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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Beschluss verkündet am 01.12.2003
Aktenzeichen: III - 3 Ws 454/03
Rechtsgebiete: StGB, StPO


Vorschriften:

StGB § 56f Abs. 1 Nr. 2
StPO § 359
StPO § 462a Abs. 1
Die Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens (§§ 359 ff. StPO) finden auf einen Beschluss, mit dem die Strafaussetzung rechtskräftig widerrufen worden ist, keine (analoge) Anwendung.
OBERLANDESGERICHT DÜSSELDORF BESCHLUSS

III - 3 Ws 454/03

In der Strafsache

wegen Verstoßes gegen die Abgabenordnung

hat der 3. Strafsenat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht B., den Richter am Oberlandesgericht v.B. und den Richter am Landgericht Dr. P. am

1. Dezember 2003

auf die sofortigen Beschwerden des Verurteilten gegen die in dem Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Wuppertal vom 20. Oktober 2003 (2 StVK 898/03) getroffenen Entscheidungen nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft

beschlossen:

Tenor:

Die sofortigen Beschwerden werden als unbegründet auf Kosten des Beschwerdeführers verworfen.

Gründe:

I.

Das Landgericht Hagen hat den Beschwerdeführer durch Urteil vom 4. Mai 2001 "wegen Vorenthaltens von Beiträgen der Arbeitnehmer zur Sozialversicherung und zur Bundesanstalt für Arbeit in vier Fällen" zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Mit Urteil vom 31. Juli 2001 hat das Amtsgericht - Schöffengericht - Wuppertal den Beschwerdeführer "wegen Umsatzsteuerhinterziehung in 13 Fällen" zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Durch Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Wuppertal vom 19. März 2002 wurden diese Strafen, unter Auflösung der bisherigen Gesamtstrafen, auf eine neue Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren zurückgeführt, die ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Mit Beschluss vom 17. März 2003 hat das Amtsgericht Wuppertal die durch Beschluss vom 19. März 2002 gewährte Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen, weil der Verurteilte seiner Verpflichtung zur Schadenswiedergutmachung durch Zahlungen an die AOK nicht nachgekommen war. Nach Verwerfung der dagegen gerichteten sofortigen Beschwerde ist der Widerrufsbeschluss seit dem 18. April 2003 rechtskräftig.

Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 7. August 2003 hat der Verurteilte beantragt, das Verfahren über den Widerruf der Bewährung wiederaufzunehmen und die Unterbrechung der Vollstreckung anzuordnen. Diese Anträge hat die Strafvollstreckungskammer durch den angefochtenen Beschluss abgelehnt. Dagegen richtet sich der Verurteilte mit seinen sofortigen Beschwerden.

II.

Die Rechtsmittel sind zulässig, in der Sache aber nicht begründet.

1.

In Rechtsprechung und Literatur ist umstritten, ob rechtskräftige Beschlüsse, mit denen eine Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen worden ist, einer Abänderung zugänglich sind.

a)

Ein Teil der - überwiegend älteren - Rechtsprechung und ein Teil der Literatur vertreten die Auffassung, dass ein die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufender, rechtskräftiger Beschluss vom Gericht auf Antrag jederzeit in entsprechender Anwendung der Wiederaufnahmevorschriften der §§ 359 ff. StPO sachlich überprüft und abgeändert werden kann, wenn das Vorbringen des Antragstellers geeignet ist, dem Widerrufsbeschluss die tatsächliche Grundlage zu entziehen (OLG Düsseldorf (4. Senat) StV 1993, 87; OLG Karlsruhe Justiz 1978, 474; OLG Oldenburg NJW 1962, 1169; LG Bremen StV 1990, 311; Groth MDR 1980, 595; Hohmann NStZ 1991, 507).

b)

Teilweise wird in der Literatur auch die Ansicht vertreten, eine Abänderung rechtskräftiger Widerrufsbeschlüsse sei im Wege der Anpassung des rechtskräftigen Beschlusses an eine geänderte Sachlage in nichtförmlicher Weise außerhalb des Wiederaufnahmeverfahrens möglich (LR-Gössel, StPO, 24. Auflage, vor § 359 Rn. 63 f.; Peters JR 1979, 162; KK-Schmidt, StPO, 5. Auflage, vor § 359 Rn. 14; SK-Frisch, StPO, vor § 304 Rn. 37).

Dagegen spricht sich die inzwischen überwiegende - vornehmliche neuere - Rechtsprechung und ein Teil der Literatur für eine strikte Unabänderbarkeit rechtskräftiger Widerrufsbeschlüsse aus (OLG Stuttgart wistra 2001, 239; NStZ-RR 1996, 176; OLG Hamburg JR 2000, 380; StV 2000, 568; OLG Zweibrücken NStZ 1997, 55; OLG Hamm VRS 90, 136; LG Hamburg NStZ 1991, 149; MDR 1975, 246; LG Freiburg/Br. JR 1979, 161; AG Lahn-Gießen MDR 1980, 595; Meyer-Goßner, StPO, 46. Auflage, § 358 Rn. 5; KMR-Eschelbach, StPO, vor § 359 Rn. 76; KK-Fischer, StPO, 5. Auflage, § 458 Rn. 15).

2.

Der Senat vertritt die zuletzt genannten Ansicht.

a)

Der außerordentliche Rechtsbehelf der Wiederaufnahme des Verfahrens (§§ 359 ff. StPO) ist auf rechtskräftige Urteile beschränkt. Eine Anwendbarkeit der Vorschriften auf Widerrufsbeschlüsse sieht das Gesetz nicht vor. Es besteht insoweit auch keine ungewollte Regelungslücke, die eine analoge Anwendung der Wiederaufnahmevorschriften zulassen könnte.

Insoweit ist nicht nur von Bedeutung, dass der Gesetzgeber, in Kenntnis des Streitstandes, eine gesetzliche Regelung nur betreffend den Strafbefehl geschaffen (§ 373 a StPO) und damit zum Ausdruck gebracht hat, dass er für eine Ausdehnung der Vorschriften auf das Widerrufsverfahren keinen Anlass sieht. Gegen das Vorliegen einer ungewollten Regelungslücke spricht auch, dass das Gesetz an verschiedenen Stellen ausdrücklich Regelungen für eine Durchbrechung der Rechtskraft von Beschlüssen getroffen hat (zum Beispiel in §§ 174 Abs. 2, 211, 459 a Abs. 2 StPO, 47 Abs. 3 JGG). Das Fehlen einer entsprechenden Regelung für Widerrufsbeschlüsse spricht daher für ein planmäßiges Schweigen des Gesetzes (so auch OLG Zweibrücken a.a.O.; OLG Hamm a.a.O.; LG Hamburg a.a.O.).

b)

Gegen eine Abänderbarkeit rechtskräftiger Widerrufsbeschlüsse spricht auch der Gedanke der Rechtssicherheit als unabdingbare Grundlage der Strafvollstreckung.

Insoweit besteht ein sachlicher Unterschied zu Urteilen, die ebenfalls Grundlage der Strafvollstreckung sind, darin, dass der Strafmakel des Urteils besonders schwer wiegt und gerade deshalb das Gesetz ausnahmsweise und unter bestimmten Voraussetzungen eine Durchbrechung der Rechtskraft von Urteilen zulässt. Das Widerrufsverfahren betrifft hingegen lediglich eine Folgeentscheidung hinsichtlich der tatsächlichen Auswirkungen einer rechtskräftig verhängten Strafe.

Dem lässt sich auch nicht entgegenhalten, der Widerruf belaste den Verurteilten mehr als das Urteil selbst (so Groth a.a.O.; Hohmann a.a.O.). Diese Argumentation, die allein auf dem (denkbaren) subjektiven Strafempfinden einzelner Verurteilter beruht, wird der gesetzlichen Systematik nicht gerecht, die dem formalisierten Erkenntnisverfahren erkennbar und zu Recht größere Bedeutung beigemessen hat als dem einfacher ausgestalteten Widerrufsverfahren als bloße Folgeentscheidung.

c)

Für die hier vertretene Ansicht spricht ferner auch das Erfordernis der Gewährleistung der Funktionstüchtigkeit der Gerichte.

Zu Recht hat bereits das OLG Zweibrücken (a.a.O.) darauf hingewiesen, dass diese gefährdet wäre, wenn rechtskräftig abgeschlossene Widerrufsverfahren fortwährend neu aufgegriffen werden könnten. Die von dem OLG Zweibrücken aufgezeigte Gefahr, der Verurteilte könne, um die Vollstreckung abzuwenden oder zumindest hinauszuzögern, mit der Behauptung geänderter Sachlage immer wieder die Gerichte zur Überprüfung der Richtigkeit des rechtskräftigen Widerrufs veranlassen, ist nicht von der Hand zu weisen. Es trifft zu, dass damit der Widerruf als Grundlage der Strafvollstreckung ständig neu in Frage gestellt werden könnte, was unter dem Aspekt der Rechtssicherheit nicht hinzunehmen ist. Durch die Unterwerfung der Widerrufsbeschlüsse unter die fristgebundene sofortige Beschwerde hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass das Widerrufsverfahren innerhalb einer überschaubaren Zeit zum Abschluss gebracht sein soll. Diese gesetzgeberische Intention haben die Gerichte zu beachten.

d)

Im Ergebnis nicht durchgreifend ist die Argumentation der Vertreter der Gegenansicht, der Rechtsfrieden werde durch materiell falsche Beschlüsse ebenso gefährdet wie durch materiell falsche Urteile (vgl. dazu OLG Oldenburg a.a.O.; Groth a.a.O.). Diese Aussage ist zwar grundsätzlich zutreffend. Der materiellen Gerechtigkeit steht jedoch das Erfordernis der Rechtssicherheit gegenüber. Beide Grundsätze sind gleichermaßen aus dem Rechtsstaatsprinzip - Art. 20 Abs. 3 GG - herleitbar (BVerfG MDR 1975, 468 [469]). Höherrangiges (Verfassungs-)Recht gebietet daher keine vom einfachen (Strafverfahrens-)Recht nicht vorgesehene Priorität der materiellen Gerechtigkeit gegenüber der Rechtssicherheit, zu deren Ausprägung die Respektierung der Rechtskraftwirkungen zählt (OLG Hamburg a.a.O.).

Sofern im Einzelfall die Unabänderbarkeit eines rechtskräftigen Widerrufsbeschlusses zu unerträglichen Ergebnissen führen würde, zum Beispiel weil der Widerruf allein auf eine neue Straftat gestützt worden ist, bezüglich derer der Verurteilte nach Wiederaufnahme des Verfahrens rechtskräftig freigesprochen worden ist, können den Rechtsfrieden und die materielle Gerechtigkeit wiederherstellende Maßnahmen in ausreichendem Umfang im Wege des Gnadenverfahrens oder nach § 57 StGB getroffen werden. Dass es in Fällen einer materiell fehlerhaften Widerrufsentscheidung eines Wiederaufnahmeverfahrens bedarf ist - selbst in krassen Fällen - nicht ersichtlich, denn bezüglich des Widerrufs bedarf es weder einer Beseitigung des Strafmakels noch einer Rehabilitierung des - nach wie vor zu Recht - verurteilten Straftäters.

e)

Soweit von der Gegenansicht schließlich vorgebracht wird, für eine analoge Anwendung der Vorschriften über die Wiederaufnahme des Verfahrens oder eine Abänderbarkeit von Widerrufsbeschlüssen außerhalb eines förmlichen Verfahrens spreche, dass das Widerrufsverfahren in der Praxis weniger sorgfältig durchgeführte werde als das Strafverfahren (Groth a.a.O.; Hohmann a.a.O.), vermag auch dies nicht zu überzeugen. Eine unrichtige Rechtsanwendung durch die Gerichte im Einzelfall, selbst wenn dies häufiger geschehen sollte, vermag weder einen Eingriff in die Regelungskompetenz des Gesetzgebers (durch eine analoge Anwendung der §§ 359 ff. StPO) noch eine Durchbrechung des Grundsatzes der Rechtskraft zu rechtfertigen.

3.

Mit der abschließenden Zurückweisung des Wiederaufnahmeantrags ist der Antrag auf Unterbrechung der Vollstreckung gegenstandslos geworden (OLG Hamburg StV 2000, 568 [569]).

4.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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