnung des Verfahrens- und Terminsbestimmung erst wieder am 06. Juli 2001 zur Verfügung standen" vermag dieser Umstand unter Berücksichtigung der oben dargestellten Grundsätze keinen wichtigen Grund für die Haftfortdauer darstellen. Insoweit wäre nämlich eine frühzeitige Anlegung von - weiteren - Aktendoppeln angezeigt und zumutbar gewesen, so dass eine weitere Förderung des Verfahrens durch das Gericht und gleichzeitiges Gewähren von Akteneinsicht möglich gewesen wäre (vgl. hierzu BVerfG, NJW 1994, 2081, 2082; StV 1999, 162; OLG Bremen, StV 1993, 377; Kleinknecht-Meyer-Goßner, StPO, 45. Aufl. 2001, § 121 Rdnr. 23).

b) In ihrer oben erwähnten Stellungnahme hat die Vorsitzende Im Hinblick auf die Gründe für die Terminierung der Hauptverhandlung auf den 13. September 2001 ausgeführt: "Im April und Mai standen vor der Kammer folgende Hauptverhandlungen an: ab dem 23.04 eine bis zum 16.05 an 9 Verhandlungstagen durchgeführte Hauptverhandlung gegen 4 inhaftierte Angeklagte, ab dem 24.04. bis zum 14.05 an 4 Verhandlungstagen eine weitere Sache, ab dem 26.04. an 4 Verhandlungstagen eine weitere Sache, nach einer Woche Urlaub des Vorsitzenden am 28. und 31.05. je eine weitere Verhandlung. Mit Ablauf des 31.05.2001 wurde der Vorsitzende Richter am Landgericht Aue pensioniert. Ab Juni standen und stehen folgende Sachen an: ab dem 06.06. an 6 Verhandlungstagen bis zum 16.07. eine Sache ab mit drei inhaftierten Angeklagten, ab dem 18.06. mehrere mehrtägige Berufungs- und erstinstanzliche Sachen, u. a. ab dem 09.07. die zweitägige Haftsache Sch, die dem Senat ebenfalls gemäß § 122 StPO vorliegt. Bevor in dieser Sache terminiert werden konnte, waren bereits seit längerem eine dreitägige Sache im August und mehrere Berufungssachen angesetzt, so dass in diesem Monat alle Terminstage der Kammer besetzt sind. Im September konnte erst der jetzt festgesetzte Termin bestimmt werden."

Aus dieser Darstellung der Belastungssituation der 1. Strafkammer kann kein wichtiger Grund hergeleitet werden. Insbesondere ergibt sich hieraus nicht, dass es sich bei sämtlichen angeführten anderen in den Monaten Mai bis August 2001 bereits verhandelten bzw. bereits terminierten Verfahren ebenfalls um Haftsachen handelt. Da Haftsachen wegen des verfassungsrechtlich geschützten Freiheitsrechtes unbedingten Vorrang haben, ist das Gericht unter Beschleunigungsgesichtspunkten gehalten, gegebenenfalls bereits terminierte Strafsache, die keine Haftsachen sind, zurückstellen, um eine zeitnahe Terminierung der Haftsache zu ermöglichen (Kleinknecht-Meyer-Goßner, aaO. Rdnr. 25 a.E. m.w.N.). Dass eine solche Vorgehensweise hier nicht möglich gewesen ist, kann der Senat mangels hinreichender Angaben nicht feststellen.

Selbst wenn sich unter den in der Stellungnahme der Vorsitzenden vom 24. Juli 2001 angeführten vorrangig behandelten Strafsachen keine "Nichthaftsachen" befunden haben sollten, belegt die dargestellte Belastungssituation der 1. großen Strafkammer, dass es sich insoweit nicht um eine kurzfristige oder unvorhersehbare Überlastung gehandelt hat, diese vielmehr anscheinend seit längerer Zeit besteht. Es wird nicht ersichtlich, dass frühzeitig, also zu einem Zeitpunkt, als unter Berücksichtigung der Vielzahl der weiteren bei der 1. großen Strafkammer anhängigen Haftsachen und des Umstandes, dass der Vorsitzenden der 1. großen Strafkammer wegen seiner Ende Mai 2001 anstehenden - im übrigen vorhersehbaren - Pensionierung mittelfristig nicht mehr zur Verfügung stehen würde, eine Überlastungsanzeige gegenüber dem Behördenleiter Und dem Präsidium erstattet wurde, so dass möglicherweise justizinterne organisatorische Maßnahmen hätten ergriffen können, die zu einer Erledigung der Haftsache in angemessener Frist hätte führen können.

Die im Rahmen der §§ 121, 122 StPO gebotene Gesamtabwägung zwischen den persönlichen Freiheitsrechten des Angeklagten und dem staatlichen Strafverfolgungsanspruch, dessen besondere Bedeutung der Senat bei den in Rede stehende Delikten aus dem Bereich der schweren Betäubungsmittelkriminalität durchaus gesehen hat, fällt auch unter Berücksichtigung des Tatgewichts und besonderen Interesses der Rechtsgemeinschaft an Sicherung und Durchführung des Verfahrens zugunsten des Angeklagten aus.

Eine Aufrechterhaltung des Haftbefehls unter Haftverschonung ist ausgeschlossen, weil die Voraussetzungen des § 121 StPO für eine Haftverlängerung nicht erfüllt sind (vgl. OLG Düsseldorf, 2. Strafsenat, NJW 1991, 3046, 3047).

Ende der Entscheidung

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