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Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 13.12.2004
Aktenzeichen: I-1 U 135/04
Rechtsgebiete: StVG, ZPO, StVO


Vorschriften:

StVG § 17 Abs. 1
StVG § 17 Abs. 2
ZPO § 286
StVO § 1
StVO § 10
StVO § 18 Abs. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 29. Juni 2004 verkündete Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Wuppertal dahin abgeändert, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verurteilt werden, an die Klägerin 10.062,87 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszins seit dem 2. November 2003 zu zahlen, abzüglich am 14. Mai 2004 gezahlter 7.547,15 EUR und am 16. August 2004 gezahlter weiterer 104,44 EUR.

Die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Entscheidungsgründe: Die Berufung ist zulässig und auch begründet. 1. Entgegen der Ansicht des Landgerichts sind die Beklagten nicht nur zu 75 %, sondern in vollem Umfang für den Schaden verantwortlich, der der Klägerin durch den Unfall vom 15. September 2003 entstanden ist. a) Das Landgericht hat die 25 %ige Mithaftung der Klägerin damit begründet, dass die Betriebsgefahr, die von ihrem Fahrzeug ausgegangen sei, nicht vollständig zurücktreten könne, obgleich dem Fahrer ihres Fahrzeugs kein Verschulden zur Last falle, während die Beklagte zu 1. schon nach Anscheinsgrundsätzen eine Vorfahrtverletzung beim Einfädeln begangen habe. Eine Alleinhaftung beim BAB-Einfädelverkehr komme "grundsätzlich" nur dann in Betracht, wenn der Einfahrende in einem Zug rücksichtslos vom Beschleunigungsstreifen auf die Überholspur fahre. Im Rahmen der Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 2 StVG sei weiter zu beachten, dass dem Einfädelverkehr die Einfahrt auf den Hauptfahrstreifen von den dort fahrenden Verkehrsteilnehmern zu ermöglichen sei. Soweit möglich, seien diese dazu verpflichtet, durch rechtzeitiges deutliches Linksausbiegen oder leichtes Abbremsen die Einfahrt auf die Hauptfahrspur zu fördern. Dass ein derartiges rechtzeitiges Ausweichen auf die linke Spur für den Fahrer des Fahrzeugs der Klägerin möglich gewesen sei, sei anzunehmen. So habe die Klägerin nicht bestritten, dass die linke Fahrspur frei gewesen sei. Zudem sei unstreitig, dass das Ausweichmanöver des Zeugen L. nicht deswegen zum Unfall geführt habe, weil sich auf der linken Fahrspur andere Fahrzeuge befunden haben. b) Diese Ausführungen halten den Angriffen der Berufung nicht stand. Die Haftungsabwägung ist in der Tat rechtsfehlerhaft. aa) Die vom Landgericht formulierten allgemeinen Abwägungsgrundsätze stehen zwar im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Richtig ist insbesondere, dass bei der Abwägung der beiderseitigen Betriebsgefahren gefahrerhöhende Umstände zu Lasten eines Unfallbeteiligten nur dann berücksichtigt werden können, wenn sie feststehen, d. h. unstreitig, zugestanden oder nach § 286 ZPO bewiesen sind. Außerdem müssen sie sich auf den Unfall ausgewirkt haben (vgl. u.a. BGH NJW 2000, 3069). Das Landgericht sieht auch richtig, dass bei der Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 1 StVG in erster Linie das Maß der Verursachung von Belang ist, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Das Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung. bb) Bei Beachtung dieser anerkannten Maßstäbe hätte das Landgericht jedoch nicht zum Nachteil der Klägerin eine Mithaftung von 25 % annehmen dürfen. Die Annahme des Einzelrichters, es sei dem Fahrer des klägerischen Fahrzeugs, einem Kleintransporter der Marke Renault, möglich gewesen, rechtzeitig auf die linke Spur auszuweichen, beruht zum einen auf einer Unterstellung und ist zum anderen kein für die Haftungsabwägung relevanter Faktor. Nach dem Vortrag der Klägerin befuhr der Zeuge L. den "ersten Fahrstreifen der Hauptfahrbahn", als die Beklagte zu 1., von der Auffahrt kommend, einfahren wollte. Wie die Verkehrsverhältnisse zu diesem Zeitpunkt auf dem zweiten Fahrstreifen waren, geht aus dem Sachvortrag der Klägerin nicht hervor. Dass dort kein Fahrzeug unterwegs gewesen ist oder zumindest bei der herrschenden Dunkelheit nicht sichtbar war, hat die Klägerin zu keinem Zeitpunkt vorgetragen. Allerdings hat sie sich auch nicht darauf berufen, der Zeuge L. habe wegen vorhandener Verkehrsteilnehmer nicht auf den zweiten Fahrstreifen wechseln können, um so für die Beklagte zu 1. Platz zu machen. Der gleichfalls sehr knappen Unfallschilderung der Beklagten in ihrer Klageerwiderung ist zu entnehmen, dass das klägerische Fahrzeug während des Fahrstreifenwechsels von der Beschleunigungsspur auf die erste Fahrspur überholt habe. Nach diesem Überholvorgang (durch Fettdruck und Unterstreichung besonders hervorgehoben) sei es nach links von der Fahrbahn abgekommen und gegen die Leitplanke geprallt. Weiter heißt es in der Klageerwiderung, der linke Fahrstreifen, auf dem das Fahrzeug der Klägerin überholt habe, sei frei gewesen. Frei war demnach derjenige Fahrstreifen, auf dem das Fahrzeug der Klägerin überholt haben soll. Demgegenüber hat das Landgericht den Sachvortrag der Beklagten dahin verstanden, frei sei derjenige Fahrstreifen gewesen, der neben dem Fahrstreifen verlaufe, den der Zeuge L. mit dem Fahrzeug der Klägerin befahren habe. Es spricht insoweit von der "linken Spur" und meint damit entweder die Überholspur oder bei einer dreispurigen Autobahn die mittlere Spur. Angesichts des nicht eindeutigen Sachvortrags der Beklagten durfte das Landgericht die Tatsache, dass die Klägerin den gegnerischen Sachvortrag hinsichtlich der Verhältnisse auf der "linken Fahrspur" nicht ausdrücklich bestritten hat, nicht zum Nachteil der Klägerin verwerten. Ob etwas nicht bestritten wird, muss das Gericht im Zweifelsfall aufklären. Soweit das Landgericht seine Annahme vom Freisein der "linken Fahrspur" zusätzlich damit begründet, andere Fahrzeuge seien unstreitig am Unfallgeschehen nicht beteiligt gewesen, erweist sich auch dies als nicht stichhaltig. Aus der Tatsache, dass im Rahmen des Ausweichmanövers andere Fahrzeuge keine Rolle gespielt haben, jedenfalls von keiner Partei erwähnt worden sind, kann nicht geschlossen werden, dass der zweite (linke) Fahrstreifen in dem Augenblick frei war, als Herr L. mit dem Fahrzeug der Klägerin hätte ausweichen können. Offen und ungeklärt ist überdies, zu welchem Zeitpunkt und gegebenenfalls wie lange die Möglichkeit bestanden hat, durch Verlassen des ersten Fahrstreifens der Beklagten zu 1. das Einfahren zu ermöglichen. Nach Ansicht des Landgerichts habe Herr L. "rechtzeitig" auf die linke Spur ausweichen können. Damit stellt das Landgericht auf einen Gesichtspunkt ab, der bereits in tatsächlicher Hinsicht zumindest fragwürdig ist. Zu berücksichtigen ist nämlich der Vortrag der Klägerin, die Beklagte zu 1. habe auf die "Hauptfahrbahn" wechseln wollen, "obwohl sie sich nahezu auf gleicher Höhe mit dem klägerischen Fahrzeug befand". Auf welche Weise die beiden Fahrzeuge in diese Position (Fahren nahezu auf gleicher Höhe) gelangt sind, geht aus dem beiderseitigen Sachvortrag nicht hervor. Insoweit bestehen mehrere Möglichkeiten. Ohne in diesem Punkt Klarheit zu haben, kann zu Lasten der Klägerin nicht davon ausgegangen werden, der Zeuge L. habe rechtzeitig auf den zweiten Fahrstreifen wechseln können. Dies um so weniger, als die von beiden Fahrzeugen gefahrenen Geschwindigkeiten im Dunkeln liegen. cc) Auch in der rechtlichen Bewertung und Gewichtung der beiderseitigen Betriebsgefahren vermag der Senat dem Landgericht nicht zu folgen. Außer Streit steht zunächst, dass der Beklagten zu 1. eine unfallursächliche Mißachtung der Vorfahrt nach § 18 Abs. 3 StVO zur Last fällt. Das hat das Landgericht zutreffend gesehen. Während die Beklagten dies hinnehmen, macht die Berufung unter Hinweis auf § 10 StVO geltend, die Beklagte zu 1. habe bei dem Wechsel von der Beschleunigungsspur auf den ersten Fahrstreifen die äußerste Sorgfalt an den Tag legen müssen. Das ist im Kern richtig. Wer an einer Anschlussstelle auf die Autobahn auffährt, kommt aus einem anderen Straßenteil im Sinne des § 10 StVO. Damit hat er die Gefährdung der anderen Verkehrsteilnehmer auszuschließen (vgl. auch Senat, Urt. v. 16. Juni 2003. 1 U 39/03; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 37. Aufl., § 18 StVO Rn. 18). Ohne Lichtbilder von der Unfallstelle und auch ohne polizeiliche Skizze ist der Senat nicht in der Lage, die baulichen Verhältnisse im Unfallbereich präzise einzuschätzen. Im Sachvortrag der Parteien ist zum Teil von "Auffahrt", zum Teil auch von "Beschleunigungsstreifen" die Rede. Da auch die Beklagten den Begriff "Beschleunigungsspur" bzw. "Beschleunigungsstreifen" benutzen, hat der Senat keine Bedenken, ohne weitere Sachaufklärung von einem "Beschleunigungsstreifen" auszugehen. Ohne die Vorschrift des § 10 StVO zu erwähnen, stellt der BGH die Forderung auf, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, der von einem Beschleunigungsstreifen aus auf die Autobahn einfahren will, dies mit "größter Vorsicht" unter Beachtung des Vorfahrtsrechtes des sich auf der Autobahn bewegenden Verkehrs zu tun habe (NJW 1986, 1044). "Äußerste Sorgfalt" bzw. "größte Vorsicht" wird deshalb gefordert, weil die Situation des Einfahrens auf eine Autobahn erfahrungsgemäß mit besonderen Gefahren für den Schnellverkehr auf der Autobahn verbunden ist. Die objektiv besonders hohe Gefahrenträchtigkeit der Fahrweise der Beklagten zu 1. fällt bei der Haftungsabwägung erheblich ins Gewicht. Hinzu kommt, dass der Verantwortungsbeitrag, für den die Beklagten einzustehen haben, durch das Verschulden der Beklagten zu 1. erhöht worden ist. Dem gegenüber steht auf Seiten der Klägerin die Betriebsgefahr ihres Kleintransporters, der mit normaler, jedenfalls nicht überhöhter Geschwindigkeit auf dem ersten Fahrstreifen fuhr. Dem Fahrer, dem Zeugen L., fällt keinerlei Verschulden zur Last. Das sieht das Landgericht nicht anders und kommt dennoch zu einer Mithaftung der Klägerin im Umfang von 25 %. Ein Verschulden der Beklagten zu 1., das so groß wäre, dass die Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Klägerin vollständig dahinter zurücktreten würde, vermag es nicht zu erkennen. Ob das Landgericht dabei in Betracht gezogen hat, dass die Beklagte zu 1. "größte Vorsicht" und damit eine gesteigerte Sorgfalt zu beachten hatte, kann seinen Erwägungen nicht entnommen werden. Sollte es zum Ausdruck bringen wollen, dass ein grob fahrlässiges Verhalten der Beklagten zu 1. nicht feststellbar sei, wäre dies zutreffend. Aber auch unterhalb der Schwelle grober Fahrlässigkeit wiegt das Verschulden der Beklagten zu 1. schwer. Den vom Landgericht unter falschem Hinweis auf die Entscheidung des OLG Hamm, abgedruckt in ZfS 1993, 365, formulierten Grundsatz, dass eine Alleinhaftung des Einfahrenden nur dann in Betracht komme, wenn er rücksichtslos vom Beschleunigungsstreifen auf die Überholspur fahre, kann der Senat nicht anerkennen. Die Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVG kann nicht schematisch erfolgen. Sie ist aufgrund aller festgestellten Umstände des Einzelfalles vorzunehmen. Entgegen der Ansicht des Landgerichts fällt zu Lasten der Klägerin nicht ins Gewicht, dass der Zeuge L. es der Beklagten zu 1. nicht ermöglicht hat, durch einen Wechsel des Fahrstreifens nach links den Beschleunigungsstreifen zu verlassen. Abgesehen von der unsicheren Grundlage in tatsächlicher Hinsicht gilt rechtlich Folgendes: Ohne gegenteilige Anhaltspunkte konnte und durfte der Zeuge L. darauf vertrauen, dass die Beklagte zu 1. sein Vorfahrtrecht auf dem ersten Fahrstreifen beachtet (vgl. Hentschel, a.a.O., § 18 Rn. 17). Eine Verkehrssituation, in welcher der Zeuge L. auf sein Vorfahrtrecht hätte verzichten müssen, ist von den Beklagten weder dargetan noch ersichtlich (zur Bedeutung von § 11 Abs. 3 StVO im Zusamenhang mit dem Einfahren auf eine Autobahn vgl. Senat, Urteil vom 16. Juni 2003, 1 U 39/03). Auch anderweitig sieht der Senat keine Grundlage für die Annahme einer Rechtspflicht des Zeugen L., der Beklagten zu 1. durch einen Fahrstreifenwechsel oder durch eine Temporeduzierung das Einfahren zu ermöglichen. Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus § 1 StVO. Es mag ein Gebot der Höflichkeit sein, Verkehrsteilnehmern an einer Autobahnanschlussstelle das Einfahren zu erleichtern. Eine rechtliche Verpflichtung dazu besteht im Allgemeinen nicht. Dann geht es aber nicht an, denjenigen, der sein Vorfahrtrecht im Vertrauen auf dessen Beachtung wahrnimmt, im Rahmen der Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 1 StVG wegen dieser rechtlich nicht zu beanstandenen Verhaltensweise zu belasten. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der vom Landgericht zitierten Entscheidung des OLG Hamm, abgedruckt in VerR 2001, 654. Sie betrifft den Sonderfall des Zusammentreffens zweier Lastkraftwagen im Bereich einer Autobahnraststätte. Insbesondere unter LKW-Fahrern entspreche es nach Meinung des OLG Hamm einer weitverbreiteten Übung, dem Einfahrwilligen dadurch entgegenzukommen, dass ihm Platz gemacht werde. Der Senat kann offen lassen, ob ein Verstoß gegen eine derartige Übung bei der Bewertung der Betriebsgefahr überhaupt berücksichtigt werden darf. Jedenfalls konnte die Beklagte zu 1. als PKW-Fahrerin in der konkreten Verkehrssituation, wobei auch die Dunkelheit eine Rolle spielt, ein derartiges Entgegenkommen ohne konkrete Anhaltspunkte (Blinken, Verlangsamen, Lichthupe) nicht erwarten. Nach alledem ist es nicht gerechtfertigt, der Klägerin unter dem Gesichtspunkt der Betriebsgefahr eine Mithaftung aufzuerlegen. Vielmehr tritt die Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs vollständig zurück. Andernfalls würde das Vorfahrtrecht auf Autobahnen wesentlich entwertet. 2. Was die Schadenshöhe angeht, so haben die Beklagten gegen den schlüssig dargelegten Gesamtbetrag von 10.062,87 EUR keine Bedenken erhoben. Gleiches gilt für den Zinsanspruch. 3. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 91 a, 708 Nr. 10, 713 ZPO. Ein Anlass, die Revision zuzulassen, besteht nicht (§ 543 Abs. 2 ZPO). Streitwert für das Berufungsverfahren und Beschwer für die Beklagten: 2.411,28 EUR (10.062,87 EUR abzüglich 7.547,15 EUR und 104,44 EUR).

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