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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 22.02.2007
Aktenzeichen: I-8 U 17/05
Rechtsgebiete: BGB, DÜG


Vorschriften:

BGB § 288 Abs. 1
BGB § 291 a.F.
BGB § 852 a.F.
BGB §§ 823 ff.
BGB § 847 a.F.
DÜG § 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Auf die Berufung des Klägers und unter Zurückweisung seines weitergehenden Rechtsmittels sowie unter Zurückweisung der Berufungen der Beklagten und des Streithelfers wird das am 30. Dezember 2004 verkündete Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 100.000 € nebst 4 % Zinsen seit dem 24. Mai 2004 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger alle zukünftigen materiellen Schäden zu ersetzen, die aus Behandlungsfehlern anlässlich seines Aufenthaltes bei der Beklagten vom 18. Juli bis zum 27. September 1990 herrühren, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergehen.

Im übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits werden zu 55 % dem Kläger und zu 45 % der Beklagten auferlegt. Die Kosten der Nebenintervention tragen zu 55 % der Kläger und zu 45 % der Streithelfer.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte darf die Vollstreckung des Klägers gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Der Kläger darf die Vollstreckung der Beklagten und des Streithelfers in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte und der Streithelfer vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe:

A.

Der Kläger kam am 16.06.1990 als extreme Frühgeburt - nach der Dokumentation aus der 26. Schwangerschaftswoche - mit einem Gewicht von 960 g zur Welt und wurde am 18.07.1990 in die Kinderklinik der von der Beklagten betriebenen Krankenanstalten F. N. verlegt. Auf Veranlassung der Kinderärzte sollte am 13.09.1990 durch den Streithelfer der Beklagten eine konsiliarische augenärztliche Untersuchung stattfinden, die mangels ausreichender medikamentöser Erweiterung der Pupillen jedoch zunächst nicht durchgeführt werden konnte. Der Streithelfer der Beklagten nahm die Kontrolluntersuchung sodann am 19.09.1990 vor. Nach den Behandlungsunterlagen wurden dabei keine pathologischen Veränderungen festgestellt; unter der Rubrik "Therapievorschlag" ist in der Dokumentation vermerkt: "Mutter wurde augenärztliche Kontrolle in ca. 6 Wochen empfohlen". Anlässlich der Entlassung des Klägers aus der Kinderklinik der Beklagten am 27.09.1990 wurde der Mutter ein von der Mitarbeiterin Dr. K. handschriftlich gefertigter Arztbrief mit dem Datum vom selben Tage übergeben, in dem es u.a. heißt: "Augenärztl. Bef.: Zur Zeit ohne path. Bef., Kontrolle in 6-8 Wochen". Die Mutter des Klägers stellte ihn am 26.11.1990 bei dem Chefarzt der Abteilung für Augenheilkunde des M.-H. in D., Prof. S., vor, der eine Frühgeborenen-Retinopathie diagnostizierte und der Mutter eine Untersuchung des Kindes in der Augenklinik der Krankenanstalten der Stadt K. zur Abklärung eines möglichen operativen Vorgehens empfahl. Dort wurde der Kläger in der Zeit vom 05. bis zum 07.12.1990 untersucht; der Direktor der Augenklinik, Prof. Dr. P., stellte eine Frühgeborenen-Retinopathie des Stadiums IV am rechten und des Stadiums V am linken Auge fest. Als Folge der Retinopathie ist der Kläger auf beiden Augen erblindet.

Der Kläger macht die Beklagte für seine Erblindung verantwortlich. Er behauptet, bei der augenärztlichen Untersuchung vom 19.09.1990 sei seine Mutter nicht zugegen gewesen; eine Empfehlung, ihn in ca. 6 Wochen erneut bei einem Augenarzt vorzustellen, sei ihr gegenüber nicht erfolgt. Seine Mutter habe erstmals durch den Arztbrief vom 27.09.1990 von der Erforderlichkeit einer weiteren augenärztlichen Untersuchung erfahren. Die in diesem Bericht angesprochene Frist von 6-8 Wochen sei zu lang bemessen gewesen; man hätte seine Mutter vielmehr dahingehend belehren müssen, nach der Entlassung aus der Kinderklinik in 14 tägigen Abständen augenärztliche Kontrollen vornehmen zu lassen. Entsprechenden Anweisungen wäre seine Mutter nachgekommen; dies hätte dazu geführt, dass die Retinopathie erfolgreich hätte behandelt werden können und ihm das Augenlicht erhalten geblieben wäre.

Der Kläger hat die Zahlung eines Schmerzensgeldes von mindestens 250.000 €, einer Schmerzensgeldrente von mindestens 500 € monatlich sowie die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für zukünftige materielle Schäden begehrt.

Die Beklagte und ihr Streithelfer sind den Vorwürfen entgegengetreten. Sie haben vorgetragen, die Mutter des Klägers habe der Untersuchung vom 19.09.1990 beigewohnt; dabei sei ihr von dem Streithelfer eine augenärztliche Kontrolle in ca. 6 Wochen angeraten worden. Diese Empfehlung habe dem damaligen medizinischen Standard entsprochen; nach dieser Anweisung hätte die Mutter sich richten müssen. Dass eine frühere Untersuchung die Erblindung des Klägers verhindert hätte, haben die Beklagte und ihr Streithelfer bestritten; darüber hinaus haben sie hinsichtlich deliktischer Ansprüche die Einrede der Verjährung erhoben und geltend gemacht, die Mutter des Patienten habe aufgrund einer Mitteilung von Prof. Dr. P. - der sie ausweislich des vorprozessualen Schriftverkehrs bereits 1990 darauf hingewiesen habe, dass die Kontrolluntersuchung zu spät terminiert worden sei - schon damals die gemäß § 852 BGB a.F. erforderliche Kenntnis von dem vermeintlichen Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen besessen.

Das Landgericht hat dem Feststellungsantrag stattgegeben; die auf Zahlung eines Schmerzensgeldes sowie einer Schmerzensgeldrente gerichtete Klage hat die Kammer wegen Verjährung abgewiesen. In den Gründen hat die Kammer zum Feststellungsausspruch ausgeführt, die Empfehlung in dem Entlassungsbrief, den Kläger erst in 6 - 8 Wochen zur augenärztlichen Kontrolle vorzustellen, stelle einen groben Behandlungsfehler mit der Folge einer Beweislastumkehr zu Lasten der Beklagten dar. Diese habe nicht bewiesen, dass bei einer rechtzeitigen Kontrolluntersuchung eine Erblindung nicht hätte vermieden werden können.

Gegen diese Entscheidung richten sich die Rechtsmittel der Parteien und des Streithelfers.

Der Kläger verfolgt sein Schmerzensgeldbegehren weiter und wendet sich gegen die Annahme einer diesbezüglichen Verjährung.

Der Kläger beantragt,

unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils

1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld, mindestens jedoch 250.000 €, nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit (24.05.2004) zu zahlen;

2. die Beklagte zu verurteilen, an ihn ab dem 16.06.1991 eine in das Ermessen des Gerichts gestellte monatliche Schmerzensgeldrente, mindestens jedoch monatlich 500 €, vierteljährlich im Voraus jeweils am 1. Februar, 1. Mai, 1. August und 1. November eines jeden Jahres zu zahlen.

Die Beklagte und ihr Streithelfer bitten um Zurückweisung der Berufung des Klägers und beantragen im Rahmen ihrer Rechtsmittel, unter teilweiser Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage insgesamt abzuweisen.

Sie vertiefen ihr erstinstanzliches Vorbringen und tragen vor, die Kammer habe nicht ohne Einschaltung eines medizinischen Sachverständigen von einem groben Behandlungsfehler der Kinderärzte ausgehen dürfen. Der Annahme einer groben Pflichtverletzung stehe im Übrigen die Entscheidung des Senats vom 27.04.1995 entgegen, in der ausgeführt worden sei, dass hinsichtlich der Durchführung und zeitlichen Abfolge von Kontrolluntersuchungen im Jahre 1990 keine Richtlinien oder verbindlichen Empfehlungen existiert hätten.

Der Kläger beantragt,

die Berufungen der Beklagten und des Streithelfers zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die von den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat durch Anhörung der Sachverständigen Prof. Dr. R. und Prof. Dr. B. Beweis erhoben; wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Berichterstattervermerke vom 20.03.2006 (Bl. 274-288 GA) und 02.11.2006 (Bl. 344-353 GA) Bezug genommen.

B.

Die zulässige Berufung des Klägers ist teilweise begründet; die zulässigen Rechtsmittel der Beklagten und ihres Streithelfers haben in der Sache keinen Erfolg.

Die Beklagte ist dem Kläger gemäß §§ 823 ff., 847 BGB a.F. zur Zahlung eines Schmerzensgeldes verpflichtet; darüber hinaus haftet sie sowohl deliktisch als auch nach den Grundsätzen der positiven Vertragsverletzung für künftige materielle Schäden des Klägers.

I.

Nach dem Ergebnis der von dem Senat durchgeführten Beweisaufnahme ist der Beklagten ein ärztliches Fehlverhalten bei der Betreuung des Klägers in ihrer Kinderklinik zur Last zu legen. Dabei kann dahinstehen, wie die Therapieempfehlung einer Kontrolluntersuchung "in 6 - 8 Wochen" zu bewerten ist. Die Erörterung mit dem pädiatrischen Sachverständigen hat nämlich ergeben, dass bereits die von den Kinderärzten veranlasste augenärztliche Erstuntersuchung des Klägers im September 1990 wesentlich zu spät erfolgte.

1. Prof. Dr. R. - der als Leiter der neonatologischen Abteilung einer pädiatrischen Universitätsklinik über umfassende wissenschaftliche Kenntnisse und praktische Erfahrungen zur Beurteilung des medizinischen Sachverhalts verfügt - hat deutlich gemacht, dass die erste augenärztliche Überprüfung der Netzhäute eines zu früh geborenen Kindes in der 5. bis 6. Lebenswoche von den Kinderärzten zu veranlassen ist. Erfolgt - wie im Falle des Klägers - eine Beatmung des Neugeborenen, muss die Erstuntersuchung kurzfristig nach der Entwöhnung vom Respirator stattfinden.

Ein solches Vorgehen war im Jahre 1990 auch bereits als medizinischer Standard etabliert. Wie Prof. Dr. R. und auch Prof. Dr. B. als augenärztlicher Sachverständiger übereinstimmend erläutert haben, waren die maßgebliche Studien zur Frühgeborenen-Retinopathie und ihrer Behandlung durch eine Kryotherapie schon 1984 und 1987 veröffentlich worden. Die diagnostischen Maßnahmen zur rechtzeitigen Erkennung einer solchen Erkrankung hatten auch bereits Eingang in die pädiatrischen Lehrbücher gefunden. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. R. befasste sich schon das im Jahre 1989 in der 4. Auflage erschienene Lehrbuch von Michael Obladen "Neugeborenenintensivpflege" - das nach den Worten des Gutachters damals jeder Assistenzarzt einer Kinderklinik "in der Tasche hatte" - mit den verschiedenen Stadien der Frühgeborenen-Retinopathie und der Erforderlichkeit augenärztlicher Untersuchungen zur Vermeidung einer Erblindung. Prof. Dr. R. hat ausdrücklich betont, dass es vor dem Hintergrund dieses Standes der medizinischen Wissenschaft im Jahre 1990 zum "Minimalstandard" in der Pädiatrie gehörte, zu den genannten Zeitpunkten - in der 5. bis 6. Lebenswoche oder nach der Entwöhnung von der Beatmung - eine ophtalmologische Untersuchung des Neugeborenen in die Wege zu leiten.

2. Da der Kläger nach seiner Geburt am 16.06.1990 7 Wochen lang beatmet wurde, hätten die Ärzte der Beklagten - in deren Kinderklinik das Kind am 18.07.1990 verlegt worden war - ihn bereits Mitte August, spätestens aber am Ende dieses Monats einem Augenarzt vorstellen müssen. Dies wurde in der Klinik der Beklagten unstreitig versäumt; der Kläger wurde dem Streithelfer erstmalig am 13.09.1990 vorgestellt; da die Untersuchung an diesem Tag aus von der Beklagten nicht zu vertretenden Gründen nicht vorgenommen werden konnte, wurde sie am 19.09.1990 durchgeführt.

II.

Im Falle einer rechtzeitigen augenärztlichen Erstuntersuchung Mitte/Ende August 1990 und nachfolgender Kontrolluntersuchungen hätte eine Erblindung des Klägers vermieden werden können:

1. Nach den übereinstimmenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. B. wie auch des Privatgutachters Prof. Dr. G. zwingt die bei dem Kläger eingetretene Ausbildung einer Retinopathie der Stadien IV und V zu dem Rückschluss, dass bei der am 19.09.1990 von dem Streithelfer der Beklagten durchgeführten Untersuchung keine normale, sondern eine noch unreife Netzhaut vorgelegen haben muss. Wie Prof. Dr. B. erläutert hat, wäre dem gemäß auch bei der gebotenen früheren erstmaligen Kontrolle Mitte/Ende August 1990 eine noch nicht vollständig vaskularisierte Retina festgestellt worden.

2. Dieser Befund einer unreifen Netzhaut hätte wegen der Gefahr der Entstehung einer Retinopathie bei ordnungsgemäßem augenärztlichen Vorgehen - an dem sich die Beurteilung des hypothetischen Kausalverlaufs zu orientieren hat - zur Anordnung und Vornahme weiterer Kontrolluntersuchungen seitens des Augenarztes geführt; der Senat hält an seiner abweichenden Auffassung in der Entscheidung vom 27.04.1995 (VersR 1996, 755) - bei Vorliegen einer nicht vollständig ausgereiften Retina und im Übrigen fehlenden Auffälligkeiten seien nach dem damaligen Wissensstand weitere Kontrolluntersuchungen nicht zwingend erforderlich gewesen - nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht mehr fest:

Prof. Dr. B. ist dieser damaligen Einschätzung entschieden entgegengetreten und hat keinen Zweifel daran gelassen, dass das Vorliegen einer unreifen Netzhaut die Durchführung weiterer Kontrolluntersuchungen erfordert und ein solches Vorgehen auch dem im Jahre 1990 geltenden augenärztlichen Standard bei der Behandlung von Frühgeborenen entsprach. Der Senat schließt sich dieser Beurteilung aufgrund der überzeugenden Erläuterungen des Sachverständigen an:

Zwar bestanden damals noch keine diesbezüglichen Leitlinien; dies steht der Annahme eines medizinischen Standards aber nicht entgegen. Wie der Prof. Dr. B. ausgeführt hat, reflektieren die Leitlinien immer ein Vorgehen, das schon viele Jahre lang angewandt wird; sie geben gesicherte Erkenntnisse und einen allgemeinen Konsens wieder, der bereits seit längerem existiert. Solche gesicherten Erkenntnisse hinsichtlich der Diagnostik und Behandlung der Frühgeborenen-Retinopathie waren im Jahre 1990 bereits vorhanden und publiziert: Das Risiko des Verlustes des Augenlichts bei Frühgeborenen war schon seit den 50er Jahren bekannt; der Zusammenhang zwischen Frühgeburtlichkeit, Sauerstoffzufuhr und Erblindung gehört schon seit Jahrzehnten zum Prüfungswissen eines Augenarztes. Seit 1984 existierte das Lehrbuch von Körner und Bossi "Die Retinopathie des Frühgeborenen", in dem bereits die Notwendigkeit von Kontrolluntersuchungen bei nicht vollständig vaskularisierter Retina abgehandelt und ein Schema für die zeitliche Abfolge entwickelt wurde. Die Wirksamkeit der bereits seit den frühen 1980er Jahren zur Vorbeugung einer Erblindung angewandten Kryotherapie wurde durch die 1988 veröffentlichten - und nach den Worten des Sachverständigen von den Augenärzten bereits erwarteten - Ergebnisse der sog. "Cryo-Rop-Studie" bestätigt Wie auch Prof. Dr. G. als Privatgutachter in seiner Stellungnahme hervorgehoben hat, war die Effizienz dieser Behandlung in dem hier in Rede stehenden Jahr 1990 allgemein bekannt. Im Jahre 1989 war in den "Klinischen Monatsblättern für Augenheilkunde" - die Prof. Dr. B. als weitverbreitete Zeitschrift bezeichnet hat - ein Aufsatz des Leiters der Kinderambulanz der Augenklinik der Universität München - Prof. Dr. B. - erschienen, in dem auf der Basis des Buches von Körner/Bossi und der Erkenntnis der Cryo-Rop-Studie Empfehlungen zu den Erst- und Kontrolluntersuchungen und ihren Abständen ausgesprochen wurden. Prof. Dr. B. hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich bei den diesbezüglichen Erkenntnissen zur Kontrolle und Behandlung nicht mehr um einen experimentellen universitären Ansatz handelte, sondern um einen gesicherten und anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft, nach dem sich die Augenärzte, die Frühgeborene untersuchten, schon damals richteten. Zu berücksichtigen ist überdies, dass die Erforderlichkeit von zusätzlichen Kontrolluntersuchungen nicht nur zum Stand des Wissens der Augenärzte gehörte, sondern ausweislich des Lehrbuches von Obladen im Jahre 1989 auch bereits Eingang in die Kinderheilkunde gefunden hatte; die Durchführung derartiger Kontrollen wird von Obladen in seinem Buch als "unabdingbare Maßnahme" zur Vermeidung einer Frühgeborenen-Retinopathie bezeichnet. Schließlich ist auch Prof. Dr. G. in seinem Privatgutachten zu dem Ergebnis gelangt, dass die Vornahme einer Kontrolluntersuchung bei nicht vollständig vaskularisierter Retina dem Wissensstand und dem Standard der praktischen Augenheilkunde im Jahre 1990 entsprach; er hat lediglich hinsichtlich des Zeitpunktes zusätzlicher Kontrollen eine andere Auffassung vertreten als der gerichtlich bestellte Sachverständige.

3. a) Während Prof. Dr. B. angesichts des zugrunde zu legenden unreifen Netzhautbefundes Mitte/Ende August 1990 eine kurzfristige Überprüfung nach zwei Wochen gefordert hat, hat Prof. Dr. G. einen Abstand von 6 Wochen nach einer Erstuntersuchung als zum damaligen Zeitpunkt noch zulässig erachtet.

b) Welcher dieser Auffassungen zu folgen ist, bedarf keiner Entscheidung. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist nämlich zugunsten des Klägers davon auszugehen, dass eine Erblindung auch unter Zugrundelegung der unterschiedlichen Einschätzung der Gutachter hinsichtlich des Termins von Kontrolluntersuchungen in jedem Fall vermieden worden wäre:

aa) Prof. Dr. B. hat zunächst deutlich gemacht, dass bei der gebotenen Erstuntersuchung Mitte/Ende August und sich daran anschließenden kurzfristigen Kontrollen in 2-wöchigen Abständen der richtige Zeitpunkt für eine aussichtsreiche Anwendung der Kryotherapie hätte bestimmt werden können. Wie der Sachverständige weiter erläutert hat, hätte aber auch bei einer Kontrolluntersuchung Mitte Oktober 1990 - also 6 Wochen nach der gebotenen Erstuntersuchung Mitte/Ende August 1990 - noch die Möglichkeit einer Behandlung mit der Kryotherapie bestanden. Die Chancen einer noch späteren Behandlung hat Prof. Dr. B. hingegen negativ eingeschätzt; auch Prof. Dr. G. hat die Chancen einer erst gegen Ende Oktober 1990 durchgeführten Behandlung kritisch beurteilt.

bb) Es lässt sich zwar nicht mit Sicherheit feststellen, dass die Anwendung einer Kältebehandlung bei dem Kläger zu einem Erfolg geführt hätte - nach den Ausführungen sowohl des Sachverständigen Prof. Dr. B. als auch des Privatgutachters erblindeten 22 % der Frühgeborenen trotz Durchführung einer Kryotherapie -; diese Zweifel hinsichtlich des Erfolges einer solchen Behandlung wirken sich jedoch nicht zu Lasten des Klägers aus. Ihm sind hinsichtlich des Kausalverlaufes Beweiserleichterungen zuzubilligen, denn die Erörterung mit dem pädiatrischen Sachverständigen hat ergeben, dass der Verzicht auf eine rechtzeitige Erstuntersuchung Mitte/Ende August 1990 als grobe ärztliche Pflichtverletzung zu qualifizieren ist.

Prof. Dr. R. hat auf die besondere Gefährdung des Klägers aufgrund seiner erheblichen Unreife - er befand sich an der Grenze zur Lebensfähigkeit - sowie der langen Beatmung hingewiesen und keinen Zweifel daran gelassen, dass es mit Blick auf diese Situation unumgänglich war, kurzfristig nach der Entwöhnung von dem Respirator die erste augenärztliche Kontrolle zu veranlassen. Dass diese Maßnahme bei dem Kläger trotz der Tatsache, dass er als "Hochrisikokind" einzustufen war, in der Klinik der Beklagten nicht ergriffen wurde, hat Prof. Dr. R. aus pädiatrischer Sicht als völlig unverständliches Versäumnis bezeichnet.

Der Senat folgt dieser Bewertung; die Ausführungen des pädiatrischen Gutachters in dem bereits angesprochenen früheren Verfahren stehen der Beurteilung des Sachverständigen Prof. Dr. R. nicht entgegen. Der Senat hat damals die Frage des gebotenen Zeitpunktes der Erstuntersuchung ausdrücklich offen gelassen und der für das Fachgebiet der Kinderheilkunde zuständige Sachverständige Prof. Dr. L. hat sich lediglich mit der hier nicht - mehr - in Rede stehenden - Frage, ob seitens der Kinderärzte zusätzlich zu der augenärztlichen Erstuntersuchung weitere ärztliche Kontrollen hätten angeordnet werden müssen, befasst.

cc) Der Erfolg einer Kryotherapie stellt sich auch nicht als völlig unwahrscheinlich dar; nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. B. hätte vielmehr auch bei einer Kontrolluntersuchung Mitte Oktober und einer anschließenden Kältebehandlung durchaus eine Chance bestanden, den schwerwiegenden Verlauf bis hin zu einer Erblindung zu vermeiden. Aus dem Privatgutachten von Prof. Dr. G. ergibt sich nichts anderes; auch er hat die Möglichkeit einer erfolgreichen Behandlung nicht ausgeschlossen.

Demnach obliegt der Beklagten der Beweis, dass es auch ohne ihr fehlerhaftes Vorgehen zu der Erblindung gekommen wäre. Diesen Beweis hat sie, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, nicht geführt.

III.

Aufgrund des ihr vorzuwerfenden Versäumnisses schuldet die Beklagte dem Kläger ein Schmerzensgeld in Höhe eines einmaligen Kapitalbetrages von 100.000 €.

1. Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes hat der Senat berücksichtigt, dass die vollständige Erblindung einen schweren Gesundheitsschaden darstellt, der die gesamte Lebensführung des Klägers in einschneidender Weise prägt, da er sein Augenlicht bereits im ganz frühen Kindesalter verloren hat und deswegen die Folgen der Erblindung sein ganzes Leben lang tragen muss. Der Verlust des Augenlichtes führt zu Einschränkungen in der Mobilität, der Freizeitgestaltung und der Berufswahl. Bei der Festsetzung der Entschädigung ist aber zugleich zu berücksichtigen, dass die Sehkraft des Klägers auch bei Durchführung einer Kryotherapie nicht in vollem Umfang hätte erhalten werden können. Nach den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. B. sind Frühgeborene nach einer Kältebehandlung sehr häufig kurzsichtig, und zwar deutlich kurzsichtiger als der Rest der Bevölkerung; so dass der Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit für den Rest seines Lebens auf eine Sehhilfe angewiesen gewesen wäre. Unter Abwägung dieser Gesamtumstände und bei vergleichender Betrachtung ähnlicher Fälle erscheint zum Ausgleich der immateriellen Beeinträchtigungen ein Schmerzensgeld von 100.000 € angemessen, aber auch ausreichend.

2. Eine Schmerzensgeldrente ist neben dem zugesprochenen Kapitalbetrag nicht zuzuerkennen. Eine Rente kommt neben einer Kapitalabfindung nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht, nämlich bei schwersten Dauerschäden, unter denen der Geschädigte immer neu leidet und deren er sich immer wieder schmerzhaft bewusst wird. Davon kann im Streitfall nicht ausgegangen werden:

Der Senat verkennt nicht, dass eine Erblindung einen schweren Dauerschaden darstellt. Zu berücksichtigen ist aber, dass der Kläger keine körperlichen Schmerzen erleiden muss und die Auswirkungen der Erblindung in der Regel im Laufe der Zeit durch eine gewisse Anpassung und nicht zuletzt auch durch eine seelische Gewöhnung gemildert werden. Eine Erblindung führt in heutiger Zeit auch nicht zu einer völligen Hilflosigkeit in der Weise, dass der Geschädigte ständig auf Dritte angewiesen ist; die derzeit bereits vorhandenen zahlreichen Hilfsmittel erlauben vielmehr auch einem Blinden eine zwar nicht völlig unabhängige doch weitgehend selbstbestimmte Lebensführung.

IV.

Der Feststellungsantrag des Klägers ist zulässig und begründet.

Angesichts der dauerhaften Beeinträchtigung kann die Entstehung künftiger materieller Schäden nicht ausgeschlossen werden.

V.

Die deliktischen Ansprüche des Klägers ist nicht verjährt.

Die dreijährige Verjährungsfrist des § 852 BGB a.F. beginnt zu dem Zeitpunkt, in dem der Verletzte von dem Schaden und der Person des Schädigers Kenntnis erlangt. Dabei ist nach gefestigter höchstrichterlicher Rechtssprechung nur auf die Kenntnis der anspruchsbegründeten Tatsachen, nicht aber auf deren zutreffende rechtliche Wertung durch den Patienten abzustellen. Ihm müssen diejenigen Tatsachen positiv bekannt geworden sein, die - bezüglich des Behandlungsfehlers - ein ärztliches Fehlverhalten sowie - hinsichtlich der Kausalität - eine ursächliche Verknüpfung der Schadensfolge mit dem ärztlichen Versäumnis bei objektiver Betrachtung nahe legen. Dies setzt nicht nur das Wissen um den Behandlungsverlauf voraus, sondern auch die Kenntnis von Tatsachen, aus denen sich für den Patienten bei der Parallelwertung in der Sphäre des medizinischen Laien ergibt, dass der behandelnde Arzt von dem üblichen medizinischen Vorgehen abgewichen ist oder Maßnahmen nicht getroffen hat, die nach dem ärztlichen Standard zur Diagnostik, Therapie oder zur Vermeidung und/oder Beherrschung von Komplikationen erforderlich waren (BGH NJW 1998, 2736; 1995, 776; 1991, 815).

Von einer solchen Kenntnis im Sinne des § 852 BGB a.F. kann nicht ausgegangen werden. Die für die Voraussetzungen der Verjährung darlegungs- und beweispflichtige Beklagte hat nicht vorgetragen, ob und wann der Mutter des Klägers bekannt geworden ist, dass die von den Kinderärzten zu veranlassende Erstuntersuchung des Klägers gemessen an dem damaligen pädiatrischen Standard zu spät erfolgte.

VI.

Der Zinsanspruch des Klägers ergibt sich aus §§ 288 Abs. 1, 291 BGB (a.F.). Danach kann er ab Rechtshängigkeit der Klage Zinsen in Höhe von 4 % verlangen. Die Zuerkennung eines höheren Zinssatzes ist nicht gerechtfertigt. Die ab 1. Mai 2000 vorgesehene Verzinsung in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz nach § 1 des Diskont-Überleitungsgesetzes (DÜG) findet hier keine Anwendung. Von dieser Regelung nicht betroffen sind nämlich Forderungen, die bereits am 1. Mai 2000 fällig waren.

C.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1 Satz 1, 97 Abs.1, 101 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt den aus §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.

Die Beschwer des Klägers und der Beklagten liegt jeweils über 20.000 €.

Ende der Entscheidung

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