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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 18.08.2000
Aktenzeichen: 1 Ws 106/00
Rechtsgebiete: AuslG, StGB, JGG, StPO


Vorschriften:

AuslG § 3 Abs. 1 S. 1
AuslG § 55 Abs. 1
AuslG § 29 Abs. 1
AuslG § 92 Abs. 1 Nr. 1
AuslG § 92 Abs. 1 Nr. 2
AuslG § 55 Abs. 2
AuslG § 53 Abs. 6
AuslG § 54
StGB § 52
StGB § 2
JGG § 1
JGG § 3
StPO § 112 Abs. 2 Nr. 2
StPO § 113
Die Strafbarkeit eines Ausländers, der sich ohne Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung in der Bundesrepublik aufhält, entfällt nicht dadurch, dass die Ausländerbehörde während einer vorhergehenden Untersuchungshaft Gelegenheit hatte, gegen ihn Abschiebehaft zu erwirken, andernfalls ihm eine Duldung hätte erteilen müssen.
OBERLANDESGERICHT FRANKFURT AM MAIN BESCHLUSS

1 Ws 106/00

5/3 Qs 14/00 (LG Frankfurt am Main)

955 Qs ­ 40 Js 19426.6/00 (AG Frankfurt am Main)

In der Strafsache

gegen ...

wegen Verstoßes gegen das Ausländergesetz

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss der 3. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 30. Juni 2000 durch den Richter am Oberlandesgericht ..., die Richterin am Oberlandesgericht ... und den Richter am Landgericht ... am 18. August 2000

beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Gegen den beschuldigten wird der in der Anlage beigefügte Haftbefehl erlassen.

Gründe:

Am 15.6.2000 beantragte die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht den Erlaß eines Haftbefehls gegen den Beschuldigten wegen des Vorwurfs, sich am 3.3.2000 bis zum 14.6.2000 in Frankfurt am Main und anderen Orten tateinheitlich a) entgegen § 3 Abs. 1 S. 1 AuslG ohne Aufenthaltsgenehmigung im Bundesgebiet aufgehalten und keine Duldung nach § 55 Abs. 1 AuslG besessen b) entgegen § 4 Abs. 1 i.V.m. § 29 Abs. 1 AusIG ohne Paß und ohne Ausweisersatz im Bundesgebiet aufgehalten und damit gem. den §§ 92 Abs. 1 und 2 AusIG, 52 StGB, §§ 1, 3 JGG strafbar gemacht zu haben. Als Haftgrund wurde Fluchtgefahr § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). angeführt.

Der Ermittlungsrichter am Amtsgericht Frankfurt am Main lehnte den Erlaß des Haftbefehls ab. Ein Verstoß gegen § 92 Abs. 1 Nr. 1 AusIG liege nicht vor. Aus der Akte ergebe sich, daß der Beschuldigte sich bereits in Untersuchungshaft befunden habe. Die zuständige Ausländerbehörde hätte somit Gelegenheit gehabt, Abschiebehaft zu bewirken. Da sie dies nicht getan habe, hätte sie dem Beschuldigten eine Duldung erteilen müssen. Daß sie dies ebenfalls unterlassen habe, gehe nicht zu Lasten des Beschuldigten. Wegen des Verstoßes gegen § 92 Abs. 1 Nr. 2 AusIG sei der Erlaß eines Haftbefehls unverhältnismäßig.

Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht dagegen wurde im angefochtenen Beschluß verworfen. Die Kammer schloß sich der Auffassung des Ermittlungsrichters an. Ergänzend wies sie u. a. darauf hin, daß zumindest die für die JVA Rockenberg zuständige Ausländerbehörde Kenntnis davon gehabt habe, daß der Beschuldigte dort im Februar 2000 in Untersuchungshaft gesessen habe. Hiergegen richtet sich die weitere Beschwerde. Sie ist zulässig (§ 310 Abs. 1 StPO) und begründet.

Aufgrund der eigenen Einlassung des Beschuldigten, der Angaben der Polizeiobermeisterin N. in der Einlieferungsanzeige vom 14.6.2000 in Verbindung mit den der Anzeige beigefügten Urkunden (Entlassungsschein des Landgerichts Frankfurt vom 2.3.2000, Notierung der Personalien in den Akten durch den Beschuldigten selbst, Schreiben der Rechtsanwältin L. vom 3.3.2000, AZR-Ausdruck) sowie dem Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 2.3.2000 im Verfahren 955 Ds 40 Js 4627.5/00, dem Protokoll der Hauptverhandlung in dem Verfahren und den Angaben darin des POK K. in der Einlieferungsanzeige vom 3.2.2000 ­ die Akten wurden vom Senat beigezogen ­ ist von folgendem Sachverhalt im Sinn dringenden Tatverdachts auszugehen:

Der Angeschuldigte ist eigener Angabe nach Algerier. Er wurde am 3.2.2000 von der Polizei in einer Pizzeria in Frankfurt am Main beim Arbeiten angetroffen. Auf Befragen gab er als seine Personalien den eingangs angeführten Namen und Geburtsort, als Geburtsdatum den "2.10.1985" an. Er erklärte, seinen Paß verloren zu haben. In seiner Jacke fand die Polizei einen französischen Paß und einen französischen Führerschein, beides lautend auf die Personalien ..." und versehen mit dem Lichtbild des Beschuldigten. Bei seiner Vernehmung durch die Polizei am 4.2.2000 gab er laut Protokoll an, er sei im August 1999 von Ceuta über Spanien und Frankreich nach Deutschland geschleust worden, habe hier arbeiten wollen und sich die gefälschten Papiere durch Vermittlung eines Landsmannes von einem Unbekannten auf der Konstablerwache besorgt. Gegen ihn erging Haftbefehl und er blieb bis zum 2.3.2000 in Untersuchungshaft. An dem Tag wurde er vom Jugendschöffengericht wegen Verstoßes gegen das Ausländergesetz und wegen Urkundenfälschung mit einem Dauerarrest von vier Wochen belegt, von dessen Vollstreckung im Hinblick auf die erlittene Untersuchungshaft abgesehen wurde, und aus der Haft entlassen. In der Hauptverhandlung hatte er als Geburtsdatum zunächst wieder 2.10.1985" angegeben, dies auf den Vorhalt, er sehe erheblich älter aus, auf 2.1.1984" geändert, und auf Befragen erklärt, er habe noch nie einen Paß gehabt. Seine seinerzeitige Pflichtverteidigerin, Rechtsanwältin L., teilte laut Protokoll mit, wenn der Mandant aus der Haft komme, werde er erst einmal zur Ausländerbehörde gehen; "heute" werde sie ihn in die Speyerstraße zum "Sleep In" schicken, damit er eine Unterkunft bekomme. Nach den Feststellungen im Urteil wollte der Beschuldigte die gefälschten Papiere insbesondere auf der Suche nach einem Arbeitsplatz vorlegen, um seinen legalen Aufenthalt vorzutäuschen. In der Strafzumessung ist u. a. ausgeführt, es sei zu hoffen, daß den Angeklagten die Untersuchungshaft so weit beeindruckt habe, daß er sich nach seiner Haftentlassung um eine Legalisierung seines Aufenthalts bemühen bzw. aus Deutschland ausreisen werde. Seine Verteidigerin wandte sich mit Schreiben vom 3.3.2000 an das Jugendamt in Frankfurt am Main und bat, dem Mandanten bei der Legalisierung seines Aufenthalts zu helfen; der sei mit dem gestrigen Tag illegal in Deutschland; desweiteren benötige er eine Unterkunft.

In der Folgezeit hielt sich der Beschuldigte weiter hier auf. Am 14.6.2000 wurde er erneut festgenommen. Er führte einen Entlassungsschein des Landgerichts Frankfurt am Main vom 2.3.2000 mit sich, in dem als Geburtsdatum der 2.1.1984" und' ­ durchgestrichen ­ der "19.2.1972' notiert war. Den Streifenbeamten gegenüber, die ihn festgenommen hatten, gab er als Personalien an ...". Eine Überprüfung ergab, daß er in Frankfurt am Main nicht gemeldet war. Bei seiner Vernehmung gab er an, er habe seinen Lebensunterhalt mit Hilfe von Freunden und Bekannten bestritten, die ihm mit Geld, Essen und Unterkunft geholfen hätten. Er sei den ganzen Tag so umhergezogen. Aufgefordert, seine Personalien aufzuschreiben, schrieb er ..." und die Speyerstr. 9 (phonetisch) als seine Anschrift auf. Eine Rückfrage in der Unterkunft ergab, daß er dort zuletzt vor Monaten ­ nach dem Urteil vom 2.3.2000 ­ übernachtet hatte. Seine seinerzeitige Verteidigerin Rechtsanwältin L. erklärte auf telefonische Anfrage, sie habe seit der Hauptverhandlung keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt und nicht gewußt, wo er sich aufhielt. Eine Überprüfung beim AZR mit Vor- und Zunamen ergab, daß eine Person dieses Namens nicht erfaßt war. Eine Meldung des Beschuldigten beim Ausländeramt war nicht erfolgt. Wo er sich seit seiner Entlassung am 15.6.2000 aufgehalten hat und derzeit aufhält, ist nicht bekannt. In der Einlieferungsanzeige ist festgehalten, der Beschuldigte wirke "augenscheinlich älter" als dem Geburtsjahr 1984 oder 1985 gemäß.

Bei der Sachlage hat der Beschuldigte sich entgegen der Auffassung der Vorinstanzen nicht nur gemäß § 92 Abs. 1 Nr. 2 AusIG, sondern auch wegen des Verstoßes gegen § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG strafbar gemacht.

Er hat sich in der Zeit vom 3.3. bis zum 14.6.2000 entgegen § 3 Abs. 1 S. 1 AuslG ohne Aufenthaltsgenehmigung im Bundesgebiet aufgehalten und ohne eine Duldung zu besitzen. Mit der Argumentation, die Strafbarkeit entfalle, weil die Ausländerbe- hörde während der Untersuchungshaft des Beschuldigten in der Zeit vom 3.2. bis zum 2.3.2000 Gelegenheit gehabt habe, gegen ihn Abschiebehaft zu erwirken, andernfalls ihm habe eine Duldung erteilen müssen, greifen der Ermittlungrichter und die Kammer ersichtlich die vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten (StV 1999, 260) sowie vom Amtsgericht Frankfurt am Main z.B. im Urteil vom 29.5.2000 - Az.: 932 Ds 1038 - 2.Js 39108.5/99 - vertretene Auffassung auf, für die Strafbarkeit eines Ausländers gem. § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG sei bei der Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit nicht darauf abzustellen, ob der paßlose Ausländer im Besitz einer Duldung ist, sondern die Strafbarkeit entfalle auch, wenn dem Ausländer materiell ­ auf seinen Antrag oder von Amts wegen ­ eine Duldung zu erteilen gewesen wäre, dies aber infolge rechtswidrigen Verwaltungshandelns der Ausländerbehörde unterblieben sei (so das Amtsgericht Frankfurt am Main a.a.0. Urteilsgründe S. 4); im Ergebnis liege daher nur dann eine Strafbarkeit nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AusIG vor, wenn sich der Ausländer durch Untertauchen oder Flucht der Abschiebung entziehe (AG Berlin-Ti6rgarten a.a.0. S. 80; AG Frankfurt am Main a.a.0.). Die Ansicht teilt der Senat nicht. Nach dem klaren Wortlaut des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG kommt es auf den möglichen Anspruch auf Erteilung einer Duldung oder Aufenthaltsgenehmigung nicht an. Entscheidend ist vielmehr, ob diese zum Zeitpunkt des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland förmlich vorlag (KGStV 1999, 85; Renner, Kommentar zum AuslG, § 92 Rn. 5; GK-Ausländerrecht, § 92 Rn. 3; Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht, § 92 Rn. 14). Dies ergibt sich auch aus dem in ständ. Rechtspr. (vgl. BGHSt 23, 86/93) vertretenen Grundsatz der Verwaltungsakzessorietät. Danach kommt es bei Delikten, deren strafrechtliche Rechtsfolgen auf der Tatbestandsseite an die Befolgung oder Nichtbefolgung von Verwaltungsakten anknüpfen (verwaltungsakzessorische Delikte) für die Strafbarkeit nur auf die Wirksamkeit und Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes an, nicht jedoch auf dessen materielle Rechtmäßigkeit. Das bedeutet u. a., daß die bloß materielle Genehmigungs- /Erlaubnisfähigkeit nicht tatbestandausschließend oder rechtfertigend wirkt (Hailbronner-Kommentar, a.a.0. Rn. 7). Dementsprechend läßt nach der Rechtsprechung selbst eine rückwirkende Entscheidung des VG, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ablehnung eines Antrags auf Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung herzustellen, den Tatbestand des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG nicht entfallen (KG a.a.O.; Senatsentscheidung vom 21.8.1987 StV 1988, 301/302; Bay0bLG NStZ 1996, 395/396). Ebenso läßt die Tatbestandsmäßigkeit unberührt, wenn eine Duldung gem. § 55 Abs. 2 AuslG von der Ausländerbehörde zu erteilen gewesen wäre, dies aber unterlassen wurde. Das bloße Vorliegen der materiellen Voraussetzungen einer Duldung wirkt somit nicht tatbestandsausschließend oder rechtfertigend.

Im übrigen ist von den Vorinstanzen verkannt worden, daß für den Tatzeitraum ­ 3.3. bis 14.6.2000 ­ auch ausgehend von der zitierten Meinung ­ so zutreffend in der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht ausgeführt ­ die Strafbarkeit des Beschuldigten im vorliegenden Fall zu bejahen gewesen wäre. Auch nach der Auffassung bleibt es ­ wie angeführt ­ bei der Strafbarkeit, wenn sich der Ausländer durch Untertauchen oder Flucht der Abschiebung entzieht, die Ausländerbehörde daher nicht die Möglichkeit hat, zwischen den ihr zustehenden Alternativen von Abschiebungshaft, Abschiebung oder Erteilung einer Duldung zu wählen. Während der Tatzeit nach der Entlassung des Beschuldigten aus der Untersuchungshaft im Verfahren, 955 Ds 40 Js 4627.5/00 am 2.3.2000 bis zu seiner erneuten Festnahme in vorliegender Sache am 14.6.2000 war der Beschuldigte untergetaucht. Er blieb nicht in der Unterkunft "Sleep In", zu der ihn seine seinerzeitige Verteidigerin geschickt hatte, informierte nicht einmal diese darüber, wo er sich anschließend aufhielt ­ mit der Folge, daß auch eine evtl. Resonanz auf deren Hilfeersuchen an das Jugendamt vom 3.3.2000 ohne Auswirkungen bleiben mußte ­ und wandte sich entgegen der in der Hauptverhandlung vom 2.3.2000 protokollierten Erklärung im gesamten Zeitraum nicht an die Ausländerbehörde. Dieser war damit die Möglichkeit genommen, zwischen den ihr zustehenden Alternativen zu wählen. Darauf, daß sie ­ wie von der Kammer ohne weitere Begründung unterstellt, aufgrund der in den Beiakten enthaltenen formularmäßigen Unterrichtung der Ausländerbehörde von dem Strafverfahren gegen den Beschuldigten durch die Polizei (Bl. 12 d. BA) auch nicht fernliegend ­ irgendwann Kenntnis davon gehabt haben mag, daß der Beschuldigte während des Februar 2000 in der JVA Rockenberg einsaß, sie sich somit währenddessen mit den von ihr zu ziehenden Konsequenzen seines illegalen Aufenthalts hätte befassen können, kommt es nicht an. Ob eine Handlung strafbar ist, ist ­ abgesehen von den hier nicht interessierenden Ausnahmen in § 2 StGB ­ ausschließlich nach den Verhältnissen zum Zeitpunkt der Tat zu beurteilen. Zu der Zeit aber war der Beschuldigte untergetaucht, sein Verhalten folglich auch nach der hier nicht vertretenen Gegenmeinung des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten und des Amtsgerichts Frankfurt am Main strafbar.

Nach dieser ist darüber hinaus ­ wie von den Vorinstanzen ebenfalls übersehen ­ ein Rechtsanspruch auf Duldung gem. § 55 Abs. 2 AusIG, also das Vorliegen der darin normierten Voraussetzungen festzustellen. Sie sind hier nicht deshalb gegeben, weil die Ausländerbehörde bei zeitweiliger Kenntnis vom tatsächlichen Aufenthalt und dem illegalen Status eines Ausländers im Inland von der Beantragung von Abschiebehaft oder von der Abschiebung absieht. Mehr ist indessen in den Entscheidungen der Vorinstanzen nicht dargelegt. Nach § 55 Abs. 2 AusIG ist einem Ausländer eine Duldung zu erteilen, solange seine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist oder nach den §§ 53 Abs. 6, 54 AuslG ausgesetzt werden soll. Hier wäre allein eine Duldung wegen tatsächlicher Unmöglichkeit der Abschiebung in Erwägung zu ziehen gewesen. Tatsächliche Unmöglichkeit ist dann gegeben, wenn die Abschiebung an Gründen scheitert, die nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand behoben werden können. Kürzere und daher unerhebliche zeitliche Verzögerungen einer Abschiebung allein begründen noch keine Unmöglichkeit, entscheidend ist allein, daß die Abschiebung alsbald realisiert werden kann (GK-Ausländerrecht § 55 Rn. 39). Tatsächlich unmöglich kann die Abschiebung sein etwa wegen Fehlens eines aufnahmebereiten Staates, wegen Paßlosigkeit (Renner, a.a.0. Rn. 4; GKAusländerrecht a.a.0. Rn. 40 u. 41) und bei ungeklärter Identität und/oder Staatsangehörigkeit (BVerwG Urteil v. 21.3.2000 - 1 C 23.99). Anhaltspunkte für ersteres sind nicht ersichtlich. Daß der Beschuldigte über keinen auf seine richtigen Personalien lautenden Paß verfügt, ist auf der Basis des derzeitigen, eingangs wiedergegebenen Ermittlungsergebnisses als eher unwahrscheinlich zu beurteilen. Zwar wurde er bei der ersten Festnahme im Besitz gefälschter Papiere, bei der zweiten ohne Papiere angetroffen. Das besagt indessen nicht, daß er nicht über gültige Papiere verfügt. Gegen die Richtigkeit seiner dahingehenden Behauptungen spricht bereits deren Widersprüchlichkeit. Zum einen will er seinen Paß verloren, zum anderen nie einen besessen haben. Hinzu kommt, daß er seine richtige Identität insbesondere sein richtiges Geburtsdatum bewußt verschleiert, sich gefälschter Papiere bedient hat, um einen legalen Aufenthalt vorzutäuschen. Seine echten Papiere mit sich zu führen, wäre unter den Umständen kaum ratsam gewesen. Selbst wenn indessen von seiner Paßlosigkeit ausgegangen würde, so begründet dies keinen Duldungsgrund, wenn ausreichende und zuverlässige Anhaltspunkte dafür bestehen, daß die Abschiebung im konkreten Fall in absehbarer Zeit auch ohne Paß durchgeführt werden kann (GK a.a.0. Rn. 41; Hailbronner Kommentar a.a.0. § 55 Rn. 20). Bei der Entscheidung über die Erteilung einer Duldung hat die Ausländerbehörde zu prüfen, ob die Abschiebung überhaupt durchgeführt werden kann und in welchem Zeitpunkt das möglich ist. Während des hierfür notwendigen Zeitraums ­ im Sinn des üblichen Zeitraumes ­ ist die Abschiebung nicht tatsächlich unmöglich (OVG Münster NVwZ-Beilage 1 7/2000 S. 83). Nach Kenntnis des Senats aus einem Revisionsverfahren besteht jedenfalls im Einzelfall die Möglichkeit, paßlosen Algeriern ­ auch bei nicht festgestellter Identität ­ durch das algerische Generalkonsulat bei Unterzeichnung einer sogenannten Rückreiseerklärung einen Ausweisersatz ausstellen zu lassen und dadurch die Abschiebung zu ermöglichen. Konkrete Anhaltspunkte dafür, daß der Weg im Fall des Beschuldigten nicht hätte beschritten werden können, sind nicht ersichtlich. Zudem hätte die Ausländerbehörde der Frage, ob der Beschuldigte auf dem Wege abzuschieben gewesen wäre und wie lange dies in Anspruch genommen hätte, zunächst einmal nachzugehen gehabt und wäre während des dafür zu veranschlagenden üblichen Zeitraums, der kaum kürzer als die Untersuchungshaft des Beschuldigten vom 3.2. bis zum 2.3.2000 zu veranschlagen sein dürfte, die Abschiebung noch nicht als tatsächlich unmöglich, somit eine Duldung nicht zu erteilen gewesen. Mithin ist das tatsächliche Bestehen eines Anspruchs des Beschuldigten auf Duldung gem. § 55 Abs. 2 AuslG als eher unwahrscheinlich zu erachten.

Nach den vorstehend zitierten Entscheidungen des Kammergerichts und des Senats sowie der Ansicht des OLG Karlsruhe (Die Justiz 1986, 469) soll sich auf die Strafbarkeit gem. § 92 Abs. 1 Nr. 1 AusIG eine etwaige Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit normgerechten Handelns auswirken. Bemühungen um eine freiwillige Ausreise könnten von dem Beschuldigten nur dann verlangt werden, wenn faktisch eine Möglichkeit zur Ausreise bestehe (KG a.a.0.). Die Entscheidungen des Kammergerichts und des Senats gehen davon aus, daß im jeweils entschiedenen Fall der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit auf dem Unterlassen der Ausreise lag, weil dem Angeklagten vorgeworfen werde, im Bundesgebiet verblieben zu sein, anstatt seiner durch Ausweisung begründeten Verlassenspflicht nach dem AuslG nachzukommen. Die Meinung findet sich auch im Hailbronner Kommentar, in dem es heißt, es handele sich um ein echtes Unterlassungsdelikt; der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liege im Fall des Verbleibens im Bundesgebiet nach Versagung einer Aufenthaltserlaubnis auf dem Unterlassen der Ausreise, da der Ausländer trotz Ablehnung der Aufenthaltsgenehmigung in der Bundesrepublik Deutschland verbleibt, anstatt seiner Verlassenspflicht nachzukommen (Hailbronner Kommentar a.a.0. Rn. 9). Das OLG Karlsruhe führt im Zusammenhang mit seiner Einordnung der Tat bei den echten Unterlassungsdelikten im konkreten Fall an, die seit ihrer Geburt legal in Deutschland lebende Angeklagte habe es nach dem Wegfall der altersbedingten Befreiung vom Erfordernis der Aufenthaltserlaubnis dem AusIG entgegen unterlassen, unverzüglich die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen. Ob der Auffassung, es handele sich um ein echtes Unterlassungsdelikt, für die seinerzeit entschiedenen Fälle zuzustimmen wäre, mag dahinstehen. Bei echten Unterlassungsdelikten beschreibt der Tatbestand selbst das Unterlassen einer rechtlich gebotenen Handlung (Tröndle/Fischer, StGB, vor § 13 Rn. 12; Schönke/Schröder/Stree, StGB, Vorbem. §§ 13 ff. Rn. 137). § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG lautet indessen nicht dahin, daß das Unterlassen der Ausreise oder der Bemühungen einer Legalisierung des Aufenthalts unter Strafe gestellt wird. Nach dem Wortlaut der Norm ist strafbewehrt vielmehr der Verbleib im Bundesgebiet ohne Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung, damit eine aktive Handlung. Für den hier vorliegenden Fall träfe die Argumentation in der früheren Senatsentscheidung, in der des Kammergerichts und in der Kommentierung nicht zu. Der Beschuldigte hat sich ­ auf freiem Fuß ­ zu keiner Zeit legal im Inland aufgehalten, sich um keinerlei Legalisierung seines Aufenthalts bemüht und ist nicht nach Versagung einer Aufenthaltsgenehmigung einer gegen ihn ergangenen Ausweisungsverfügung zuwider hiergeblieben. Der Senat neigt dazu, jedenfalls bei der Fallgestaltung dem andauernden illegalen Verbleiben, damit der aktiven Handlung, die entscheidende strafrechtliche Relevanz zuzuordnen mit der Folge, daß nicht von einem Unterlassungsdelikt auszugehen (vgl. Tröndle/Fischer a.a.0.), für die Strafbarkeit also auch nicht auf die Möglichkeit und Zumutbarkeit normgemäßen Handelns abzustellen wäre. Auswirken könnte sich dann eine rechtfertigende oder entschuldigende Notstandssituation (§§ 34, 35 StGB; vgl. Senatsbeschl. v. 21.8.1987 a.a.O.; Bay0bLG NSTZ 1986, 396). Für deren Vorliegen fehlt hier jeder Anhaltspunkt. Der Beschuldigte hat angegeben, er sei nach Deutschland gekommen, um zu arbeiten und Geld zu verdienen. Daß er im Fall einer Rückkehr Represalien ausgesetzt wäre, kann danach außer Betracht bleiben. Die Frage, ob hier von einem Unterlassungsdelikt auszugehen ist, bedarf indessen keiner Entscheidung. Daß dem Beschuldigten im Tatzeitraum normgemäßes Verhalten nicht möglich oder nicht zumutbar gewesen wäre, ist von den Vorinstanzen weder dargelegt, noch nach dem derzeitigen Beweisergebnis anzunehmen. Den wiedergegebenen Ausführungen in der Strafzumessung des Urteils des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 2.3.2000 zufolge ist das Gericht nach Durchführung der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung davon ausgegangen, daß der. Beschuldigte sich nach seiner Haftentlassung um eine Legalisierung seines Aufenthalts bemühen oder aus Deutschland ausreisen könnte. Seine Verteidigerin erklärte in Einklang mit ersterem laut Protokoll, der Beschuldigte werde sich erst einmal an die Ausländerbehörde wenden. Dementsprechend ist davon auszugehen, daß jedenfalls die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise bestand, - wie hier bereits dargelegt - entweder, weil der Beschuldigte seinen Angaben zuwider tatsächlich über einen gültigen Paß verfügen konnte, oder aber er sich mit Hilfe der Ausländsvertretung seines Landes die für eine Ausreise erforderlichen Ersatzdokumente hätte beschaffen können. Seine von ihm bewußt verschleierte und infolgedessen ungeklärte Identität klarzustellen, oblag ihm selbst, war ihm ohne weiteres möglich und zumutbar. Die Annahme, daß seine Anstrengungen um ein normgemäßes Verhalten von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen wären ­ deshalb von ihm nicht gefordert werden konnten (so KG a.a.0.) ­ liegt danach fern.

Schließlich würde den Beschuldigten jedoch auch nicht vom strafrechtlichen Vorwurf der Unterlassung der Ausreise entlasten, falls er mangels Papieren und/oder ungeklärter Identität/Staatsangehörigkeit nicht in sein Heimatland hätte zurückkehren können. In die Lage hätte er sich nämlich dadurch begeben, daß er ohne gültigen Paß eingereist ist oder aber ihn nach der Einreise vernichtet hat und/oder seine Identität bewußt verschleiert hat. Damit wäre er selbst dafür verantwortlich, daß er der Pflicht zur Ausreise nun nicht nachkommen kann und hätte sich in die sie begründende Lage in dem Bewußtsein dessen begeben. Unter diesen Umständen könnte er sich auf die Handlungsunfähigkeit nach den Grundsätzen der "omissia liberia in causa" nicht berufen (vgl. Schoenke-Schröder-Stree, a.a.0. Vorbem. §§ 13 ff Rn. 144). Es widerspräche grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen, die durch eigenes Verhalten bewußt unmöglich gemachte Ausreise durch Straffreiheit unter dem Gesichtspunkt der bei Unterlassungsdelikten maßgeblichen Unmöglichkeit normgerechten Verhaltens zu sanktionieren.

Nach allem ist die Strafbarkeit des im Sinn dringenden Tatverdachts zugrundezulegenden Verhaltens des Beschuldigten auch gem. § 92 Abs. 1 Nr. 1 AusIG ­ nicht nur gem. § 92 Abs. 1 Nr. 2 AuslG ­ zu bejahen.

Es besteht der Haftgrund der Flucht (§ 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO). Der Beschuldigte, der ungeklärter Identität und im Inland ohne festen Wohnsitz und sonstige soziale Bindungen ist, hält sich seit der erneuten Haftentlassung am 15.6.2000 an unbekannten Aufenthaltsorten auf, mit der Wirkung, daß er für die Ermittlungsbehörden und Gerichte unerreichbar und ihrem Zugriff entzogen ist.

Die Anordnung der Untersuchungshaft wahrt den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die Höhe der im Verurteilungsfall zu erwartenden Strafe wird maßgeblich davon abhängen, ob Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht anzuwenden sein wird, damit davon, welches der vom Beschuldigten angegebenen verschiedenen Geburtsdaten zutrifft. Da er selbst bei der Polizei "2.10.1976" schriftlich niedergelegt und mit gefälschten Papieren mit dem Geburtsdatum 19.2.1971" am Arbeitsplatz aufgetreten ist, obwohl es dort hätte auffallen müssen, wenn er tatsächlich 1984 oder 1985 geboren, also rund dreizehn oder vierzehn Jahre jünger gewesen wäre, Polizei und Gericht ihn auch als erheblich älter schätzten, erscheint die Unrichtigkeit der die Anwendung von Jugendrecht begründenden Geburtsdaten 2.10.1985" ­ schon von ihm selbst in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht und dementsprechend von seiner Verteidigerin in ihrem Schreiben vom 3.3.2000 an das Jugendamt korrigiert ­ und "2.1.1984" naheliegender. Das wird im Fall seiner erneuten Festnahme - ggf. durch ein Personenfeststellungsverfahren - aufzuklären sein. Wenn dennoch Jugendrecht - erneut - zur Anwendung kommen sollte, so ist die Straferwartung ungeachtet der einschlägigen Vorbelastung als eher gering zu veranschlagen. Daraus folgt jedoch, wie sich aus der Regelung des § 113 StPO ergibt, nicht die Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft, da angesichts der Flucht des Beschuldigten das Strafverfahren ohne seine Festnahme nicht durchgeführt, der staatliche Strafanspruch nicht durchgesetzt werden könnte.

Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft war somit der in der Anlage beigefügte Haftbefehl zu erlassen.

Ende der Entscheidung

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