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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 01.03.2001
Aktenzeichen: 8 U 106/00
Rechtsgebiete: BGB, ZPO


Vorschriften:

BGB § 843 Abs. 1
BGB § 284 Abs. 1 Satz 2
BGB § 288 Abs. 1 Satz 1
ZPO § 287
ZPO § 92 Abs. 1
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 711 Satz 1
ZPO § 108 Abs. 1 Satz 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT DÜSSELDORF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

8 U 106/00

Verkündet am 1. März 2001

In dem Rechtsstreit

pp.

hat der 8. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf auf die mündliche Verhandlung vom 25. Januar 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht B, den Richter am Oberlandesgericht G und die Richterin am Oberlandesgericht S

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 9. Mai 2000 verkündete Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts. Duisburg unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels teilweise abgeändert und wie folgt neu gefaßt:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin aufgrund des schädigenden Ereignisses vom 4. Dezember 1982 auf den in der Zeit vom 1. Juni 1994 bis zum 28. Februar 1998 entstandenen materiellen Schaden einen weiteren Betrag in Höhe von 12.209,52 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 16. Juli 1998 zu zahlen.

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin aufgrund des schädigenden Ereignisses vom 4. Dezember 1982 für die Zeit vom 1. März 1998 bis zum 3.1. Dezember 2000 eine monatliche Rente in Höhe von 2.68.7,80 DM abzüglich monatlich gezahlter 2.350 DM sowie ab dem 1. Januar 2001 eine monatliche Rente von 3.235,30 DM abzüglich monatlich gezahlter beziehungsweise anerkannter 2.350 DM nebst 4 % Zinsen aus 1.689 DM seit dem 16. Juli 1998, aus je 337,80 DM für die Monate August 1998 bis Dezember 2000 sowie aus je 885,30 DM für die Rückstände ab Januar 2001 ab dem jeweiligen Monatsersten zu zahlen.

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

Von den Kosten des ersten Rechtszuges werden der Klägerin 89 % und der Beklagten 11 % auferlegt.

Von den Kosten des Berufungsverfahrens haben die Klägerin 87 % und die Beklagte 13 % zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte darf die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 30,000 DM abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Die Klägerin darf die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 20.000 DM abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Die Sicherheiten können auch durch Burgschaft einer deutschen Bank oder Sparkasse erbracht werden.

Tatbestand:

Die am 4. Dezember 1982 geborene Klägerin ist seit ihrer Geburt schwerstbehindert. Sie leidet unter einer spastischen Tetraplegie; auch ihre geistigen Fähigkeiten sind hochgradig eingeschränkt. Nach einem rechtskräftigen Urteil des Senats vom 11. Mai 1995 ist diese Schädigung auf geburtshilfliche Versäumnisse zurückzuführen, für die die Beklagte als damalige Trägerin des St. J S einzustehen hat; in der Entscheidung wird festgestellt, daß die Klägerin Anspruch auf eine monatliche Mehrbedarfsrente und auf Ersatz der künftig eintretenden Schäden hat. In dem Vorprozeß wurden die bis zum 31. Mai 1994 entstandenen materiellen Schaden ausgeglichen, wobei nach Aufnahme der Klägerin in einen Kindergarten ein wöchentlicher Pflegeaufwand von 35 Stunden und eine angemessene Vergütung von 15 DM/Stunde zugrunde gelegt wurde. Auf der Grundlage dieser Berechnung zahlte die für die Beklagte eintrittspflichtige Haftpflichtversicherung ab dem 1. Juni 1994 eine monatliche Mehrbedarfsrente von 2.350 DM. Daneben erhielt die Klägerin von der zuständigen Pflegegeld in Höhe von zunächst 400 DM und seit April 1995 1.300 DM monatlich.

Die Klägerin, die mittlerweile eine Schule für Körperbehinderte besucht, ist der Auffassung, die monatlichen finanziellen Zuwendungen seien nicht geeignet, den nach Abschluß des Vorprozesses gestiegenen personellen und sachlichen Mehraufwand für ihre Betreuung auszugleichen. Sie hat behauptet, ihre Eltern seien an normalen Schultagen durchschnittlich 8,6 Stunden mit pflegerischen Tätigkeiten beschäftigt; an schulfreien Tagen erhöhe sich dieser Mehraufwand um 3,95 Stunden (vgl. Bl. 6 ff. GA). In der Zeit vom 1. Juni 1994 bis zum 18. Februar 1998 seien angesichts zahlreicher Fehlzeiten in der Schule für die Pflege und Betreuung insgesamt 14.817 Stunden angefallen; für eine Stunde sei eine Vergütung von 18 DM angebracht, da ihr - der Klägerin - zunehmendes Körpergewicht den Eltern die Erbringung ihrer Leistungen erheblich erschwere. Der personelle Mehraufwand belaufe sich deshalb auf (14.817 Stunden x 18 DM =) 266.706 DM. Hinzu komme ein sachlicher Mehraufwand für Fahrtkosten (3.628,80 DM) und die Anschaffung krampfhemmender homöopathischer Medikamente (1.080,08 DM), der Aufwand für Pflegeeinsatze (350 DM), die Kosten für Pflegemittel (900 DM) sowie eine Pauschale für Telefon und Porto (1.350 DM). Von diesem Gesamtaufwand seien das von der gezahlte Pflegegeld von insgesamt 49.500 DM sowie der von der Haftpflichtversicherung der Beklagten übernommene Betrag von 112.400 DM abzuziehen; der verbleibende Schaden von 112.104,88 DM sei ihr zu erstatten. Bei Ermittlung der monatlichen Mehrbedarfsrente für die Zeit ab 1. März 1998 seien 356 Betreuungsstunden mit einer Vergütung von jeweils 19 DM zugrunde zu legen; zu berücksichtigen seien ferner monatlich anfallende sachliche Aufwendungen in Höhe von 155,30 DM. Von dem Gesamtbetrag von 6.919,30 DM seien das Pflegegeld in Höhe von 1.300 DM und der von der Haftpflichtversicherung gezahlte Betrag von 2.350 DM abzuziehen.

Die Klägerin hat beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an sie aufgrund des schädigenden Ereignisses vom 4. Dezember 1982 auf den in der Zeit vom 1. Juni 1994 bis zum 28. Februar 1998 entstandenen materiellen Schaden einen weiteren Betrag in Höhe von. 224.514,88 DM zu zahlen, abzüglich bereits gezahlter 112.400 DM, zuzüglich 4 % Zinsen hieraus seit dem 16. Juli 1998;

2. die Beklagte zu verurteilen, an sie aufgrund der schädigenden Ereignisse vom 4. Dezember 1982 ab dem 1. März 1998 eine monatliche Rente in Höhe von 5.619,30 DM zu zahlen abzüglich eines anerkannten Betrages in Höhe von 2.350 DM zuzüglich 4 % Zinsen hieraus seit dem 16. Juli 1998.

Die Beklagte hat den Antrag gestellt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat ihre Passivlegitimation bestritten und insoweit die Ansicht vertreten, die Forderung sei gegen die St. C gGmbH als neue Krankenhausträgerin zu richten. Im übrigen hat sie den Umfang des Pflegeaufwands und der sonstigen Leistungen bestritten.

Die 6. Zivilkammer des Landgerichts Duisburg hat durch Einholung eines Sachverständigengutachtens Beweis erhoben und sodann unter Abweisung der weitergehenden Klage der Klägerin durch Urteil vom 9. Mai 2000 auf den geltend gemachten materiellen Schaden einen Betrag von 93.621,72 DM hebst Zinsen sowie eine monatliche Mehrbedarfsrente von 4.428,10 DM abzüglich des anerkannten Betrages von 2.350 DM zuerkannt.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Beklagten. Sie wendet sich gegen die aus ihrer Sicht nicht nachvollziehbaren Feststellungen des Sachverständigen und trägt vor, der pflegerische Mehraufwand zur. Betreuung der schwerbehinderten Klägerin beschränkte sich auf einen Zeitraum von sieben Stunden täglich. Als Vergütung könne allenfalls ein Betrag von 16,30 DM/Stunde verlangt werden. Angesichts dessen sei der berechtigte Anspruch auch unter Berücksichtigung des - in der Berufungsinstanz nicht mehr bestrittenen - sachlichen Mehraufwands von 155,30 DM monatlich durch die Leistungen ihrer Haftpflichtversicherung ausgeglichen.

Die Beklagte beantragt,

unter teilweiser Abänderung der angefochtenen Entscheidung die Klage insgesamt abzuweisen.

Die Klägerin stellt den Antrag,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie macht geltend, der betreuerische Mehraufwand sei nicht mathematisch exakt zu ermitteln; die vom Landgericht vorgenommene Schätzung entspreche aber den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der von den Parteien eingereichten Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

A.

Die zulässige Berufung ist teilweise begründet. Die Klägerin kann nach § 843 Abs. 1 BGB für den Zeitraum vom 1. Juni 1994 bis zum 28. Februar 1998 Zahlung weiterer 12.209,52 DM verlangen. Ferner steht ihr bis zum Eintritt der Volljährigkeit eine monatliche Mehrbedarfsrente, von 2.687,80 DM zu, die seit dem 1. Januar 2001 auf 3.235,30 DM zu erhöhen ist:

I.

Aufgrund des rechtskräftigen Urteils des Senats vom 11. Mai 1995 steht fest, daß die Beklagte den mit der schwerwiegenden Behinderung der Klägerin verbundenen Mehrbedarf in angemessener Weise auszugleichen hat. Werden einem geburtsgeschädigten Kind die notwendigen Pflegeleistungen unentgeltlich durch seine Angehörigen erbracht, ist deren Tätigkeit grundsätzlich zu vergüten, wobei sich die Höhe des Anspruchs danach richtet, welcher Bedarf bei der von dem Geschädigten in zumutbarer Weise gewählten Lebensgestaltung tatsächlich anfällt. Naturgemäß ist es nicht möglich, den zu ersetzenden Schaden für jeden Lebenstag zeitlich exakt zu ermitteln; vielmehr ist der Umfang der erforderlichen Aufwendungen nach § 287 ZPO unter Berücksichtigung der nachvollziehbaren Angaben der mit der Betreuung befaßten Angehörigen und unter Zugrundelegung von Erfahrungswerten zu schätzen. Bei Anwendung dieser allgemeinen Erwägungen ist das Urteil des landgerichts teilweise abzuändern:

1.

In seiner Entscheidung vom 11. Mai 1995 ist der Senat für den Zeitraum, in dem die Klägerin einen Kindergarten besuchen konnte, von einem wöchentlichen Mehrbedarf von 35 Stunden ausgegangen. Bei der Ermittlung dieses Wertes wurden sowohl die glaubhaften Angaben der Kindeseltern als auch die Ausführungen des bereits damals mit der Angelegenheit befaßten Sachverständigen Prof. Dr. S berücksichtigt. Im weiteren Verlauf hat sich ergeben, daß der Betreuungsaufwand seither gewachsen ist: Zum einen wird der Schulunterricht von der Klägerin nicht regelmäßig besucht; es kommt häufig zu Ausfallzeiten, in denen die mit der Fremdbetreuung verbundene Entlastung der Eltern wegfallt. Zum anderen ist bei einem Vergleich des notwendigen Aufwands für die Betreuung des behinderten Mädchens mit der für ein gesundes Kind aufzubringenden Zeit zu berücksichtigen, daß alter werdende Schulkinder in zunehmendem Maße selbständig werden und die elterliche Hilfestellung immer weniger benötigen. Im Ergebnis kann der Schätzung in dem angefochtenen Urteil dennoch nicht gefolgt werden: Das Landgericht hat außer acht gelassen, daß die Beaufsichtigung und Forderung eines gesunden Kindes jedenfalls bis zum Eintritt der Volljährigkeit keinesfalls völlig entbehrlich ist; zur Betreuung der schulischen Belange und zur Ermöglichung von Freizeitaktivitäten wird der persönliche Einsatz der Eltern gefordert, den die Klägerin selbst in ihrer Klageschrift mit einer Stunde täglich ansetzt. Darüber hinaus wird der Klägerin in der erstinstanzlichen Entscheidung zu Unrecht ein zusätzlicher Aufwand für die vermehrte menschliche Zuwendung der Eltern zugute gehalten. Dieser Aspekt muß nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung (BGHZ 106, 28; NJW 1999, 2819) aus grundsätzlichen Erwägungen außer Betracht bleiben: Es ist sicherlich nachvollziehbar, anerkennenswert und für die persönliche Entwicklung bedeutsam, daß sich die Angehörigen einem behinderten Kind mit besonderer Fürsorge widmen; häufig ist es das Bestreben der Eltern, die offensichtliche Hilfsbedürftigkeit einer geistig und körperlich behinderten Person verstärkt durch liebevolle Zuwendung und Aufmerksamkeit auszugleichen. Diese - immateriellen - Leistungen durften aber nicht bei der schadensrechtlichen Bewertung des notwendigen Betreuungsaufwands berücksichtigt werden. Bei der gebotenen Abwägung der gesamten Umstände halt der Senat für den Zeitraum bis zum Eintritt der Volljährigkeit der Klägerin einen Mehraufwand von sieben Stunden täglich für angemessen.

2.

Hinsichtlich des Stundensatzes folgt der Senat den Ausführungen des Landgerichts. In dem Vorprozeß wurde für die Zeit von 1983 bis 1994 insgesamt eine Vergütung von 15 DM/Stunde für angemessen erachtet. Dieser Betrag ist für die Zeit von 1994 bis heute den geänderten allgemeinen wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen; auch ist zu berücksichtigen, daß die erforderlichen Betreuungsleistungen den Eltern aufgrund der unvermeidlichen Gewichtszunahme der Klägerin zunehmend schwerer fallen. Angesichts dessen ist die zuerkannte Vergütung von 18 DM/Stunde nicht zu beanstanden.

II.

Im einzelnen sind die der Klägerin zustehenden Ansprüche wie folgt zu berechnen:

1.

Der noch nicht ausgeglichene Schaden für die Zeit vom 1. Juni 1994 bis zum 28. Februar 1998 belauft sich auf 12.209,52 DM:

1.369 Tage x 7 Stunden = 9.583 Stunden 9.583 Stunden x 18 DM = 172.494,-- DM zuzüglich sachliche Schadenspositionen + 6.228,80 DM abzüglich Pflegegeld - 49.500,-- DM abzüglich sonstige Leistungen Dritter - 4.613,28 DM abzüglich der Leistungen der Haftpflichtversicherung - 112.400,-- DM 12.209,52 DM. 2.

Die bis zum 31. Dezember 2000 angefallene monatliche Mehrbedarfsrente ist rechnerisch wie folgt zu ermitteln:

7 Stunden x 365 Tage = 2.555 Stunden 2.555 Stunden x 18 DM = 45.990,-- DM 45.990 DM : 12 Monate = 3.832,50 DM zuzüglich materieller Schadenspositionen + 155,30 DM abzüglich Pflegegeld - 1.300,-- DM 2.687,80 DM.

Auf diesen Betrag hat die Haftpflichtversicherung der Beklagten regelmäßig 2.350 DM gezahlt, so daß der Klägerin für den genannten Zeitraum monatlich weitere 337,80 DM zustehen.

3.

Ab dem 1. Januar 2001 ist diese Rente zu erhöhen. Der Senat geht nämlich davon aus, daß ein gesundes Kind vom Zeitpunkt der Volljährigkeit an nicht mehr auf die Betreuung der Angehörigen angewiesen wäre. Angesichts dessen ist der Mehrbedarf der Klägerin nunmehr auf 8 Stunden täglich zu schätzen. Angesichts dessen ergibt sich folgende monatliche Rente:

365 Tage x 8 Stunden = 2.920 Stunden 2.920 Stunden x 18 DM = 52.560,-- DM 52.560 DM : 12 Monate = 4.380,-- DM zuzüglich sachliche Schadenspositionen + 155,30 DM abzüglich Pflegegeld - 1.300,-- DM 3.235,30 DM

Von diesem Betrag hat die Haftpflichtversicherung der Klägerin einen Teilbetrag von 2.350 DM regelmäßig gezahlt und für die Zukunft anerkannt. Als zusätzlich geschuldet verbleiben 885,30 DM.

III.

Der Zinsanspruch ergibt sich aus den §§ 284 Abs. 1 Satz 2, 288 Abs. 1 Satz 1 BGB.

B.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 Satz 1, 108 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

Die Beschwer beider Parteien liegt über 60.000 DM.

Ende der Entscheidung

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