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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Beschluss verkündet am 30.07.2003
Aktenzeichen: VI-Kart 22/02 (V)
Rechtsgebiete: GWB, EnWG


Vorschriften:

GWB § 19
GWB § 19 Abs. 1
GWB § 19 Abs. 2 Nr. 1
GWB § 19 Abs. 4
GWB § 19 Abs. 4 Nr. 2
GWB § 19 Abs. 4 Nr. 4
GWB § 20
GWB § 20 Abs. 1
GWB § 20 Abs. 2
GWB § 59 Abs. 1 Nr. 1
GWB § 59 Abs. 6
GWB § 65 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2
EnWG § 6 n. F.
EnWG § 6 Abs. 1
EnWG § 6 Abs. 1 Satz 1 n. F.
EnWG § 6 Abs. 1 Satz 5, 2. Halbsatz
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Auf den Antrag der Beschwerdeführerin vom 3. Juli 2003 wird die aufschiebende Wirkung ihrer Beschwerde vom selben Tage gegen den Auskunftsbeschluss des Bundeskartellamtes vom 5. Juni 2003 (B11 - 36/01) angeordnet.

Gründe:

I.

Die Beschwerdeführerin betreibt im Stadtgebiet D... und Umgebung ein Stromnetz. Mit Schreiben vom 26.09.2001 (Anlage ASt 4) teilte das Bundeskartellamt der Beschwerdeführerin die Aufnahme einer Vorprüfung wegen des Verdachts des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung sowie der unbilligen Behinderung anderer Stromanbieter durch das Fordern überhöhter Netznutzungsentgelte mit. Mit Schreiben vom 29.1.2002 (Anlage ASt 6) leitete es das förmliche Verfahren ein. Mit Wirkung ab 1.7.2002 hat die Beschwerdeführerin ihre Netznutzungsentgelte gesenkt. Im Hinblick hierauf beantragte sie unter dem 9.7.2002 - erfolglos - die Einstellung des kartellverwaltungsrechtlichen Missbrauchsverfahrens. Mit Schreiben vom 2.10.2002 (ASt 12) hat das Bundeskartellamt den seiner Meinung nach fortbestehenden Anfangsverdacht einer missbräuchlichen Entgelterhebung begründet und ausgeführt, der Vergleich der Netznutzungsentgelte zweier Netzbetreiber mit unterschiedlicher Absatzstruktur sei unzureichend, wenn dieser auf spezifische Abnahmefälle beschränkt sei. Vielmehr sei bei der Anwendung des Vergleichsmarktprinzips auf die erzielten Erlöse eines Netzbetreibers abzustellen. Allein geeignete Vergleichsgröße seien die pro km Leitungslänge erzielten Umsatzerlöse bezogen auf die Verteilnetzebenen Nieder- bis Mittelspannung, die für die R... AG 9.868,46 Euro /km und für die Beschwerdeführerin 17.016,45 Euro/km betrügen, mithin bei Letzterer 42 % mehr. Durch Beschluss vom 9.10.2002, hat das Bundeskartellamt der Beschwerdeführerin zur weiteren Aufklärung die Erteilung bestimmter Auskünfte aufgegeben. Dagegen hat sich die Beschwerdeführerin mit der Beschwerde gewandt und ausgeführt, ein Anfangsverdacht missbräuchlichen Verhaltens sei jedenfalls nach Absenkung ihrer Netznutzungsentgelte nicht mehr gegeben, weil diese deutlich unter oder teilweise nicht spürbar über den Netznutzungsentgelten der von dem Bundeskartellamt herangezogenen Vergleichsunternehmen lägen. Auf die Beschwerde hat der Senat mit Beschluss vom 22.1.2003 den Auskunftsbeschluss des Amtes vom 9.10.2002, soweit von der Beschwerdeführerin angefochten, aufgehoben, und im Wesentlichen ausgeführt, das Amt habe selbst bei unterstellter Eignung des Aufgreifkriteriums "Netzungserlöse pro Kilometer Leitungslänge" einen Anfangsverdacht nicht genügend dargelegt. Mit Wirkung ab 1.2.2003 hat die Beschwerdeführerin neue Netznutzungsentgelte eingeführt. Hierzu hat das Amt mit Scheiben an die Beschwerdeführerin vom 13.3.2003 zwar ausgeführt, dass kein Verdacht missbräuchlich überhöhter Netznutzungsentgelte aufgrund des Konzepts der "Erlöse je km Leitungslänge" bestehe. Bei Zugrundelegung der von der Beschwerdeführerin im Rahmen des Verfahrens gegen die Stadtwerke M... AG mitgeteilten und inzwischen ausgewerteten Leitungskosten sei ein Anfangsverdacht auf der Grundlage des Vergleichsmarktkonzepts nicht mehr gegeben. Der Verdacht überhöhter Netznutzungsentgelte bestehe jedoch schon deswegen fort, weil die Beschwerdeführerin ihre aktuellen Netznutzungsentgelte nach den Preisfindungsprinzipien der Verbändevereinbarung Strom II plus kalkuliert habe. Teile der VV Strom II plus widersprächen einigen wichtigen Prinzipen, die im Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung der Kartellbehörden des Bundes und der Länder vom 19.4.2001 niedergelegt seien. Ferner bestehe der Verdacht, dass die Netznutzungsentgelte der Beschwerdeführerin durch Kostenüberdeckung missbräuchlich überhöht seien. Schon die Anwendung der in den Jahren 2000 und 2001 wirksam gewordenen Entgelte hätten eine Kostenüberdeckung ergeben.

Mit Verfügung vom 5.6.2003 hat das Amt Auskünfte von der Beschwerdeführerin gefordert und seine Begründung aus seinem Schreiben vom 13.3.2003 bekräftigt. Ein Anfangsverdacht bestehe trotz der Vermutungsregelung "guter fachlicher Praxis" im Sinne der in Kraft getretenen Novelle des EnWG.

Dagegen wendet sich die Beschwerdeführerin mit ihrer Beschwerde und führt aus, ihre Netznutzungsentgelte per 1.2.2003 seien weder missbräuchlich überhöht noch habe das Amt insoweit einen Anfangsverdacht hinreichend dargelegt.

Sie beantragt vorab,

die aufschiebende Wirkung ihrer Beschwerde gegen den Auskunftsbeschluss des Bundeskartellamtes vom 5.6.2003 anzuordnen.

Das Amt verteidigt seinen Standpunkt und begehrt die Zurückweisung des Antrags.

II.

Der Antrag der Beschwerdeführerein hat Erfolg.

Gemäß § 65 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GWB kann das Beschwerdegericht die aufschiebende Wirkung einer sofort vollziehbaren Entscheidung der Kartellbehörde dann anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung bestehen. So verhält es sich im Streitfall. Das Auskunftsbegehren des Bundeskartellamtes findet in § 59 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 6 i.V.m. §§ 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 2 und 4 GWB derzeit keine hinreichende Grundlage.

Soweit dies zur Erfüllung der ihr im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen übertragenen Aufgaben erforderlich ist, kann die Kartellbehörde von Unternehmen Auskunft über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse und die Herausgabe der Unterlagen verlangen (§ 59 Abs. 1 Nr. 1 GWB). Die Befugnis ist nur durch das Ermittlungsziel und durch die Erforderlichkeit der - sowohl insgesamt als auch im Einzelnen - verlangten Auskünfte beschränkt. Dabei ist grundsätzlich ein großzügiger Maßstab anzulegen. In welchem Umfang von ihm Gebrauch gemacht wird, steht im Ermessen der Kartellbehörde. Daher kann das von dem betroffenen Beteiligten angerufene Beschwerdegericht ein Auskunftsverlangen nur daraufhin überprüfen, ob das - von der Kartellbehörde darzulegende - Ermittlungskonzept vertretbar ist und ob die Kartellbehörde die Erforderlichkeit der Auskünfte mit vertretbaren Erwägungen bejaht hat (vgl. Senat, WuW DE-R 677, 678, 680 m.w.N.).

Daran gemessen begegnet der angefochtene Auskunftsbeschluss ernstliche rechtlichen Bedenken. Es obliegt dem Bundeskartellamt, im konkreten Fall einen Anfangsverdacht vertretbar aufzuzeigen. Diesen muss es nach dem von ihm angewandten Maßstab plausibel, richtig und vollständig dartun, wobei alle für den Fall bedeutsamen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtpunkte zu berücksichtigen sind.

Da es um die Vorbereitung einer auf die Zukunft gerichteten Untersagungsverfügung geht, genügt es für die Begründung des Anfangsverdachts grundsätzlich nicht, Indizien aus sachlich und zeitlich abgeschlossenen Vorgängen heranzuziehen. Dies gilt im Streitfall namentlich für die Kalkulationen der bis zum 31.1.2003 gültigen Netznutzungsentgelte der Beschwerdeführerin. Diese sind für die Beurteilung des Missbrauchsverdachts hinsichtlich der in Rede stehenden, ab dem 1.2.2003 geltenden Entgelte mangels konkreter gegenteiliger Anhaltspunkte nicht (mehr) von Bedeutung. Selbst fehlerhafte Kalkulationsteile müssen nicht notwendig fortgeführt worden sein, (früher) überhöhte Kostenansätze können durch niedrigere Ansätze anderer zu schätzender Positionen ausgeglichen worden sein.

Dessen ungeachtet gilt hier, was der Senat im Beschluss vom 17.7.2003, Kart 18/03 V (Stadtwerke M... AG ./. Bundeskartellamt), ausgeführt hat. Bei der vorzunehmenden Rechtmäßigkeitskontrolle ist die durch das am 24.5.2003 in Kraft getretene Erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 20.5.2003 (BGBl. I S. 686) bewirkte Änderung der materiellen Rechtslage in den Blick zu nehmen. Dadurch hat § 6 Abs. 1 EnWG in den Sätzen 4 und 5 folgende neue Regelung erhalten, wohingegen der bisherige Satz 4 nunmehr als Satz 6 unverändert geblieben ist:

4Die Bedingungen guter fachlicher Praxis im Sinne des Satzes 1 dienen der Erreichung der Ziele des § 1 und der Gewährleistung wirksamen Wettbewerbs. 5Bei Einhaltung der Verbändevereinbarung über Kriterien zur Bestimmung von Netznutzungsentgelten für elektrische Energie und über Prinzipien der Netznutzung vom 13. Dezember 2001 wird bis zum 31. Dezember 2003 die Erfüllung der Bedingungen guter fachlicher Praxis vermutet, es sei denn, dass die Anwendung der Vereinbarung insgesamt oder die Anwendung einzelner Regelungen der Vereinbarung nicht geeignet ist, wirksamen Wettbewerb zu gewährleisten. 6§ 19 Abs. 4 und § 20 Abs. 1 und 2 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen bleiben unberührt.

Die mit der Beschwerde angefochtene Auskunftsverfügung ist materiell-rechtlich an § 6 EnWG n.F. zu messen, weil sie Rechtswirkungen für die Zukunft entfalten soll und die gesetzgeberische Wertung, die in § 6 EnWG Ausdruck gefunden hat, auch im Rahmen einer parallelen Anwendung der §§ 19 und 20 GWB zu berücksichtigen ist. Die am 24.5.2003 in Kraft getretene Neufassung des EnWG hat die Verbändevereinbarung Strom vom 13.12.2001 (VV Strom II plus) in der Weise verrechtlicht, dass - sofern insbesondere die Netznutzungsentgelte nach den darin niedergelegten Grundsätzen kalkuliert worden sind - befristet bis zum 31.12.2003 eine Einhaltung "der Bedingungen guter fachlicher Praxis" zu vermuten ist. Der durch die Änderung in das Gesetz aufgenommene Begriff "guter fachlicher Praxis" bildet nach § 6 Abs. 1 Satz 1 EnWG n. F. einen rechtlichen Maßstab für die Bedingungen einer gesetzmäßigen Stromdurchleitung und soll gemäß Satz 4 derselben Vorschrift zugleich einen wirksamen Wettbewerb auf den Strommärkten sicher stellen. Die Neufassung des EnWG hat zur Folge, dass in solchen Fällen, in denen für die preislichen Bedingungen einer Durchleitung die Vermutung guter fachlicher Praxis streitet, der Vorwurf eines Preismissbrauchs und einer kartellrechtswidrigen Behinderung (oder Ungleichbehandlung) im Sinne von § 19 Abs. 1, Abs. 4, § 20 Abs. 1 GWB in der Regel ungerechtfertigt ist (vgl. dazu auch die ausdrückliche Gesetzesbegründung in BT-Drucks. 15/197, S. 7). Der Vermutungstatbestand ist erfüllt, wenn - wie hier - der Netzbetreiber die von ihm erhobenen Netznutzungsentgelte nach den Vorgaben der VV Strom II plus berechnet hat. Die Vermutung kann zwar nach § 6 Abs. 1 Satz 5, 2. Halbsatz EnWG widerlegt oder entkräftet werden, mit der Folge, dass die Anwendung von § 19 Abs. 4 und § 20 GWB eröffnet ist. Dazu genügt jedoch nicht allein, wie hier geschehen, der pauschale amtsseitige Hinweis, die Beschwerdeführerin habe ihre ab dem 1.2.2003 gültigen Entgelte nach der VV Strom II plus berechnet. Vielmehr ist insoweit eine konkrete Darlegung zu fordern, dass die Anwendung der VV Strom II plus insgesamt oder die Anwendung einzelner Regelungen zur Bestimmung der Netznutzungsentgelte im konkreten Fall der Beschwerdeführerin ungeeignet ist, einen wirksamen Wettbewerb auf dem betroffenen Markt zu gewährleisten. Demgegenüber vertritt das Bundeskartellamt nur den Standpunkt, jedenfalls einzelne Kalkulationsansätze der VV Strom II plus führten grundsätzlich zu überhöhten Netznutzungsentgelten und seien (damit) nicht geeignet, wirksamen Wettbewerb zu garantieren. Soweit dem die Auffassung zugrunde liegt, nach Maßgabe der VV Strom II plus vorgenommene Kalkulationen, die zu höheren Netznutzungsentgelten führten als eine Berechnung nach den von der Arbeitsgruppe Netznutzung erarbeiteten Kriterien, seien stets missbräuchlich überhöht und folglich zu untersagen, ist dem entgegenzutreten. Die Verhandlungsergebnisse der Arbeitsgruppe Netznutzung sind nicht nur im Rechtssinn unverbindlich, sie waren dem Gesetzgeber bei der Novellierung des EnWG auch bekannt. Die dennoch zugunsten der Kalkulation nach der VV Strom II plus streitende gesetzliche Vermutung der Erfüllung der Bedingungen guter fachlicher Praxis für einen begrenzten, vergleichsweise kurzen Zeitraum lässt die Absicht des Gesetzgebers erkennen, auf dem Strommarkt einstweilen einen gewissen Rechtsfrieden einkehren zu lassen und dazu die Preisfindungsprinzipien der VV Strom II plus bewusst hinzunehmen. Die Wertungen und Intentionen des Gesetzgebers würden mithin umgangen, wenn es für die amtsseitige Darlegung des Preismissbrauchs genügen würde, der gesetzlichen Vermutung ganz allgemein, ohne Rücksicht auf den konkreten Einzelfall, zu widersprechen. Im Streitfall kommt hinzu, dass bereits drei vom Bundeskartellamt angewandte Aufklärungskonzepte (Vergleichsmarktkonzept, Vergleich von Erlösen/km Leitungslänge, Subtraktionsmethode) keinen Preismissbrauchsverdacht gegen die Beschwerdeführerin hervorbrachten und daher um so mehr mit Blick auf die belastenden Wirkungen eines schwebenden Missbrauchsverfahrens eine amtsseitige Darlegung des Anfangsverdachts zu verlangen ist.

Ende der Entscheidung

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