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Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 25.01.2006
Aktenzeichen: 1 Ws 142/05
Rechtsgebiete: StPO
Vorschriften:
StPO § 120 |
Gründe:
Die gemäß § 304 StPO zulässige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.
Der Angeklagte ist zwar der ihm im Haftbefehl des Amtsgerichts Gießen vom 10.06.2005 nunmehr nach Maßgabe des - noch nicht rechtskräftigen - Urteils des Amtsgerichts Gießen vom 30.06.2005 vorgeworfenen Straftaten des unerlaubten Führens einer halbautomatischen Kurzwaffe, des Diebstahls und des versuchten Computerbetruges dringend verdächtig. Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus den Gründen des angefochtenen Urteils. Soweit der Angeklagte gegen dieses Urteil Berufung eingelegt hat, fehlen derzeit Anhaltspunkte für eine ihm günstige Prognose auf das Endergebnis.
Auch besteht gegen den Angeklagten weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).
Die nicht rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 4 Monaten bietet unter Berücksichtigung der Anrechnung der bisher erlittenen, anrechenbaren Untersuchungshaft zwar keinen sehr hohen, jedoch einen nicht unerheblichen Fluchtanreiz. Der Anreiz, sich dem weiteren Fortgang des Strafverfahrens einschließlich der weiteren Strafvollstreckung nicht zur Verfügung zu halten, wird zudem noch dadurch verstärkt, daß gegen den Angeklagten ein weiteres Ermittlungsverfahren ( 303 Js 26135/05) anhängig ist. Eine Haftentlassung zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt - eine Entscheidung hierüber stünde erst im Februar 2006 an - erscheint in Ansehung dieses weiteren Ermittlungsverfahrens eher fraglich.
Es bestehen auch keine ausreichenden Bindungen, die geeignet wären, dem Fluchtanreiz entgegenzuwirken. Der Angeklagte hat im Bundesgebiet keinen festen Wohnsitz. Vor seiner Festnahme übernachtete er in einem Pkw und er versuchte, sich der Festnahme durch Flucht zu entziehen. Von seiner Ehefrau lebt der Angeklagte getrennt und ist möglicherweise bereits in O1 geschieden. Dort hielt er sich vor seiner Festnahme auch häufig auf, weil seine Kinder bei der Mutter lebten und er zudem in Deutschland erworbene gebrauchte Fahrzeuge in O1 weiterverkaufte. Gesicherte Erkenntnisse, daß sich seine Kinder zwischenzeitlich dauerhaft in Deutschland aufhalten, liegen nicht vor. Der Umstand, daß ein Herr A sich bereit erklärt hat, den Angeklagten als Untermieter aufzunehmen stellt ebensowenig ein zuverlässiges Fluchthemmnis dar, wie die Tatsache, daß ihm die Firma B, einen Vorstellungstermin angeboten und der Angeklagte möglicherweise eine Arbeitsstelle in Aussicht hat.
Bei dieser Sachlage kann der Zweck der Untersuchungshaft auch nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen gemäß § 116 StPO erreicht werden.
Gleichwohl sind die angefochtene Haftfortdauerentscheidung und der Haftbefehl nunmehr wegen Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch einen nicht vertretbaren Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot aufzuheben.
Die grundsätzliche Geltung des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen auch nach Erlaß eines erstinstanzlichen Urteils im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gemäß § 120 StPO mit der Folge, daß ein erheblicher Verstoß dagegen der Fortdauer der Untersuchungshaft entgegenstehen kann, steht außer Streit (vgl. Meyer-Goßner, 48. Aufl., § 121 Rndr. 8 m.w.N.; OLG Frankfurt am Main, Beschluß vom 11.10.2005 - 1 Ws 114/05; Beschluß vom 29.01.1996 - 1 Ws 13/96 und Beschluß vom 22.04.1996 - 1 Ws 41/96; OLG Hamm, Beschluß vom 02.11.1979, Az: 1 Ws 315/79; OLG Düsseldorf, StV 1996, 552-553 und NStZ-RR 2000, 250-251). Dabei ist indessen nicht derselbe strenge Prüfungsmaßstab wie vor Erlaß eines erstinstanzlichen Urteils bei der Prüfung eines "wichtigen Grundes" im Sinne des § 121 StPO anzulegen. Diese Regelung gilt vielmehr ausdrücklicher Normierung nach nur bis zum Erlaß des erstinstanzlichen Urteils. Für den Zeitraum danach verbleibt es bei der Geltung des § 120 StPO und somit der umfassenden Abwägung aller auch sonst für die Verhältnismäßigkeit maßgeblichen Gesichtspunkte. Gegeneinander abzuwägen sind danach auch das Gewicht der Straftat(en) und die Höhe der zu erwartenden Strafe gegenüber dem Ausmaß der Verfahrensverzögerung und dem Grad des die Justiz hieran treffenden Verschuldens (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Beschluß vom 11.10.2005 - 1 Ws 114/05; Beschluß vom 29.01.1996 - 1 Ws 13/96 und Beschluß vom 22.04.1996 - 1 Ws 41/96; OLG Hamm, Beschluß vom 02.11.1979, Az: 1 Ws 315/79; OLG Düsseldorf, StV 1996, 552-553 und NStZ-RR 2000, 250-251). Dabei vergrößert sich mit einer Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung der Straftaten durch den Angeklagten als erwiesen angesehen worden ist. Daß das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Einlegung des Rechtsmittels hindert lediglich die Vollstreckung der Strafe bis zur Überprüfung durch das nächsthöhere Gericht, beseitigt aber nicht die Existenz des angegriffenen Urteils und damit den Umstand, daß auf der Grundlage eines gerichtlichen Verfahrens ein Schuldnachweis gelungen ist (vgl. BVerfG, Beschluß vom 22.02.2005 - 2 BvR 109/05 - und Beschluß vom 29.12.2005 - 2 BvR 2057/05 - ). Dieser Grundsatz rechtfertigt es jedoch nicht, daß der Verurteilte jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Vollverbüßung der ausgesprochenen Strafe in Untersuchungshaft gehalten werden kann. Die verhängte Freiheitsstrafe stellt grundsätzlich nur ein Indiz für das Gewicht der zu verfolgenden Straftat(en) dar (vgl. BVerfG, Beschluß vom 29.12.2005).
Die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zwingt die Strafverfolgungsbehörenden und Gerichte regelmäßig, dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu berücksichtigen, wobei im Rahmen der Abwägung zu beachten ist, daß sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Untersuchungsgefangenen gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft verstärkt (ständige Rechtsprechung des BVerfG, vgl. zuletzt Beschluß vom 29.12.2005).
Bei Beachtung dieser Grundsätze verstößt die Fortdauer der Untersuchungshaft nach den Umständen des vorliegenden Falls gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Der Angeklagte befindet sich seit dem 22.03.2005 - zunächst aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Gießen vom 22.04.2004, seit dem 10.06.2005 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Gießen vom gleichen Tag, mit dem der vorgenannte Haftbefehl aufgehoben wurde - in Untersuchungshaft und wurde durch das Amtsgericht Gießen am 30.06.2005 wegen unerlaubten Führens einer halbautomatischen Kurzwaffe, wegen Diebstahls und wegen versuchten Computerbetruges zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr 4 Monaten verurteilt. Das Urteil gelangte am 13.07.2005 zur Geschäftsstelle. Mit Verfügung vom gleichen Tag wurde die Akte in Ansehung der am 06.07.2005 durch die Verteidigerin eingelegte Berufung gemäß § 320 StPO an die Staatsanwaltschaft versandt, wo sie am 14.07.2005 einging. Mit Verfügung vom 15.07.2005 sandte die Staatsanwaltschaft die Akten mit dem Antrag, zur Hauptverhandlung mit Ausnahme der Brüder C die gleichen Zeugen wie in der ersten Instanz zu laden, an das Landgericht Gießen. Dort gingen die Akten am 18.07.2005 ein. Ein Termin zur Hauptverhandlung wurde erst mit Verfügung vom 28.10.2005 auf den 26.01.2006 bestimmt.
Verfahrensfördernde Maßnahmen sind vom Eingang der Akte am 18.07.2005 bis zur Terminsbestimmung am 28.10.2005 nicht zu verzeichnen.
Außer Ansatz zu bleiben hat dabei, daß die Akten nach Eingang des Antrages des Angeklagten vom 26.08.2005 auf Aushändigung seines Passes an die Staatsanwaltschaft zur Stellungnahme übersandt wurden, die sie am 01.09.2005 mit einer Stellungnahme zurücksandte, denn dies stellt keine Verfahrensförderung dar. Ebensowenig ist eine verfahrensfördernde Maßnahme in dem Umstand zu sehen, daß die Akten am 15.09.2005 an die Staatsanwaltschaft versandt wurden mit der Bitte um Mitteilung, warum die Zeugen C nicht mehr geladen werden sollen, von wo aus sie am 19.09.2005 mit dem Hinweis, daß der Angeklagte bezüglich der Taten, zu welchen die Zeugen C in 1. Instanz ausgesagt haben, freigesprochen wurde, zurückgesandt wurden. Eine Sachstandsanfrage der Staatsanwaltschaft vom 12.09.2005 wurde durch die Mitteilung des Vorsitzenden der 3. kleinen Strafkammer vom 21.09.2005 dahingehend beantwortet, daß die Sache "demnächst" terminiert werde. Als Wiedervorlagefrist wurde der 01.12.2005 notiert mit dem Vermerk "Termin".
Am 29.09.2005 wurde das Akteneinsichtsgesuch eines Versicherers beschieden; als Wiedervorlagefrist wurde erneut der 01.12.2005 bestimmt. Nach Rücksendung der Akten am 11.10.2005 verfügte der Vorsitzende Richter erneut: "Wv: 01.12.2005 - Termin". Auf die am 12.10.2005 eingegangene Anfrage der Verteidigerin vom 11.10.2005 teilte der Vorsitzende mit Verfügung vom 14.10.2005 mit, daß die Sache demnächst terminiert werde; die Kammer sei überdurchschnittlich belastet. Als Wiedervorlagefrist wurde erneut der 01.12.2005 bestimmt. Am 18.10.2005 meldete sich Rechtsanwalt RA2 als weiterer Verteidiger des Angeklagten und bat um Akteneinsicht, die ihm mit Verfügung vom 20.10.2005 bewilligt wurde. Am 27.10.2005 gelangten die Akten zurück. Mit Verfügung vom 28.10.2005 bestimmte der Vorsitzende der 3. kleinen Strafkammer dann Termin zur Hauptverhandlung auf den 26.01.2006.
Auf Nachfrage des Senats vom 14.12.2005, warum die Sache nicht zu einem früheren Zeitpunkt terminiert wurde, teilte der Vorsitzende der 3. kleinen Strafkammer mit Schreiben vom 16.12.2005, eingegangen am 23.12.2005, folgendes mit:
"In obiger Sache wird mitgeteilt, dass zum 01.09.2005 ein Wechsel des Vorsitzenden im Dezernat erfolgte. Im übrigen war die Sache bereits auf den 22.12.2005 terminiert, mußte aber wegen Verhinderung einer der beiden Verteidiger verlegt werden. Anschließend wird darauf hingewiesen, dass das Dezernat mit 160 % belastet ist. Eine frühere Terminierung war nicht möglich."
Auf Nachfrage des Senats vom 27.12.2005, wann die Sache auf den 22.12.2005 terminiert wurde - unter Hinweis darauf, daß sich eine frühere Terminierung der Akte nicht entnehmen lasse -, zu welchem Zeitpunkt eine Überlastung eingetreten und gegebenenfalls angezeigt worden ist und ob diese als nur vorübergehend oder als dauerhaft anzusehen ist, erklärte der Vorsitzende der 3. kleinen Strafkammer mit Schreiben vom 05.01.2006 folgendes:
"In obiger Sache ist die Belastung mit der Übernahme des Dezernats zum 01.10.1005 durch mich und auch schon davor eingetreten. Dem Präsidium des LG ist dies bekannt. Ich kann hier nicht mehr feststellen, wann eine Terminierung auf den 22.12.2005 erfolgte. Eine Beantwortung Ihrer Anfrage konnte erst heute erfolgen, da ich in Urlaub war."
Auf Ersuchen des Senats vom 09.01.2006 um ergänzende dienstliche Stellungnahme teilte der Vorsitzende der 3. kleinen Strafkammer mit Telefaxschreiben vom 10.01.2006 mit:
"Wie mir aus den Zahlen des Präsidiums bekannt ist, beträgt die Belastung meines Dezernats dauerhaft 160 %. Dies ist dem Präsidium des Landgerichts Gießen bekannt. Gerichtsorganisatorische Maßnahmen konnten aus Personalmangel bisher nicht ergriffen werden. In der Zeit vom 15. September bis Dezember 2005 wurden von mir jeweils montags und donnerstags jeweils durchschnittlich zwei, an manchen Tagen auch drei Sachen verhandelt. Darunter befanden sich auch Haftsachen, allerdings nach meiner Erinnerung maximal 5. Der Termin am 22.12.2005 wurde durch mich bestimmt. Aus dem hier geführten Kalender ergibt sich nicht, wann dies erfolgte."
Die bis zum 01.09.2005 für das Dezernat zuständige Dezernentin, Vorsitzende Richterin am Landgericht D, nahm mit Telexschreiben vom 12.01.2006 wie folgt Stellung:
"Nach meinen Aufzeichnungen (Ref.Buch + Terminkalender) konnte ich feststellen, dass die Sache "..." - 3 Ns 305 Js 9127/04 - am 18.07.2005 beim Landgericht einging. Am 12.07.2005 und am 25.07.2005 gingen meiner Liste nach weitere Haftsachen ein ( 3 Ns 503 Js 25848/04 + 3 Ns 503 Js 4129/05), neben 14 Berufungen gegen Urteile des Strafrichters und 3 weiteren Berufungen gegen Urteile des Schöffengerichts. Am 14. + 20., evtl. auch am 22.07.2005 verhandelte ich in einer umfangreichen Haftsache (Vergewaltigung, 2 Täter, mehrjährige Freiheitsstrafen), die sich erst kurz vor der Hauptverhandlung insofern vereinfachte, als einer der Täter ein Geständnis ablegen wollte, und dies dann auch geschah. Danach hatte ich eine ganze Woche Urlaub, der seit längerem geplant war - jedenfalls lange vor dem Eingang der Haftsache im Juli 2005. Am 04.08.2005 waren in der Jugendkammer, die ich ab Mitte Juli 2005 zusätzlich übernommen hatte, 2 Sachen terminiert. Einmal war es eine sog. Strafmaßberufung, die mit Urteil endete. Zum anderen eine um 10:30 Uhr beginnende Hauptverhandlung mit 6 Zeugen - gefährlichen Körperverletzung, für die Fortsetzung auf Dienstag, den 09.08.2005 vorgesehen war, was sich wegen der Rücknahme der Berufung erledigte. Am 04.08.2005 hatte ich in der Jugendkammer eine erstinstanzliche Haftsache zu verhandeln (JK Kls 503 Js 21227/03). Am 08.08.2005 wurde eine Strafsache E verhandelt, bei der unvorhergesehen der Angeklagte nicht erschien. Auf den 10.08.2005 wurden 3 Berufungssachen terminiert ( 9.00 Uhr: F- Besitz von BtM in der Haftanstalt - Verschubung des Angeklagten aus O2 - 502 Js 5301/05 - wegen der Inhaftierung eilbedürftig; Eingang 21.06.2005; 10.30 Uhr: G,5 Zeugen, 1 Sachverständiger, 1 Verteidiger; 14.00 Uhr: H, hier mußte die Hauptverhandlung am 22.08.2005, vermutlich wegen der Vernehmung weiterer Zeugen, fortgesetzt werden).
Am 11.08.2005 wurde eine Sache K verhandelt, die eilbedürftig war, weil der Angeklagte in anderer Sache inhaftiert war und eine Freilassung vor dem Termin vermeiden werden sollte. Vom 15.-19.08.2005 wurden keine Termine durchgeführt. Am 22.08.2005 fand, wie bereits erwähnt, die Fortsetzung der Sache H statt und am 24.08.2005 die Strafsache L. Eine auf 9.00 Uhr terminierte Sache mußte kurzfristig aufgehoben werden. Dass von Mitte August bis zum 01.09.2005 nur noch wenige Termine durchgeführt wurden, lag daran, dass angemessene Zeit zur Vorbereitung nicht vorhanden war und nicht abgesehen werden konnte, wann die 3. kleine Strafkammer mit einem neuen Vorsitzenden besetzt werden würde. Die weitere Überschneidung von JK Sachen mit 3 Ns Sachen erschien untunlich und zudem wegen der gleichen Sitzungstage (montags und donnerstags, bzw. ausnahmsweise einmal im Monat auch mittwochs in der 3. kleinen Strafkammer) teilweise unmöglich. Wegen der Befassung mit 2 Haftsachen im Juli und Anfang August 2005 (neben zahlreichen anderen Terminen) fehlte es im übrigen ohnehin auch an der notwendigen Vorbereitungszeit. Die Zeit von Mitte August bis 01.09.2005 wurde allerdings genutzt, um weitere Sachen zu fördern, so u.a. die beiden anderen im Juli eingegangenen Haftsachen, die auf den 26.09.2005 und den 31.10.2005 terminiert wurden und nach Auskunft der Geschäftsstelle auch erledigte werden konnten. Nach meinen Aufzeichnungen im Terminkalender wurden für den Dezernatsnachfolger ab ca. Mitte September 2005 zahlreiche Sachen terminiert. Weshalb die Haftsache "..." in dieser Zeit nicht auch terminiert wurde, kann ich aus meinen Aufzeichnungen nicht ersehen. Eine konkrete Erinnerung an diese Sache habe ich nur, weil offenbar ein Pass ausgehändigt werden sollte, was ich noch erledigte oder jedenfalls veranlasste, dass dies erledigt wird. Am 01.09.2005 wurde das Dezernat von Herrn Vors. Richter M übernommen, der allerdings zunächst 2 Wochen im Urlaub war."
Nachdem dem Vorsitzenden der 3. kleinen Strafkammer mit Schreiben vom 11.01.2006 das Schreiben der Verteidigerin RA1 vom 09.01.2005 mit dem Hinweis, daß auch Rechtsanwalt RA2 auf telefonische Nachfrage erklärt habe, ihm sei keine Ladung auf den 22.12.2005 zugegangen, und mit der Bitte um ergänzende Stellungnahme übermittelt worden war, nahm er mit Telefaxschreiben vom 12.01.2006 wie folgt Stellung:
"Nach meiner Erinnerung wurde der Termin am 22.12.2005 aufgehoben, da Rechtsanwalt RA2 mitteilte, er sei zu diesem Zeitpunkt verhindert. Dies müßte sich aus den Ihnen vorliegenden Akten ergeben."
Mit Telefaxschreiben vom 23.01.2006 erklärte der Vorsitzende der 3. kleinen Strafkammer schließlich folgendes:
"Nach Rückkehr und Einsichtnahme in die Akten nehme ich abschließend wie folgt Stellung: Am 28.10.2005 habe ich versucht, die Sache auf den 22.12.2005 zu terminieren. Da ich die Sache auch bereits in meinem eigenen Verhandlungskalender eingetragen hatte, bin ich bisher ohne Aktenkenntnis davon ausgegangen, ich hätte bereits terminiert. Eine telefonische Rücksprache mit dem Büro von Rechtsanwalt RA2 am 28.10.2005 ergab, daß er an diesem Tag verhindert sei. Deshalb habe ich dann nach Absprache mit dem Büro RA2 auf den 26.01.2006 terminiert. Leider habe ich dies nicht aktenkundig gemacht."
Eine genaue Darlegung, welche Sachen in der Zeit von September bis Dezember 2005 an welchen Tagen verhandelt wurden und welche dieser Sachen Haftsachen waren, ist trotz wiederholter Nachfrage des Senats durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht M nicht erfolgt.
Nach dem Akteninhalt und dem Inhalt der vorstehenden Erklärungen ist festzuhalten, daß nach Eingang der Akte beim Landgericht am 18.07.2005 bis zum 28.10.2005 keine Befassung mit der Sache stattgefunden hat. Dies wird insbesondere auch durch die oben dargestellten - wiederholt bestimmten - Wiedervorlagefristen vom 21.09., 29.09., 11.10. und 14.10.2005 jeweils auf den 01.12.2005 dokumentiert. In seiner letzten Stellungnahme vom 23.01.2006 hat der Vorsitzende der 3. kleinen Strafkammer zudem klargestellt, daß vor dem 28.10.2005 keine Terminierung erfolgt ist, sondern erst am 28.10.2005 versucht wurde, eine Terminierung in Absprache mit den Verteidigern herbeizuführen.
Für die Nichtbefassung mit der Sache bis zum 28.10.2005 mit der Folge der Durchführung der Hauptverhandlung erst über 6 Monate nach Eingang der Akten beim Berufungsgericht liegt kein sachlicher Grund vor. Sie stellt einen nicht vertretbaren Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot dar. Mit der Bearbeitung der Sache hätte zeitnah nach Eingang der Akte beim Landgericht am 18.07.2005 begonnen und umgehend Termin zur Hauptverhandlung auf einen zeitnahen Termin bestimmt werden müssen.
Daß einer zeitnahen Befassung mit der Sache eine nur kurzfristige, unvorhersehbare und unvermeidbare Überlastung wegen der Bearbeitung anderer Haftsachen entgegenstand, die unter Umständen eine Verzögerung hätte rechtfertigen können, ergibt sich weder aus der Stellungnahme der Vorsitzenden Richterin am Landgericht D, noch aus den Erklärungen des Vorsitzenden Richters am Landgericht M. Letzterer beruft sich ausdrücklich auf eine dauerhafte Überlastung. Sofern die Erklärung der Vorsitzenden Richterin am Landgericht D in ihrer Stellungnahme vom 12.01.2006, am 12.07. und am 25.07.2005 seien weitere Haftsachen eingegangen, am 14. und 20. und eventuell auch am 22.07.2005 habe sie in einer umfangreichen Haftsache verhandelt, zu entnehmen sein könnte, daß sie sich auf eine kurzfristige Überlastung mit Haftsachen berufen will, hätte diese sich im vorliegenden Verfahren jedenfalls nicht ausgewirkt.
Der Senat entnimmt sowohl den - weiteren - Ausführungen der Vorsitzenden Richterin am Landgericht D vom 12.01.2006 als auch der Stellungnahme des Vorsitzenden Richters am Landgericht M vom 10.01.2006, daß der Grundsatz der vorrangigen Behandlung von Haftsachen gegenüber Nichthaftsachen nicht beachtet wurde. Der verfassungsrechtlich verankerte Beschleunigungsgrundsatz verlangt, daß die Strafgerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um das Verfahren mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen. Er gebietet es, notfalls auch bereits terminierte Nichthaftsachen zugunsten von Haftsachen zurückzustellen ( vgl. BVerfG, Beschluß vom 05.12.2005 - 2 BvR 1964/05 - ). Dies ist ersichtlich nicht geschehen.
Nach dem weiteren Inhalt der Stellungnahme der Vorsitzenden Richterin am Landgericht D vom 12.01.2006 wurden am 08.08. und auch am 10.08.2005 ( um 10.30 Uhr und um 14.00 Uhr) Nichthaftsachen verhandelt, in der Zeit von Mitte August bis 01.09.2005 wurden weitere Sachen ( also auch Nichthaftsachen ) gefördert. Danach wurde der Grundsatz der vorrangigen Behandlung von Haftsachen gegenüber Nichthaftsachen nicht beachtet. Im fraglichen Zeitraum hätte die Befassung mit der vorliegenden Haftsache erfolgen können und müssen, um die Erledigung in angemessener Zeit zu gewährleisten.
Der Vorsitzende Richter am Landgericht M hat - wie dargelegt - trotz wiederholter Nachfrage nicht dargetan, an welchen Tagen Haftsachen und an welchen Tagen Nichthaftsachen terminiert waren. Er hat damit dem Senat die ihm obliegende Überprüfung, zu welchem Zeitpunkt nach Übernahme des Dezernats erstmals eine Nichthaftsache zugunsten der vorliegenden Haftsache zurückzustellen gewesen wäre, nicht ermöglicht. Seine Stellungnahme von 10.01.2006 kann aber nur so aufgefaßt werden, daß er in vorliegender Sache untätig blieb, obwohl er in der Zeit vom 15. September bis Dezember 2005 ganz überwiegend - bis auf 5 Haftsachen - "nur" mit Nichthaftsachen befaßt war.
Diese Verfahrensweise stellt einen gravierenden Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot dar. An den zügigen Fortgang eines Verfahrens sind um so strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert ( vgl. BVerfG, Beschluß vom 05.12.2005 - 2 BvR 1964/05 - ). Mitte/Ende September dauerte die Untersuchungshaft schon 6 Monate. Dennoch erfolgte eine erstmalige Befassung mit der Sache - - wie die oben dargestellten Wiedervorlagefristen dokumentieren - erst am 28.10.2005.
Soweit sich aus den weiteren Erklärungen der Vorsitzenden Richterin am Landgericht D und den Erklärungen des Vorsitzenden Richters am Landgericht M ergibt, daß der Befassung mit der Sache eine dauerhafte Überlastung der 3. kleinen Strafkammer entgegengestanden haben könnte, würde dessen Vorliegen die Verzögerung nicht rechtfertigen. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verpflichtet nicht nur die mit Haftsachen unmittelbar befaßten Spruchkörper der Gerichte. Es verlangt vielmehr rechtzeitige Maßnahmen auf gerichtsorganisatorischem Gebiet, um eine ordnungsgemäße Bewältigung des Geschäftsanfalls in Haftsachen sicherzustellen und Verfahrensverzögerungen zu vermeiden (vgl. BVerfG, Beschluß vom 29.11.2005 - 2 BvR 1737/05 - und Beschluß vom 05.12.2005 - 2 BvR 1964/05 - ). Um derartige Maßnahmen ist nach dem Inhalt der dargestellten Erklärungen nicht nachgesucht worden. Sollten diese tatsächlich -wie der Vorsitzende Richter am Landgericht M in seiner Stellungnahme vom 10.01.2006 erklärt - im Hinblick auf den Personalmangel unterblieben sein, fällt die Überlastung in den Verantwortungsbereich des Staates, dessen Aufgabe es ist, im Rahmen des Zumutbaren alle Maßnahmen zu treffen, die geeignet und nötig sind, einer Überlastung der Gerichte vorzubeugen und ihr dort, wo sie eintritt rechtzeitig abzuhelfen (so BVerfG, Beschluß vom 29.11.2005 - 2 BvR 1737/05 - ).
Die Nichtbefassung mit der Sache vor dem 28.10.2005 hat dazu geführt, daß der Hauptverhandlungstermin nunmehr erst am 26.01.2006, d.h. über 6 Monate nach Eingang der Akten beim Berufungsgericht stattfindet. Soweit am 28.10.2005 eine Terminierung auf den 22.12.2005 avisiert war, diese jedoch wegen Verhinderung des Verteidigers RA2 an diesem Tag scheiterte und deshalb auf den 26.01.2006 terminiert wurde, ist diese Verzögerung ebenfalls dem Gericht anzulasten. Denn bei einer früheren Befassung mit der Sache hätte eine Terminierung bzw. eine Terminsabsprache mit den Verteidigern schon zu einem früheren Zeitpunkt stattfinden können, so daß auch diese weitere Verzögerung hätte vermieden werden können.
Die erhebliche Verfahrensverzögerung führt bei Berücksichtung des nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ( vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 22.02.2005 - 2 BvR 109/05 -, 29.11.2005 - 2 BvR 1737/05 - , 05.12.2005 - 2 BvR 1964/05 - und 29.12.2005 - 2 BvR 2057/05 - ) anzulegenden schärfen Maßstabes an die Beschleunigung zur Aufhebung des Haftbefehls.
Wegen des Verschlechterungsverbots ( § 331 StPO) ist die Straferwartung höchstens 1 Jahr 4 Monate. Der Angeklagte wird im Februar 2006 davon 2/3 verbüßt haben. Der Durchführung der Berufungshauptverhandlung steht die Freilassung des Angeklagten nicht entgegen. Nach dem Akteninhalt ist davon auszugehen, daß er zum Termin geladen worden ist, so daß die Berufung im Falle seines Nichterscheinens verworfen werden kann. In Ansehung des nicht besonders gravierenden Gewichts der abgeurteilten Taten, der Höhe der Strafe und der bisher verbüßten Untersuchungshaft sowie des Ausmaßes der Verfahrensverzögerung und des Grades des die Justiz hieran treffenden Verschuldens verliert die nicht zu billigende Verfahrensverzögerung, die das Recht des Angeklagten auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren verletzt, auch nicht wesentlich an Gewicht. Die vorzunehmende Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem staatlichen Strafverfolgungsanspruch führt dazu, daß die Fortdauer der Untersuchungshaft als nicht mehr verhältnismäßig anzusehen ist.
Ende der Entscheidung
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