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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Beschluss verkündet am 04.11.2005
Aktenzeichen: III-4 Ausl (A) 43/03 - 210/05 III
Rechtsgebiete: TStGB, türk. VersG, EuAlÜbk


Vorschriften:

TStGB Art. 55/1
TStGB Art. 146
TStGB Art. 146/1
TStGB Art. 146/3
türk. VersG Art. 32/3
EuAlÜbk Art. 3 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die Auslieferung ist unzulässig.

Gründe:

Die türkische Regierung ersucht um Auslieferung des Verfolgten, der am 3. Juli 2003 in Duisburg festgenommen wurde und sich aufgrund einer Festhalteanordnung des Amtsgerichts Duisburg vom 4. Juli 2003 (11 Gs 2609/03) bis zum 17. Juli 2003 in Haft befand. Der außer Vollzug gesetzte Auslieferungshaftbefehl des Senats vom 31. Oktober 2003 ist durch Beschluss vom 22. Dezember 2004 aufgehoben worden.

Das im August 2003 auf diplomatischem Wege übersandte und zwischenzeitlich durch die Vorlage weiterer Unterlagen mit Verbalnoten der türkischen Botschaft vom 2. März 2004 und 14. Januar 2005 ergänzte Auslieferungsersuchen stützt sich auf das Urteil des 1. Staatssicherheitsgerichts Ankara vom 16. Juni 2000 (1999/5 esas, 2000/87 karar), das aufgrund der Berufungsentscheidung des Kassationsgerichts vom 4. Mai 2001 (2000/3160 esas, 2001/1471 karar) rechtskräftig geworden ist. Dem zur Tatzeit siebzehnjährigen Verfolgten wird eine Beteiligung an Ausschreitungen anlässlich einer Massendemonstration islamischer Fundamentalisten am 2. Juli 1993 in Sivas vorgeworfen. Er ist deshalb wegen eines gewaltsamen, gegen die verfassungsmäßige Ordnung der Türkei gerichteten Umsturzversuchs (Art. 146/1 TStGB) zu einer zwanzigjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden.

Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafvollstreckung für zulässig zu erklären.

I.

Dem Auslieferungsersuchen liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

1.

Ab 1. Juli 1993 fand in der anatolischen Stadt Sivas - mit Unterstützung des Kulturministeriums und des Gouverneurs von Sivas - ein alevitisches Kulturfestival des Vereins "Pir Sultan Abdal" statt. Der Schriftsteller ............, der mit diversen weiteren Festivalteilnehmern im Hotel ............ Quartier bezogen hatte, hielt am 1. Juli im Kulturzentrum einen Vortrag.

Am Morgen des 2. Juli 1993 verteilten Unbekannte in der Stadt Flugblätter mit dem Titel "Für das islamistische Publikum", in denen die teilweise Veröffentlichung des Romans "Die satanischen Verse" von ........... durch ............ kritisiert und an die Gläubigen die Aufforderung gerichtet wurde, sich zu vereinigen und "gegen die Freunde des Teufels" zu kämpfen. Gegen 13:30 Uhr kam es zu einer Versammlung von Personengruppen, die in den Moscheen ............ und ..........ihr Gebet verrichtet hatten. Man stimmte Sprechchöre an mit dem Inhalt "Sieg für den Islam!", ".......... der Teufel", "....... wird das Grab des ......... sein!", "Gouverneur trete zurück!", "Gouverneur der Ehrlose", und marschierte zum Gouverneursgebäude, wo sich die Menschenmenge zunächst auf Betreiben der Sicherheitskräfte auflöste, um sich jedoch dann wieder zusammenzufinden und - weiterhin mit Sprechchören - zum Kulturzentrum zu marschieren. Auf erneutes Eingreifen der Sicherheitskräfte kehrten die Personengruppen zum Gouverneursgebäude zurück und zogen dann in größerer Anzahl wieder vor das Kulturzentrum. Dort wurden Steine geworfen und das vor einem Tag aufgestellte Dichterdenkmal zerstört. Gegen 16:05 Uhr gelang es den Sicherheitskräften, die Versammlung aufzulösen.

Dennoch fand sich schließlich gegen 18:00 Uhr eine Vielzahl von Personen vor dem Hotel ............ ein. Obwohl die Sicherheitskräfte zur Auflösung der Versammlung aufriefen, wuchs die aggressive und erregte Menschenmenge auf ca. 10.000 bis 15.000 Personen an. Unter lautstarker Begleitung durch Sprechchöre ("Es lebe das Schariat", "Nieder mit dem Laizismus", "Wir sind zum Sterben gekommen, wir sind zum Begräbnis von ........ gekommen") wurden Fensterscheiben eingeworfen und Fahrzeuge beschädigt. Einigen der unmittelbar vor dem Hotel befindlichen Männer gelang es, eine Absperrung vor dem Hotel zu überwinden und in das Gebäude zu gelangen. Sie warfen Einrichtungsgegenstände und Vorhänge heraus, mit denen unter Zuhilfenahme von Benzin das Hotel in Brand gesetzt wurde. Bedingt durch die Größe der Menschenmenge gelang der Feuerwehr die Brandlöschung erst mit erheblicher Verzögerung, nachdem die Sicherheitskräfte in die Luft geschossen hatten.

Im Hotel kamen 35 Menschen infolge der Brand- und Raucheinwirkungen sowie 2 Personen durch Schussverletzungen ums Leben. Weitere Personen wurden im Verlauf der Ausschreitungen verletzt, diverse Häuser, Fahrzeuge und eine Atatürk-Büste beschädigt beziehungsweise zerstört.

2.

Im Zuge der behördlichen Maßnahmen zur Ermittlung der an den Vorfällen Beteiligten wurde der Verfolgte - neben etlichen weiteren Verdächtigen - am 4. Juli 1993 durch die Polizei inhaftiert und am 16. Juli 1993 in Untersuchungshaft genommen. Das sich anschließende Strafverfahren fand in dem Urteil des 1. Staatssicherheitsgerichts Ankara vom 26. Dezember 1994 (1993/106 esas, 1994/190 karar) seinen ersten - vorläufigen - Abschluss. Von insgesamt 123 Angeklagten wurden 37 mangels ausreichenden Beweises freigesprochen, weitere 26 wegen Brandstiftung mit Todesfolge (Art. 450/6 TStGB in der seinerzeit geltenden Fassung) zu Freiheitsstrafen bis zu fünfzehn Jahren und die übrigen sechzig Angeklagten - darunter der Verfolgte - wegen eines Verstoßes gegen Art. 32/3 des Gesetzes Nr. 2911 über die Versammlungen und Demonstrationen (türk. VersG) zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt, die das Gericht bei dem Verfolgten und fünf Mitangeklagten wegen ihrer Minderjährigkeit zur Tatzeit gemäß Art. 55/1 TStGB auf zwei Jahre abmilderte. Nach Art. 32/3 des türk. VersG wird mit drei bis fünf Jahren Gefängnis bestraft, wer im Zuge der Auflösung einer gesetzwidrigen Versammlung Gewalt anwendet, andere bedroht, angreift oder sich ihnen entgegenstellt, sofern die Tat keinen anderen Straftatbestand erfüllt. Ausweislich der Urteilsgründe traf das 1. Staatssicherheitsgericht Ankara zur Tathandlung des Verfolgten die - mit dessen Einlassung übereinstimmende - Feststellung, dass er nach dem Moscheebesuch am Mittag des 2. Juli 1993 aufgrund einer spontanen Entscheidung in den demonstrierenden Gruppen bis zum Gouverneursgebäude und zum Kulturzentrum mitmarschiert und hierbei "Slogans geschrien", sich aber anschließend entfernt habe und bei den folgenden Geschehnissen vor dem Hotel nicht mehr anwesend gewesen sei. Der Verfolgte wurde am Tag der gerichtlichen Entscheidung aus der Untersuchungshaft entlassen.

Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des 1. Staatssicherheitsgerichts nahm das weitere Verfahren in zweiter Instanz vor der 9. Strafkammer des Kassationsgerichts seinen Fortgang. Diese hob durch Urteil vom 30. September 1996 (1996/688 esas, 1996/4716 karar) die erstinstanzliche Entscheidung gegen den Verfolgten und 80 Mitangeklagte auf, da das Staatssicherheitsgericht insoweit zu Unrecht von einer Anwendung der Staatsschutzvorschrift des Art. 146 TStGB abgesehen habe. Nach dieser Norm in ihrer damals geltenden Fassung war der gewaltsame Versuch, die Verfassung der Republik Türkei zu verändern oder zu beseitigen, für Haupttäter mit der Todesstrafe (Art. 146/1 TStGB) und für "untergeordnete Teilnehmer" mit einer Freiheitsstrafe von fünf bis fünfzehn Jahren bedroht (Art. 146/3 TStGB). Das Berufungsgericht stellte klar, dass mit den gewalttätigen Aktionen des 2. Juli 1993 die in Art. 146 TStGB sanktionierte Folge (Vernichtung der Prinzipien des republikanischen Systems und des Laizismus) bezweckt worden sei und dass eine Bestrafung wegen "untergeordneter Teilnahme" (Art. 146/3 TStGB) hierbei für diejenigen zur Anwendung komme, die "an den illegalen Demonstrationen und Versammlungen vor der Tat oder im Verlauf der Tat gruppiert teilgenommen haben und die die Sloganen gegen die Prinzipien über das republikanische System und Laizismus geleistet haben, sowie, die durch diese Handlungen an der im ersten Absatz vorgesehenen Tat als Gehilfe teilgenommen haben." (Zitat aus der mit Verbalnote vom 2. März 2004 eingereichten Übersetzung des Berufungsurteils). Infolge der veränderten Bewertung des Tatgeschehens durch das Berufungsgericht erging am 14. Mai 1997 erneut Haftbefehl gegen den - in der Folgezeit flüchtigen - Verfolgten.

Nach anschließender Neuverhandlung der Sache in erster Instanz wurde der Verfolgte durch Urteil des 1. Staatssicherheitsgerichts Ankara vom 28. November 1997 (1996/84 esas, 1997/199 karar) wegen eines gewaltsamen Umsturzversuchs gemäß Art. 146/1 TStGB verurteilt. Das Gericht ordnete ihn einer aus 38 Angeklagten bestehenden Gruppe zu, die - ausweislich der Urteilsfeststellungen - an den gesamten Vorfällen teilgenommen, insbesondere das Kulturzentrum, das Dichterdenkmal und die Atatürkbüste beschädigt sowie das Hotel in Brand gesetzt habe. Die für dieses Delikt verwirkte Todesstrafe wurde nur gegen die zur Tatzeit nicht mehr minderjährigen Angeklagten verhängt und im Falle des Verfolgten daher gemäß Art. 55/1 TStGB auf zwanzig Jahre Freiheitsstrafe ermäßigt. Eine weitere Gruppe von 29 Angeklagten verurteilte das Gericht in Anwendung der Teilnahmevorschrift des Art. 146/3 TStGB zu Freiheitsstrafen von fünf Jahren beziehungsweise sieben Jahren und sechs Monaten. Ausweislich der Urteilsfeststellungen haben diese Personen "an den Demonstrationen und Versammlungen ... gruppiert teilgenommen, haben die Sloganen gegen die Prinzipien über das republikanische System und Laizismus geleistet, sowie hielten sich hinter den Angeklagten, die nach dem Artikel 146/1 des türkischen Strafgesetzbuches bestraft wurden und so haben sie die Einmischung der Sicherheitskräften behindert." (Zitat aus der mit Verbalnote vom 2. März 2004 eingereichten Übersetzung des Urteils vom 28. November 1997).

Der weitere Verlauf des Verfahrens führte für den Verfolgten nicht mehr zu einer maßgeblichen Veränderung. Zwar hob die 9. Strafkammer des Kassationsgerichts durch Urteil vom 14. Dezember 1998 (1998/2722 esas, 1998/3949 karar) die 38 Verurteilungen gemäß Art. 146/1 TStGB wegen eines Formfehlers nochmals auf. Sie wurden indes durch das 1. Staatssicherheitsgericht Ankara mit Urteil vom 16. Juni 2000 (1999/5 esas, 2000/87 karar) in unveränderter Höhe erneuert und bei der nochmaligen Überprüfung in zweiter Instanz durch Urteil der 9. Strafkammer des Kassationsgerichts vom 4. Mai 2001 (2000/3160 esas, 2001/1471 karar) endgültig bestätigt. Die beiden letztgenannten Entscheidungen bilden die Grundlage für das Auslieferungsersuchen der türkischen Behörden zum Zwecke der Strafvollstreckung.

B.

Die Auslieferung ist unzulässig. Der Senat hat ernstliche Gründe für die Annahme, die beabsichtigte Strafvollstreckung gegen den Verfolgten trage in einer über die bloße Ahndung krimineller Delikte hinausgehenden Weise den Charakter politischer Verfolgung.

Das in Art. 3 Abs. 2 EuAlÜbk niedergelegte Auslieferungshindernis der politischen Verfolgung knüpft an asylerhebliche Merkmale an. Es ist im Zulässigkeitsverfahren insbesondere dann zu prüfen, wenn das Auslieferungsersuchen einer Ahndung staatsfeindlicher Aktivitäten durch die Anwendung von Staatsschutzdelikten (hier: Art. 146/1 TStGB) dient, deren Unrechtsgehalt ausschließlich oder ganz überwiegend durch den Angriff auf das politische Rechtsgut geprägt ist. Wird der unter Umständen generalklauselartige Tatbestand des Staatsschutzdelikts im Einzelfall nur genutzt, um eine Verletzung individueller Rechtsgüter der Bürger in der bei der Ahndung solcher Taten üblichen Weise zu bestrafen, so liegt keine politische Verfolgung vor. Sie ist indes zu bejahen, wenn aufgrund bestimmter Indizien (besondere Intensität der Verfolgungsmaßnahmen, "Politzuschlag" bei der Strafzumessung, Vorschieben krimineller Handlungen, Fälschung von Beweismaterial, Manipulation des Tatvorwurfs, unzureichende Sachbehandlung) trotz des kriminellen Charakters der zur Rede stehenden Tat zu befürchten ist, dass dem Verfolgten eine Behandlung droht, die aus politischen Gründen härter ausfällt als die sonst zur Verfolgung ähnlich gefährlicher Straftaten im ersuchenden Staat übliche (vgl. zu alledem BVerfGE 80, 336-339; BVerfGE 81, 142, 149-153; Senatsbeschluss vom 27. Mai 2003, 4 Ausl (A) 308/02). Derartige Indizien liegen hier vor.

1.

Das mehrfach durch zwei Instanzen geführte Strafverfahren vor dem Staatssicherheitsgericht richtete sich nur gegen einen Teil der bis zu fünfzehntausend Personen, die im Verlauf des Tattages an den zunehmend eskalierenden Demonstrationen in ......... teilgenommen hatten. Der Prozess stand von Anfang an im besonderen Blickpunkt der Öffentlichkeit. Er betraf ein Geschehen, dem nicht nur aufgrund seiner gravierenden Folgen und der Vielzahl hieran Beteiligter politische Brisanz zukam. Vielmehr war seinerzeit auch in der Bevölkerung und den Medien gegen die Sicherheitskräfte sowie gegen politische Amtsträger der Vorwurf einer Mitschuld oder gar Beteiligung an den gewalttätigen Ausschreitungen des 2. Juli 1993 laut geworden (vgl. die Presseauswertung im Gutachten Dr. Christian Rumpf vom 13. Juli 1994, S. 53f., 60f. und 82, eingereicht im Verfahren 4 Ausl (A) 308/02 GStA Düsseldorf als Anlage 5 zum Schriftsatz der Verteidigung vom 16. Dezember 2002).

Vor diesem Hintergrund mag die türkische Justiz bei der strafrechtlichen Ahndung bestrebt gewesen sein, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu vermeiden, man bagatellisiere die in den Vorfällen massiv zutage getretenen islamisch-fundamentalistischen Bestrebungen, um etwa beteiligte Amtsträger zu schützen. Die Anwendbarkeit der Staatsschutzvorschrift des Art. 146 TStGB auf die Tatbeiträge der - erkennbar nicht organisierten - Angeklagten war hierbei keineswegs von Anfang an unstreitig. Wie der Prozessverlauf gegen den Verfolgten zeigt, griff das Staatssicherheitsgericht bei der strafrechtlichen Ahndung der Vorfälle zunächst nicht auf Art. 146 TStGB zurück und nahm diesbezüglich erst aufgrund des Berufungsurteils vom 30. September 1996 eine veränderte Bewertung vor. Bei elf Mitangeklagten beharrte das Staatssicherheitsgericht sogar nach erfolgter Neuverhandlung der Sache mit Urteil vom 28. November 1997 noch auf einer Verurteilung nach dem Versammlungsgesetz und ließ sich erst durch eine - nicht einstimmig ergangene - Berufungsentscheidung der Generalversammlung für Strafsachen vom 7. Juli 1998, die dem Senat ebenfalls vorliegt (1998/9-187 esas, 1998/272 karar), von einer Anwendbarkeit des Art. 146 TStGB überzeugen.

2.

Der Senat hat zwecks Untersuchung der Beweislage sowohl die Urteile als auch die durch den ersuchenden Staat ergänzend übersandten Ermittlungsergebnisse ausgewertet. Er vermag aufgrund der vorgelegten Beweismittel nicht festzustellen, dass der Verfolgte im türkischen Verfahren zweifelsfrei überführt wurde, an dem Brandanschlag auf das Hotel ............. (sei es durch aktive Handlungen, sei es durch die bloße Anwesenheit vor Ort und die dadurch bedingte Behinderung der Sicherheitskräfte) beteiligt gewesen zu sein.

Die zu den Akten gereichte Filmaufnahme von den Geschehnissen des 2. Juli 1993 lässt im Hinblick auf die hier maßgeblichen Vorfälle vor dem Hotel eine hinreichend sichere Identifizierung einzelner Personen nicht zu. Ausweislich der Ermittlungsunterlagen wurde der Verfolgte anhand von Fotografien als Teilnehmer an den Massendemonstrationen identifiziert. Diese Lichtbilder liegen dem Senat nicht vor. Sie zeigen aber offensichtlich nur die Demonstrationsabläufe vor der Eskalation der Ereignisse am Hotel ..........., denn der Verfolgte hat sich auf den Fotografien selbst erkannt und eine spontane Teilnahme an den Märschen zum Gouverneursgebäude und zum Kulturzentrum ausdrücklich eingeräumt. Nach seiner - dem Senat vorliegenden und auch in den Gerichtsurteilen mehrfach wiedergegebenen - Einlassung vor der Polizei und der Staatsanwaltschaft ist er indes im Verlauf des Nachmittags wieder zu seiner Arbeitsstelle zurückgekehrt und bei den anschließenden Ereignissen vor dem Hotel .......... nicht mehr anwesend gewesen; hierfür hat der Verfolgte im Ermittlungsverfahren seinen damaligen Arbeitgeber und seine Kollegen als Zeugen benannt. Dass und mit welchem Ergebnis diese Alibibehauptung überprüft worden ist, lässt sich den übersandten Ermittlungsunterlagen nicht entnehmen.

Der einzige Hinweis auf eine Anwesenheit des Verfolgten vor dem Hotel ........... ergibt sich aus einem Polizeibericht vom 10. Juli 1993 und aus dem mitübersandten Protokoll der staatsanwaltlichen Vernehmung des betreffenden Ermittlungsbeamten. Ausweislich dieser Unterlagen wurde der Verfolgte durch den Polizisten ........... bei dem Versuch beobachtet, eine Polizeisperre vor dem Hotel .......... zu überwinden und in das Gebäude einzudringen. Diese Angabe, deren Wahrheitsgehalt der Verfolgte im Ermittlungsverfahren nachdrücklich bestritten hat, findet sich in den Bekundungen des Zeugen ........ vor Gericht jedoch nicht wieder. Der im Urteil vom 26. Dezember 1994 detailliert niedergelegten Aussage ist vielmehr zu entnehmen, dass der Zeuge vor Gericht im Zusammenhang mit der Schilderung der Ereignisse vor dem Hotel ausschließlich die Namen anderer Angeklagten genannt und im übrigen nur allgemein angemerkt hat, die Anführer der gesamten Vorfälle seien wahrscheinlich nicht aus ............, aber er kenne den Verfolgten sowie andere Personen; diese hätten "die Gruppen geführt". Aufgrund der Angaben des Zeugen und der sonst erhobenen Beweise, insbesondere einer sachverständigen Begutachtung der Fotografien, ist das Staatssicherheitsgericht bei der ersten Verhandlung der Einlassung des Verfolgten gefolgt und hat dessen Anwesenheit bei den in tödliche Gewalttätigkeiten eskalierenden Geschehnissen vor dem Hotel ausdrücklich nicht festzustellen vermocht. Die Entscheidung vom 26. Dezember 1994 ist die einzige, die in Bezug auf den Tatbeitrag des Verfolgten eine Beweiswürdigung enthält und konkrete Beweismittel benennt.

3.

Die nach der ersten Verurteilung erfolgte Anwendung des Art. 146 TStGB hat bei den zuvor nicht wegen Brandstiftung belangten Angeklagten zu einer erheblichen Verschärfung des Strafmaßes geführt. Dies gilt insbesondere für den Verfolgten, der im ersten Verfahrensstadium wegen eines Verstoßes gegen das türkische Versammlungsgesetz verurteilt worden war, weil er an den Massendemonstrationen im Vorfeld der Ausschreitungen vor dem Hotel teilgenommen und hierbei "Slogans" gegen das republikanische System und den Laizismus geschrieen hatte. Obwohl eine derartige Tathandlung nach der rechtlichen Neubewertung in Anwendung des Art. 146 TStGB bei anderen Mitangeklagten nur als "untergeordnete Teilnahme" (Art. 146/3 TStGB) betrachtet wurde, behandeln die ab 30. September 1996 ergangenen Urteile den Verfolgten als Haupttäter gemäß Art. 146/1 TStGB. Dass die damit verbundene Verzehnfachung des ursprünglich verhängten Strafmaßes auf veränderten Tatsachenfeststellungen zur konkreten Deliktshandlung des Verfolgten beruht, ist den Entscheidungsgründen in keinem Fall zu entnehmen.

Die in Anwendung des Art. 146/1 TStGB ergangenen Urteile zeichnen sich vielmehr durch den gänzlichen Verzicht auf eine Benennung individueller Deliktshandlungen aus. Sie ordnen den Verfolgten lediglich einer Gruppe zu, der die Vorfälle des 2. Juli 1993 einschließlich der Gewalttätigkeiten vor dem Hotel in ihrer Gesamtheit zur Last gelegt werden, ohne dass mitgeteilt wird, welche Person welchen Tatbeitrag geleistet haben soll oder aus welchen Gründen sich der Einzelne die Tatbeiträge der anderen zurechnen lassen muss. Dass es sich bei den 38 nach Art. 146/1 TStGB verurteilten Haupttätern um Mitglieder einer planvoll agierenden aufständischen Organisation gehandelt hat, konnte ausweislich der vorliegenden Entscheidungen zu keinem Zeitpunkt festgestellt werden. Welches Verhalten des Verfolgten die Gerichte bei dessen Einordnung in die Gruppe der Haupttäter gemäß Art. 146/1 TStGB für maßgeblich hielten, bleibt auch deshalb unklar, weil die Entscheidungen nicht erkennen lassen, welche konkreten Beweismittel in Bezug auf den Verfolgten verwertet worden sind. Das Berufungsurteil vom 4. Mai 2001 listet zwar für 37 Mitangeklagte, nicht jedoch hinsichtlich des Verfolgten einzelne Beweismittel auf.

4.

Vor diesem Hintergrund bestehen ernstliche Gründe für die Annahme, das gegen den Verfolgten verhängte Strafmaß beinhalte einen über die bloße Verfolgung kriminellen Unrechts hinausgehenden "Politmalus" im Sinne von Art. 3 Abs. 2 EuAlÜbk.

Hierfür spricht bereits der Umstand, dass gerade die auf einer Anwendung des Staatsschutzdelikts ergangenen Urteile ohne individuelle Schuldfeststellungen auskommen. Die Differenzierung zwischen den nach Art. 146/1 und den nach Art. 146/3 TStGB behandelten Tätergruppen erweckt den Eindruck der Willkür, da die Urteilsgründe nicht mitteilen, durch welche konkreten Umstände sich die einzelnen Haupttäter von der Gruppe der "untergeordneten Teilnehmer" unterscheiden. Aufgrund dieser Umstände lässt sich die Verhängung der gesetzlich vorgesehenen Höchststrafe mit einer nur am Rechtsgüterschutz orientierten Verfolgungsintention jedenfalls bei denjenigen Angeklagten nicht nachvollziehbar erklären, die im ersten Verhandlungsdurchgang eines Brandstiftungsdelikts gerade nicht überführt wurden. Dies gilt insbesondere für den Verfolgten, bei dem die ab 30. September 1996 ergangenen Urteile sogar eine Benennung konkreter Beweismittel vermissen lassen. Die vorliegenden Indizien rechtfertigen in Bezug auf seine Person die Befürchtung, dass die strafrechtliche Ahndung - mangels konkreter Beweise einer Anwesenheit bei den Ausschreitungen vor dem Hotel - an ein Verhalten im Vorfeld des Brandanschlags anknüpft, das ohne die Anwendung der Staatsschutzvorschrift nicht mit einer derart hohen Strafe belegt worden wäre, mithin aus politischen Gründen härter als sonst sanktioniert wurde.

Ende der Entscheidung

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