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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 24.11.2005
Aktenzeichen: 1 Ws 126/05
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 230
StPO § 311
Es ist nicht zu beanstanden, dass im Falle des Haftbefehls gemäß § 230 StGB die Erlangung von effektivem Rechtschutz nur dann möglich ist, wenn der Betroffene die - nicht fristgebundene - Beschwerde umgehend einlegt. Dementsprechend wird für die Anfechtung prozessual überholter Maßnahmen gefordert, die Beschwerdemöglichkeit in entsprechender Anwendung von § 311 Abs. 2 StPO im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit zeitlich auf eine Woche zu begrenzen.
Gründe:

Das Amtsgericht Darmstadt hat am 18.5.2005 gegen den Angeklagten Haftbefehl gemäß § 230 Abs. 2 StPO erlassen, nachdem dieser zum Hauptverhandlungstermin vom gleichen Tage unentschuldigt nicht erschienen war.

Nach seiner Festnahme hat der Angeklagte anlässlich der Verkündung des Haftbefehls am 2.9.2005 erklärt, er sei nicht zur Hauptverhandlung gekommen, weil er den Inhalt der Ladung nicht verstanden habe. Er bekomme verschiedene Briefe, sei aber auch nicht immer zu Hause.

Mit Schriftsatz vom 8.9.2005 hat der Angeklagte beantragt, den Haftbefehl aufzuheben. Mit Beschluss vom 9.9.2005 hat das Amtsgericht diesen Antrag zurückgewiesen.

Mit Schriftsatz vom 12.9.2005 hat der Angeklagte Beschwerde gegen diesen Beschluss eingelegt, die das Landgericht Darmstadt mit Beschluss vom 22.9.2005 als unbegründet verworfen hat. Mit Schriftsatz vom gleichen Tag hat der Angeklagte dagegen weitere Beschwerde eingelegt.

In dem Hauptverhandlungstermin vom 28.9.2005 hat das Amtsgericht Darmstadt den Antrag des Angeklagten auf Aufhebung des Haftbefehls zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete Beschwerde vom 29.9.2005 hat das Landgericht Darmstadt mit dem angefochtenen Beschluss vom 6.10.2005 verworfen. Mit Schriftsatz vom 8.10.2005, der bei Gericht am 10.10.2005 eingegangen ist, hat der Angeklagte dagegen weitere Beschwerde eingelegt.

Mit Beschluss vom 13.10.2005 hat der Senat die weitere Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Darmstadt vom 22.9.2005 als unzulässig verworfen.

Im Hauptverhandlungstermin vom 14.10.2005 hat das Amtsgericht Darmstadt die Aussetzung der Verhandlung beschlossen und neuen Termin auf den 16.11.2005 bestimmt. Gleichzeitig hat es den im Termin gestellten Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls abgelehnt. Dagegen hat der Angeklagte mit Schriftsatz vom 14.10.2005 Beschwerde eingelegt. Mit Beschluss vom 21.10.2005 hat das Landgericht Darmstadt den Beschluss des Amtsgerichts Darmstadt vom 14.10.2005 aufgehoben.

Der Angeklagte beantragt mit Schriftsatz vom 24.10.2005 nunmehr, festzustellen, dass der Haftbefehl vom 18.5.2005 bzw. zumindest die Anordnung der Fortdauer der Haft vom 28.9.2005 rechtlich unbegründet war, da die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht vorlagen.

Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

Die zulässig erhobene weitere Beschwerde ist durch die Entlassung des Angeklagten aus der Haft gegenstandslos geworden. Der Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit ist auch unter Berücksichtigung der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts (NJW 1997, 2163) nicht zulässig.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG a.a.O.) hat zur Frage des Rechtsschutzes in Fällen erledigter richterlicher Durchsuchungsanordnungen ausgeführt, das aus Art. 19 Abs. 4 GG folgende Erfordernis eines effektiven Rechtschutzes gebe dem Betroffenen das Recht, in Fällen tiefgreifender, tatsächlich jedoch nicht mehr fortwirkender Grundrechtseingriffe auch dann die Berechtigung des Eingriffs gerichtlich klären zu lassen, wenn die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränke, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der Prozessordnung gegebenen Instanz kaum erlangen könne. Effektiver Grundrechtschutz gebiete es, dass der Betroffene Gelegenheit erhalte, die Berechtigung schwerwiegender - wenn auch tatsächlich nicht mehr fortwirkender - Grundrechtseingriffe gerichtlich klären zu lassen.

Die Funktionenteilung zwischen der Fach- und Verfassungsgerichtsbarkeit lasse es nicht zu, dass ein Beschwerdeführer, der von einem seiner Natur nach alsbald erledigten Eingriff schwerwiegend im Schutzbereich eines individuellen Grundrechts betroffen sei, erst und nur im Wege der Verfassungsbeschwerde effektiven Grundrechtschutz einfordern könne.

Auf der Grundlage dieser Entscheidung schließt sich der Senat der Auffassung (OLG Hamm, NJW, 1999, 229) an, dass es der Anspruch des Angeklagten auf einen effektiven Grundrechtschutz im Falle des gegenstandslos gewordenen Haftbefehls gem. § 230 StPO nicht gebietet, die Möglichkeit zu eröffnen, die Rechtsmäßigkeit des Haftbefehls nach seiner Erledigung zu überprüfen.

Im Gegensatz zu einer richterlichen Untersuchungsanordnung, die vor ihrer Erledigung wegen der allgemein nur kurzfristigen Natur einer solchen Durchsuchungsmaßnahme in aller Regel keiner weiteren rechtlichen Prüfung zugänglich ist, hat der Angeklagte im Falle seiner Festnahme aufgrund eines Haftbefehls gemäß § 230 Abs. 2 StPO bereits bei der Verkündung des Haftbefehls Gelegenheit, sich gegen die Haftanordnung zu wenden und im Falle des Vorhandenseins genügender Entschuldigungsgründe für sein Ausbleiben im Hauptverhandlungstermin seiner Inhaftierung zu entgehen (OLG Hamm a.a.O.). Ihm steht auch im weiteren Verlauf das Recht der Beschwerde sowie der weiteren Beschwerde zu, wovon der Angeklagte im vorliegenden Fall auch Gebrauch gemacht hat.

Die Gegenansicht (OLG Düsseldorf, NStZ -RR 2001, 382; OLG Celle NStZ- RR 2003, 177) vermag nicht zu überzeugen. Sie verweist auf das besondere Gewicht freiheitsentziehender Eingriffe und die in § 310 Abs. 1 StPO zum Ausdruck gekommene gesetzgeberische Wertung. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei es systemwidrig, die geforderte Gewährung effektiven Rechtschutzes in diesen Fällen dadurch einzuschränken, dass der Betroffene im Ergebnis zur Vermeidung von Rechtnachteilen verpflichtet wird, ein nicht fristgebundenes Rechtsmittel umgehend einzulegen(OLG Celle a.a.O.).

Diese Auffassung übersieht jedoch, dass Art. 19 Abs. 4 GG hinsichtlich des Zugangs und des Verfahrens nur einen Mindeststandard für das gerichtliche Verfahren garantiert (Dreier-Schulze - Fielitz, GG, Art. 19 Abs. 4, Rdnr. 60). Artikel 19 Abs. 4 GG begründet zwar einen Leistungsanspruch gegenüber dem Staat. Aus dem Leistungscharakter folgt aber auch, dass die Rechtschutzgarantie mit der Obliegenheit verknüpft ist, selbst für die Geltendmachung der aus ihr folgenden Ansprüche zu sorgen. Dem Anspruch auf Individualrechtschutz korrespondiert deshalb eine "Prozessverantwortung",die sich in Anfechtungs- und Mitwirkungslasten niederschlägt (von Mangoldt - Huber, GG, Art. 19 Abs. 4, Rdnr. 370 f). Es ist daher auch verfassungsrechtlich anerkannt, dass es gegen Treu und Glauben verstößt, wenn der Berechtigte sich verspätet auf sein Recht beruft und unter Verhältnissen untätig bleibt, unter denen vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt (BVerfG NJW 2003, 1415). Die Interessen der Rechtsuchenden an materieller Gerechtigkeit stehen typischerweise in einem Spannungsverhältnis mit den verfassungsrechtlich legitimierten Schutzgütern Rechtsicherheit und Rechtsfrieden, so dass es eines verhältnismäßigen Ausgleichs zwischen den kollidierenden Verfassungsgütern bedarf (von Mangoldt a.a.O., Rdnr. 377). Unter Beachtung dieser Grundsätze ist es nicht zu beanstanden, dass im Falle des Haftbefehls gemäß § 230 StGB die Erlangung von effektivem Rechtschutz nur dann möglich ist, wenn der Betroffene die - nicht fristgebundene- Beschwerde umgehend einlegt. Dementsprechend wird für die Anfechtung prozessual überholter Maßnahmen gefordert, die Beschwerdemöglichkeit in entsprechender Anwendung von § 311 Abs. 2 StPO im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit zeitlich auf eine Woche zu begrenzen (KK- Ruß, StPO, § 296, Rdnr. 7). Wie der dargestellte Verfahrensgang zeigt, hat der Angeklagte vorliegend durch die mehrfache Einlegung von Rechtsmitteln bereits eine umfassende Überprüfung der Rechtsmäßigkeit des Haftbefehls erreicht. Der Forderung des Bundesverfassungsgerichts, dass effektiver Grundschutz nicht erst und nur im Wege der Verfassungsbeschwerde gegeben sein dürfe, sondern bereits zuvor im Wege fachgerichtlicher Prüfung zu erfolgen habe, ist damit Genüge getan. Ein darüber hinausgehendes Rechtschutzinteresse des Angeklagten, dass den Senat noch nach der Aufhebung des Haftbefehls zu einer nachträglichen Prüfung in der Sache hätte veranlassen müssen, ist mithin nicht gegeben.

Der Senat weist jedoch darauf hin, dass der Erlass des Haftbefehls gemäß § 230 StPO hier bereits deshalb zu unterbleiben hatte, weil anzunehmen war, dass die Durchführung der Hauptverhandlung jedenfalls auch mit einer Vorführung zum Termin gesichert werden konnte. In dem Fall hat der Vorführungsbefehl als die weniger einschneidende Maßnahme den Vorrang vor dem Haftbefehl. Die Haft ist unzulässig, falls der Zweck auch durch Vorführung erreichbar ist. Haftanordnung setzt daher bei bekanntem Aufenthalt des Angeklagten in der Regel einen erfolglos gebliebenen Vorführungsbefehl voraus (Senatsbeschl. v. 5.4.1995, Az: 1 Ws 59/95). Hier hatte der Angeklagte einen festen Wohnsitz. Allein der Umstand, dass der Angeklagte arbeitslos und nicht immer zu Hause ist, rechtfertigt nicht die Annahme, dass ein Vorführungsbefehl nicht geeignet ist, die Durchführung der Hauptverhandlung zu sichern. Zudem hat der Senat bereits in seinem Beschluss vom 13.10.2005 darauf hingewiesen, dass der auf § 230 StPO gestützte Haftbefehl nur bis zum Ende der Hauptverhandlung, aber keineswegs darüber hinaus wirkt. Der Beschluss des Amtsgerichts vom 14.10.05, mit dem der Haftbefehl aufrechterhalten wurde, entbehrte daher der Grundlage.

Ende der Entscheidung

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