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Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 02.02.2007
Aktenzeichen: 1 Ws 9/07
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 120
Zur grundsätzlichen Geltung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen - auch nach Erlass eines erstinstanzlichen Urteils - im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nach § 120 StPO.
Gründe:

Die gemäß § 304 StPO zulässige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg.

Der Angeklagte ist zwar der ihm in dem Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 15.2.2006 nunmehr nach Maßgabe des - noch nicht rechtskräftigen - Urteils des Amtsgerichts Frankfurt am Main - Schöffengericht - vom 29.6.2006 vorgeworfenen Straftat des schweren Raubes dringend verdächtig. Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus den Gründen des angefochtenen Urteils. Soweit der Angeklagte gegen dieses Urteil Berufung eingelegt hat, fehlen derzeit Anhaltspunkte für eine ihm günstige Prognose auf das Endergebnis.

Auch besteht gegen den Angeklagten weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

Die nicht rechtskräftig verhängte Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten bietet unter Berücksichtigung der Anrechnung der bisher erlittenen Untersuchungshaft von rund 11 1/2 Monaten zwar keinen hohen, aber einen nicht unerheblichen Anreiz, sich dem weiteren Fortgang des Strafverfahrens einschließlich der Strafvollstreckung nicht zur Verfügung zu halten. 2/3 der Strafe - zu diesem Zeitpunkt käme eine Entlassung des Angeklagten frühestens in Betracht - wären im Juni 2008 erreicht. Besondere Umstände im Sinne des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB und damit die Möglichkeit einer Entlassung zum Halbstrafenzeitpunkt sind bisher nicht ersichtlich. Bei Berücksichtigung des danach auch derzeit noch bestehenden nicht unerheblichen Fluchtanreizes ist es überwiegend wahrscheinlich, dass der Angeklagte, käme er frei, sich dem weiteren Strafverfahren durch Flucht oder Untertauchen entziehen würde. Genügend fluchthemmende Bindungen sind bei ihm nicht vorhanden.

Der Angeklagte ist italienischer Staatsangehöriger und in Italien amtlich gemeldet. Einen festen Wohnsitz in Deutschland hat er nicht. Im Rahmen des Verfahrens äußerte er selbst, dass er nach Italien zurückkehren wolle, um dort seine Erbschaftsangelegenheiten zu regeln. Obwohl er in der Bundesrepublik Deutschland eine Lebensgefährtin hatte, die im Jahre 1993 das gemeinsame Kind zur Welt brachte, hat er sich schon in der Vergangenheit häufiger für längere Zeit in Italien aufgehalten. Darüber hinaus ist diese Beziehung inzwischen zerbrochen.

Unter den genannten Umständen spricht bei der gebotenen Gesamtabwägung eine größere Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Angeklagte sich im Falle der Freilassung dem weiteren Verfahren nicht zur Verfügung halten werde.

Bei dieser Sachlage kann der Zweck der Untersuchungshaft auch nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen gem. § 116 StPO erreicht werden.

Gleichwohl sind die angefochtene Haftfortdauerentscheidung der Kammer und der Haftbefehl des Amtsgerichts nunmehr wegen Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch einen nicht vertretbaren Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot aufzuheben.

Die grundsätzliche Geltung des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen auch nach Erlass eines erstinstanzlichen Urteils im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gem. § 120 StPO mit der Folge, dass ein erheblicher Verstoß dagegen die Fortdauer der Untersuchungshaft entgegenstehen kann, steht außer Streit (vgl. Meyer-Goßner, 49. Aufl., § 121 Rdnr. 8 m.w.N.; Senatsbeschl. v. 19.7.2006 - 1 Ws 72/06 -; v. 11.10.2005 - 1 Ws 114/05 -; v. 29.1.1996 - 1 Ws 13/96 - und v. 22.4.1996 - 1 Ws 41/96 -; OLG Hamm Beschl. v. 2.11.1979 - 1 Ws 315/79 -; OLG Düsseldorf StV 1996, 552-553, und NStZ-RR 2000, 250-251). Dabei ist indessen nicht derselbe strenge Prüfungsmaßstab wie vor Erlass eines erstinstanzlichen Urteils bei der Prüfung eines wichtigen Grundes im Sinne des § 121 StPO anzulegen. Diese Regelung gilt vielmehr ausdrücklicher Normierung nach nur bis zum Erlass des erstinstanzlichen Urteils. Für den Zeitraum danach verbleibt es bei der Geltung des § 120 StPO und somit der umfassenden Abwägung aller auch sonst für die Verhältnismäßigkeit maßgeblichen Gesichtspunkte. Gegeneinander abzuwägen sind danach auch das Gewicht der Straftaten und die Höhe der zu erwartenden Strafe gegenüber dem etwaigen Ausmaß der Verfahrensverzögerung und dem Grad des die Justiz möglicherweise hieran treffenden Verschuldens (st. Rspr. d. Senats vgl. Beschl. v. 19.7.2006 - 1 Ws 72/06 -; v. 11.11.2005 - 1 Ws 114/05 -; v. 29.1.1996 - 1 Ws 13/96 - und v. 22.4.1996 - 1 Ws 41/96 -; OLG Hamm, Beschl. v. 2.11.1979 - 1 Ws 315/79 -; OLG Düsseldorf StV 1996, 552-553, und NStZ-RR 2000, 250-251).

Dabei vergrößert sich mit einer Verurteilung das Gewicht des staatlichen Strafanspruchs, da aufgrund der gerichtlich durchgeführten Beweisaufnahme die Begehung der Straftat durch den Angeklagten als erwiesen angesehen worden ist. Dass das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Einlegung des Rechtsmittels hindert lediglich die Vollstreckung der Strafe bis zur Überprüfung durch das nächst höhere Gericht, beseitigt aber nicht die Existenz des angegriffenen Urteils und damit den Umstand, dass auf der Grundlage eines gerichtlichen Verfahrens ein Schuldnachweis gelungen ist (vgl. BVerfG Beschl. v. 22.2.2005 - 2 BvR 109/05 - und v. 29.12.2005 - 2 BvR 2057/05 -). Dieser Grundsatz rechtfertigt es jedoch nicht, dass der Verurteilte jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Vollverbüßung der ausgesprochenen Strafe in Untersuchungshaft gehalten werden kann. Die verhängte Freiheitsstrafe stellt grundsätzlich nur ein Indiz für das Gewicht der zu verfolgenden Straftat dar (vgl. BVerfG Beschl. v. 29.12.2005 - 2 BvR 2057/05 -).

Die Feststellung einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung zwingt die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte regelmäßig, dies bei der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu berücksichtigen, wobei im Rahmen der Abwägung zu beachten ist, dass sich das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Untersuchungsgefangenen gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse des Staates mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft verstärkt (st. Rspr. d. BVerfG, vgl. z. B. Beschl. v. 29.12.2005 - 2 BvR 2057/05 -).

Bei Beachtung dieser Grundsätze verstößt die Fortdauer der Untersuchungshaft nach den Umständen des vorliegenden Falls gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

(Vom Abdruck der nachfolgenden Textpassagen wurde aus datenschutzrechtlichen Gründen abgesehen - die Red.)

Nach allem ist eine schlechthin nicht vertretbare, gravierende Verfahrensverzögerung festzustellen. Sie führt bei Berücksichtigung des nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG Kammerbeschlüsse v. 22.2.2005 - 2 BvR 109/05 -; v. 29.11.2005 - 2 BvR 1737/05 -; v. 5.12.2005 - 2 BvR 1964/05 - und v. 29.12.2005 - 2 BvR 2057/05 -) anzulegenden schärferen Maßstabes an die Beschleunigung im Rahmen der Abwägung gemäß § 120 StPO zur Aufhebung des Haftbefehls. Trotz des Gewichts der abgeurteilten Tat - eines schweren Raubes - und der Höhe der nicht rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten, die sich jedoch durch die bereits verbüßte anrechenbare Untersuchungshaft und den Umstand, dass vorliegend eine vorzeitige Entlassung zum 2/3-Zeitpunkt gemäß § 57 Abs. 1 StGB in Betracht kommt, relativiert, führt die vorzunehmende Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Angeklagten und dem staatlichen Verfolgungsanspruch in Anbetracht der Dauer der bisher vollzogenen Untersuchungshaft von rund 11 1/2 Monaten sowie des dargelegten erheblichen Ausmaßes der Verfahrensverzögerung von rund 5 Monaten und des hohen Grades des das Berufungsgericht hieran treffenden Verschuldens dazu, dass die Fortdauer der Untersuchungshaft als nicht mehr verhältnismäßig anzusehen ist.

Ende der Entscheidung

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