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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Urteil verkündet am 31.03.2003
Aktenzeichen: 1 U 95/02
Rechtsgebiete: SGB VII


Vorschriften:

SGB VII § 106 III
Zum Eingreifen des Haftungsausschlusses nach § 106 III 3 Alt. SGB VII bei einem Unfall mit Todesfolge sowie zu den Voraussetzungen der Annahme einer "gemeinsamen Betriebsstätte" im Sinne dieser Vorschrift.
OBERLANDESGERICHT FRANKFURT AM MAIN IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

1 U 95/02

Verkündet am 31.03.2003

In dem Rechtsstreit

hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main durch den Richter am Oberlandesgericht .... als Einzelrichter aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 17. März 2003

für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Beklagten wird das am 06.02.2002 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Hanau abgeändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits und die den Streithelferinnen entstandenen Kosten zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Entscheidungsgründe:

I. Die Klägerin macht wegen der Tötung ihres Ehemannes, der bei Arbeiten in unmittelbarer Nähe einer Gleisstrecke von einem Zug erfasst wurde, Schadensersatzansprüche gegen den Beklagten geltend.

Die Streithelferin zu 1. hatte die Firma V. mit Baumaßnahmen an der Tiefenentwässerung an den Gleisanlagen auf der Bahnstrecke Fulda-Frankfurt beauftragt.

Der Auftrag umfasste auch die Sicherung der Bauarbeiter gegen die Gefahren aus dem laufenden Bahnbetrieb. Den Teilauftrag "Kamerabefahrung und Dokumentation der Tiefenentwässerung" gab die Firma V. an die Firma U.S.H. weiter, die Arbeitgeberin des Ehemannes der Klägerin war. Mit der Sicherung der Bauarbeiter wurde die Firma P.S. Service GmbH beauftragt, deren Mitarbeiter der Beklagte ist.

Wegen der tatsächlichen Feststellungen wird im übrigen auf das angefochtene Urteil Bezug genommen. Allerdings ist zwischen den Parteien unstreitig, dass die Arbeiten an den Kanälen im Unfallzeitpunkt noch nicht gänzlich beendet waren, sondern noch ein Kabel über eine Seilwinde aus einem Schacht gezogen werden musste, sowie dass, als sich dieses verhakte, ein deutlich spürbarer Ruck durch das Fahrzeug ging, bei dem sich der zu Tode gekommene Ehemann der Klägerin und der Beklagte aufhielten.

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben.

Mit der Berufung macht der Beklagte geltend, die Arbeitgeberin des Getöteten, die Firma H., sowie deren Mitarbeiter S. hätten es pflichtwidrig unterlassen, die hierfür zuständige Stelle der Streithelferin zu 1. von der Fortsetzung der Arbeiten an der Bahnstrecke zu informieren. Seiner Ansicht nach seien diese nur nach den §§ 104, 105 SGB VII von der Haftung frei, weshalb die Grundsätze des gestörten Gesamtschuldnerausgleichs eingriffen und der Haftungsanteil des Beklagten zu kürzen sei. Ferner sei ein Mitverschulden des getöteten Ehemannes der Klägerin zu berücksichtigen.

Der Beklagte und die Streithelferinnen beantragen,

unter Abänderung des Urteils des Landgerichts Hanau vom 06.02.2002 die Klage abzuweisen, soweit der Beklagte ohne Berücksichtigung der auf den Sozialversicherungsträger kraft Gesetzes übergegangenen Ansprüche aus dem Unfallgeschehen vom 30.08.1999 verurteilt worden ist, und - unabhängig davon -, soweit er zu mehr als 50 % der Unfallfolgen verurteilt worden ist.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass ein Haftungsausschluss nach § 106 Abs. 3, 3. Altn. SGB VII hier nicht eingreife.

In der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte den Berufungsantrag dahin erläutert, dass er in erster Linie Abänderung des Urteils und vollständige Klageabweisung begehre.

II. Die Berufung ist zulässig.

Der vom Beklagten gestellte Antrag ist als hinreichend bestimmter Berufungsantrag im Sinne der §§ 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 1, 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO anzusehen. Im Wege der Auslegung und unter Zuhilfenahme der weiteren Ausführungen der Berufungsbegründungsschrift lässt sich entnehmen, dass der Beklagte nicht nur hinsichtlich der Feststellung seiner Schadensersatzpflicht für zukünftigen Unterhaltschaden, sondern auch hinsichtlich der Verurteilung zur Zahlung der Beerdigungskosten das erstinstanzliche Urteil insoweit angreift, als dieses nicht einen etwaigen gesetzlichen Übergang der Ansprüche auf den Sozialversicherungsträger und insoweit eine mangelnde Aktivlegitimation der Klägerin berücksichtigt.

Nicht im Wege der Auslegung entnommen werden kann dem Antrag hingegen, dass der Beklagte mit seiner Berufung von Anfang an die vollständige Klageabweisung begehrte. Aus den ausführlichen Darlegungen in der Berufungsbegründung zu seinem Mitverschuldensanteil von 50 % und der ausdrücklichen Einschränkung im Antrag, die Klage abzuweisen, "soweit ...." ergibt sich vielmehr ein zunächst nur teilweiser Angriff gegen das erstinstanzliche Urteil, zumal auch der Beklagte nie die Rechtsauffassung vertreten hat, die geltend gemachten Ansprüche seien insgesamt auf den Sozialversicherungsträger übergegangen. Allerdings ergibt sich aus der in der mündlichen Verhandlung erfolgten "Erläuterung" seines Antrags dahingehend, dass er in erster Linie Abänderung des Urteils und vollständige Klageabweisung begehre, der eindeutige Wille, jedenfalls nunmehr das Urteil insgesamt anzugreifen. Darin ist eine bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung zulässige Erweiterung der Berufung zu sehen. Denn eine neue Begründung für die begehrte vollständige Klageabweisung wird nicht angeführt; vielmehr soll die bisherige Begründung, insbesondere der im erstinstanzlichen Urteil nicht berücksichtigte Forderungsübergang auf den Sozialversicherungsträger, auch diesen Antrag tragen (vgl. zur Berufungserweiterung Zöller/Gummer, 22. Aufl., ZPO § 520 Rn. 31). Bedenken gegen die Zulässigkeit der Berufungserweiterung ergeben sich auch nicht daraus, dass kein neuer, ausdrücklich formulierter Antrag gestellt wurde. Denn ein solcher förmlicher Berufungsantrag ist nicht notwendig. Es genügt, wenn - wie hier - durch Auslegung zu entnehmen ist, in welchem Umfang das erstinstanzliche Urteil angegriffen wird.

Die Berufung ist auch begründet.

Der Klägerin steht gegen den Beklagten weder ein Anspruch auf Ersatz der Beerdigungskosten aus § 844 Abs. 1 BGB noch auf Erstattung des ihr durch den Tod ihres Mannes entstehenden Unterhaltschadens aus § 844 Abs. 2 BGB zu. Zugunsten des Beklagten greift gegenüber beiden etwaigen Ansprüchen der Haftungsausschluss des § 106 Abs. 3 3. Altn. SGB VII ein.

Der zu Tode gekommene Ehemann der Klägerin hat den Unfall im Rahmen einer vorübergehenden betrieblichen Tätigkeit auf einer für ihn und den Beklagten gemeinsamen Betriebsstätte im Sinne des § 106 Abs. 3 3. Altn. SGB VII erlitten.

Nach der Rechtsprechung liegt eine gemeinsame Betriebsstätte dann vor, wenn ein bewusstes Miteinander im Arbeitsablauf gegeben ist, das sich zumindest tatsächlich als ein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken mehrerer Unternehmen darstellt. Die Haftungsfreistellung umfasst damit über eine Arbeitsgemeinschaft hinaus betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinander greifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt (BGH r+s 2001, 149; MDR 2001, 155, 156).

Ein derartiges aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken mehrerer Unternehmen, ein bewusstes Ineinandergreifen und sich ergänzen der betrieblichen Aktivitäten von Versicherten der Unternehmen ist vorliegend gegeben. Gemeinsam hatten sich der Getötete und der Beklagte, die beide gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII Versicherte waren, bereits zu ihrem Tätigkeitsort an der Bahnstrecke Schlüchtern-Frankfurt begeben. Gemeinsames Ziel ihrer Arbeit war letztendlich die sichere Durchführung der zur Kamerabefahrung der Tiefenentwässerung erforderlichen Arbeiten an dieser Strecke. Aufgabe des Beklagten war es, den Getöteten, der mit einer Kamera unmittelbar an den Gleisen zu tun hatte, vor herannahenden Zügen zu warnen und ihn zum Verlassen des unmittelbaren Gefahrenbereichs aufzufordern, falls er diesen betreten sollte. Zwingend griffen dabei die Tätigkeiten der beiden ineinander und waren aufeinander abzustimmen. Die Arbeit des Beklagten hatte überhaupt nur den einen Sinn und erschöpfte sich darin, die Tätigkeit des Getöteten und seines Kollegen zu unterstützen, indem diese sich darauf verlassen können sollten, vor herannahenden Zügen gewarnt zu werden, um sich so voll und ganz auf ihre Arbeit konzentrieren zu können. Dies war sowohl dem Beklagten als auch dem Getöteten bewusst, der vor dem Unfallgeschehen bereits mehrmals vom Beklagten gewarnt und zum Verlassen des Gleisbereichs aufgefordert worden war.

Der Annahme eines Haftungsausschlusses nach § 106 Abs. 3, 3. Altn. SGB VII stehen entgegen der Auffassung der Klägerin nicht die von ihr zitierten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vom 29.10.2002 (VI ZR 283/01) und vom 25.06.2002 (VI ZR 279/01) entgegen. Diese Entscheidungen beziehen sich auf die Frage des Haftungsausschlusses zugunsten des Unternehmers, nicht aber auf die Frage des Haftungsausschlusses zugunsten des Versicherten eines Unternehmens. Dem Haftungsausschluss gemäß § 106 Abs. 3 3. Altn. SGB VII steht auch nicht entgegen, dass der Beklagte gerade die Aufgabe hatte, den Getöteten vor möglichen Gefahren zu schützen. Insbesondere ergibt sich aus der Regelung des Haftungsausschlusses für zusammenwirkende Unternehmen des Zivilschutzes nach § 106 Abs. 3 2. Altn. SGB VII nicht, dass nur im Fall des Zivilschutzes, nicht aber bei anderen schützend Tätigen die Haftung ausgeschlossen sein soll. Vielmehr handelt es sich hier wie dort um Situationen, in denen wegen des engen räumlichen Zusammenwirkens und des im tatsächlichen Ablauf aufeinander abzustimmenden Handelns mehrerer Unternehmen typischerweise Schädigungen nicht nur bei in dem selben Unternehmen Tätigen, sondern auch bei "Beschäftigten" des anderen Unternehmens eintreten können. In beiden Fällen besteht mithin eine Gefahrengemeinschaft, in der nach der Intention des Gesetzgebers eine Haftung der Zusammenarbeitenden nicht eintreten soll.

Der Beklagte hat auch durch eine betriebliche Tätigkeit im Sinne der §§ 106 Abs. 3, 105 Abs. 1 SGB VII einen Versicherungsfall bei dem Ehemann der Klägerin verursacht. Denn die schädigende Handlung, die Nichtvornahme einer Warnung des Getöteten vor dem sich nähernden Zug, welche eine Verletzung seiner fortbestehenden Pflicht zur Sicherung der Arbeiter, solange deren Arbeiten noch nicht abgeschlossen waren, darstellte, hing unmittelbar mit den Betriebszwecken seines Arbeitgebers, der Firma P. S. GmbH zusammen, wie es für eine betriebliche Tätigkeit erforderlich ist (BGH VersR 1971, 564). Das Erfasstwerden des Getöteten durch den Zug stellt einen Versicherungsfall im Sinne der §§ 7 Abs. 1, 8 Abs. 1 SGB VII dar. Der Unfall geschah infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII begründenden Tätigkeit, da der Getötete gerade seiner ihm im Rahmen seines Beschäftigungsverhältnisses obliegenden Arbeitstätigkeit nachkam, indem er das ordnungsgemäße Aufrollen eines Kabels aus einem Kanalschacht kontrollierte. Der Beklagte hat den Versicherungsfall weder vorsätzlich noch sonst auf einem in § 105 SGB VII genannten Weg herbeigeführt. Selbst wenn er sich vorsätzlich über die für ihn geltende Dienstanweisung hinweggesetzt haben sollte, als er seine Überwachungstätigkeit einstellte, bevor die von ihm zu sichernden Arbeiten abgeschlossen waren, so steht doch außer Zweifel, dass er den Tod des Ehemannes der Klägerin nicht wollte. Insoweit trifft ihn lediglich der Schuldvorwurf der Fahrlässigkeit.

Der Haftungsausschluss gilt auch gegenüber der Klägerin, da diese als Ehefrau des Getöteten Angehörige und Hinterbliebene im Sinne des § 105 SGB VIII ist.

Danach ist die Klage wegen des Haftungsausschlusses nach § 106 Abs. 3, 3. Altn. SGB VII unbegründet.

Da die Klägerin unterliegt, fallen ihr die Kosten des Rechtsstreits und der Streithilfe zur Last (§§ 91 Abs. 1, 101 Abs. 1 ZPO).

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Die Zulassung der Revision ist nicht veranlasst. Die Sache hat weder grundsätzliche Bedeutung, noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).

Ende der Entscheidung

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