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Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 09.04.2008
Aktenzeichen: 1 Ws 44/08
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 112 a Abs. 1 Nr. 2
Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr i. S. d. § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO setzt voraus, dass die Taten, deren wiederholter oder fortgesetzter Begehung der Beschuldigte zur Erfüllung der Voraussetzungen der Vorschrift dringend verdächtig sein muss, Gegenstand desselben Ermittlungsverfahrens sein müssen. Auf eine einschlägige rechtskräftige Vorverurteilung darf in diesem Zusammenhang nicht zurückgegriffen werden.
Gründe:

Die weitere Beschwerde des Angeklagten ist zulässig (§ 310 StPO) und begründet. Der Angeklagte ist der ihm in dem Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 8.1.2008 (Az.: 6330 Js 201297/08 - 954 Gs) in der Fassung des Beschlusses vom 20.3.2008 vorgeworfenen Straftaten nunmehr nach Maßgabe seiner - nicht rechtskräftigen - Verurteilung durch das Amtsgericht Frankfurt am Main vom 6.3.2008 wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung sowie Bedrohung in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Jugendstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten dringend verdächtig. Der dringende Tatverdacht gründet sich auf die Feststellungen und die Beweiswürdigung im Urteil, insbesondere die danach in der Hauptverhandlung abgegebene geständige Einlassung des Angeklagten.

Die gesetzlichen Voraussetzungen des einzig herangezogenen Haftgrunds der Wiederholungsgefahr nach § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO liegen nicht vor.

Entgegen der Auffassung des Landgerichts in dem angefochtenen Beschluss besteht der Haftgrund der Wiederholungsgefahr nach § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht. Der Beschuldigte ist nicht der wiederholten Begehung einer Anlasstat dringend verdächtig. Von den Katalogtaten der Norm ist Gegenstand des vorliegenden Ermittlungsverfahrens lediglich eine gefährliche Körperverletzung. Die rechtskräftige Verurteilung des Angeklagten durch das Amtsgericht Frankfurt am Main vom 8.11.2007 wegen gefährlicher Körperverletzung ist als Anlasstat i.S.d. § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht zu berücksichtigen. Der Senat hält nach erneuter Überprüfung an seiner in ständiger Rechtsprechung vertretenen Ansicht fest, dass die Taten, deren wiederholter oder fortgesetzter Begehung der Beschuldigte zur Erfüllung der Voraussetzungen der Vorschrift dringend verdächtig sein muss, Gegenstand desselben Ermittlungsverfahren sein müssen (vgl. Senatsentscheidung vom 18.11.1983, 1 Ws 310/83, StV 84, 159). Die abweichende Meinung (OLG Hamburg, NJW 1980, 2367; OLG Hamm MDR 1983, 956; StV 1997, 310; OLG Karlsruhe NStZ - RR 2006, 210; OLG Schleswig NStZ 2002, 276; OLG Stuttgart NStZ 1988, 326), nach der als Anlasstat nach dem Gesetzeszweck, der den Schutz der Allgemeinheit bezwecke, auch bereits erfolgte rechtskräftige Verurteilungen des Beschuldigten zu berücksichtigen sind, überzeugt nicht. Sie widerspricht dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift. § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO erfordert, dass der Beschuldigte dringend verdächtig ist, wiederholt oder fortgesetzt die Anlasstaten des § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO begangen zu haben. Der Beschuldigte einer bereits rechtskräftig abgeurteilten Tat ist aber nicht mehr "dringend verdächtig", die Tat begangen zu haben, seine Täterschaft ist vielmehr bereits rechtskräftig festgestellt, er ist der Tat schuldig Die oben dargestellte abweichende Auffassung vermischt in unzulässiger Weise zwei Voraussetzungen der Wiederholungsgefahr miteinander, nämlich den dringenden Tatverdacht der Anlasstaten und die bestimmten Tatsachen, welche die Wiederholungsgefahr begründen. Das Gesetz verlangt beides nebeneinander, die Anlasstaten und die bestimmten Tatsachen, welche die Wiederholungsgefahr begründen, zu denen regelmäßig die Vorverurteilungen gehören. Zur Begründung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO können die Vorverurteilungen jedoch nicht herangezogen werden. Dafür spricht auch der gesetzestechnische Aufbau. Wäre es der Wille des Gesetzgebers gewesen, schon eine einzelne Tat als Anlasstat ausreichen zu lassen, wäre es nicht erforderlich gewesen, zwischen den beiden Fallgruppen des § 112 a StPO schon bezüglich der Anlasstat zu differenzieren, d.h. bei Sexualstraftaten (Nr. 1) eine, bei den übrigen Delikten (Nr. 2) hingegen eine wiederholte oder fortgesetzte Tat zu fordern. Vielmehr hätte es genügt, die im Hinblick auf das unterschiedliche Gewicht beider Fallgruppen gebotene Differenzierung im Bereich der übrigen Voraussetzungen vorzunehmen. Die Auffassung des Senats entspricht auch dem in den Gesetzesmotiven zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers. Dort (BT Drucksache VI/2558 Begründung) ist wie folgt ausgeführt: "Notwendige Voraussetzung der Anordnung......ist, dass der Täter zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits drei Verbrechen oder vorsätzliche Vergehen begangen hat. Nach einmaliger rechtskräftiger Verurteilung muss ein weiteres Verbrechen oder Vergehen wiederholt, d.h. mindestens zweimal, begangen worden sein". Zudem hat der Gesetzgeber in Kenntnis der in der Rechtsprechung kontroversen Auslegung des § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO es bei den Änderungen der Norm durch Art. 2 des 33. Str-ÄndG v. 1.7.1997, Art. 3 des 6. StrG v. 26.1.1998 und zuletzt Art. 2 des 40. StrG v. 22.3.2007 bei dem ursprünglichen Wortlaut belassen und nicht etwa eine der abweichenden Meinung entsprechende Regelung der Norm formuliert. Auch der nach § 112 a StPO gestattete Eingriff in das Grundrecht der persönlichen Freiheit zum Schutze der Allgemeinheit, also zu Präventivzwecken, gebietet eine restriktive Auslegung der Norm, die einer Ausdehnung des Anwendungsbereiches des § 112 a StPO über seinen Wortlaut hinaus entgegensteht (vgl. SK-Paeffgen, StPO, § 112 a Rz 11 ).

Das zur Begründung der Gegenmeinung bemühte Bedürfnis des Schutzes der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten rechtfertigt keine Ausweitung des restriktiv auszulegenden Haftgrundes dem Wortlaut und dem Willen des Gesetzgebers entgegen, dem es unbenommen gewesen wäre, die Formulierung der Nr. 2 der der Nr. 1 anzugleichen.

Dessen ungeachtet wären die Voraussetzungen der genannten Vorschrift auch dann nicht erfüllt, wenn die rechtskräftige Verurteilung des Angeklagten als Anlasstat berücksichtigt werden könnte. § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO setzt nämlich die wiederholte oder fortgesetzte Begehung einer die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigenden Straftat nach den dort genannten Strafvorschriften voraus. Art und Ausmaß des Schadens müssen erheblich (BVerfGE 35, 185, 192) sowie die Taten im Unrechtsgehalt und im Schweregrad überdurchschnittlich sein (Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl., § 112 a Randziffer 9 m.w.N.). Da die in § 112 a Abs. 1 Nr. 2 StPO aufgezählten Katalogtaten ohnehin schwerwiegender Natur sind, folgt daraus, dass nur Taten überdurchschnittlichen Schweregrades und Unrechtgehaltes bzw. solche, die mindestens in der oberen Hälfte der mittelschweren Straftaten liegen, als Anlasstaten in Betracht kommen können (OLG Frankfurt am Main, StV 2000, 209 ff.; OLG Karlsruhe wistra 2002, 79 ff.). Bei gefährlicher Körperverletzung nach § 224 StGB als Anlasstat ist maßgeblich auf den Unrechtsgehalt der Tat abzustellen und danach zu fragen, ob diese in ihrer konkreten Ausgestaltung die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigt hat (vgl. BVerfGE 35, 185 ff.; LR-Hilger, StPO, 25. Aufl., § 112 a Randziffer 26 ff.). Dabei ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Schuldschwere auf das verhängte oder mutmaßlich zu erwartende Strafmaß abzustellen, sondern auch die Opferperspektive zu berücksichtigen. Es kommt also auch darauf an, aus welchem Grund es zu der Tätlichkeit gekommen ist und welche Folgen diese für das Opfer zeigte (OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2006, 210). Es kann dahinstehen, ob die vorliegende Tat nach obigen Grundsätzen eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat darstellt. Bei der der Vorverurteilung vom 8.11.2007 zugrundeliegenden Tat ist dies jedenfalls nicht der Fall. Gegenstand der Verurteilung vom 8.11.2007 war ein Vorfall vom 9.7.2007, bei dem der Angeklagte nach dem Konsum von Wodka einem Jugendlichen Pfefferspray ins Gesicht sprühte, nachdem zuvor bereits ein Begleiter des Angeklagten den Geschädigten mit Pfefferspray besprüht hatte. Der Geschädigte erlitt durch den Einsatz des Pfeffersprays erhebliche Augenreizungen und Atemnot.

Danach kann die Tat vom 9.7.2007 ihrem konkreten Erscheinungsbild und Unrechtsgehalt sowie ihren Auswirkungen nach nicht als im Schweregrad überdurchschnittliche gefährliche Körperverletzung eingestuft werden.

Die Vortat lässt auch die weiter erforderliche Prognose, der Angeklagte werde vor rechtskräftiger Aburteilung der Tat weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen, die sich auf eine hohe Wahrscheinlichkeit stützen muss (SK-Paeffgen a.a.O. Rz 16) nicht zu. Angesichts des Umstandes, dass dem zu den Tatzeiten 17 Jahre alten Angeklagten bisher insgesamt lediglich 2 Taten der gefährlichen Körperverletzung, begangen unter dem Einfluss gruppendynamischer Zwänge im zeitlichen Abstand von rund 5 Monaten anzulasten sind, kann weder von schneller Tatfrequenz, noch von einer Tatbegehung in großer Serie die Rede sein. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Verbüßung der Untersuchungshaft den Angeklagten, dem erstmals die Freiheit entzogen ist, nachhaltig beeindruckt haben dürfte.

Zweifelhaft erscheint auch, ob für die hier abgeurteilte Tat eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten ist, wie dies § 112 a Abs. 1 StPO für die Katalogtaten der Nummer 2 erfordert. Das Amtsgericht hat zwar in dem Urteil vom 6.3.2008 gegen den Angeklagten eine Jugendstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten verhängt, allerdings unter Einbeziehung der durch Urteil vom 8.11.2007 ausgesprochenen Jugendstrafe von 10 Monaten.

Da weitere Haftgründe nicht vorliegen, war der Haftbefehl aufzuheben.

Ende der Entscheidung

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