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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 10.07.2007
Aktenzeichen: 11 Verg 5/07
Rechtsgebiete: GWB, VgV, VOL/A


Vorschriften:

GWB § 100 Abs. 1
GWB § 107 Abs. 3
GWB § 121
VgV § 2
VgV § 13
VOL/A § 3 a
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

I.

Der Antragsgegner ist örtlicher Träger der Sozialhilfe und als sog. "Optionskommune" seit 01.01.2005 für die Verwaltung und Auszahlung des Arbeitslosengeldes II nach dem SGB II im Zuge der sog. Hartz-Reform zuständig. Bereits zuvor war in sämtlichen Bereichen der Sozialverwaltung des Antragsgegners (Sozialamt, Jugendamt, Flüchtlingsamt) die Software der Beigeladenen eingesetzt worden. Bei dieser Software handelt es sich um das Produkt OPEN/A. Für dieses Produkt waren ursprünglich 78 Lizenzen bei dem Antragsgegner vorhanden. Im Dezember 2004 überließ der Antragsgegner dem Eigenbetrieb "...", der der Erfüllung der Aufgaben als Sozialhilfeträger dient, 40 Lizenzen, um die Aufgaben nach dem SGB II zu erfüllen. Diese Lizenzen dienten ausschließlich der Zahlbarmachung an die Hilfeempfänger. Der Eigenbetrieb des Antragsgegners benötigte jedoch weitere Software für das sog. Fallmanagement (Erfassung von Daten zur Vermittlung der Hilfeempfänger in Arbeit). Hierüber verhält sich ein Vermerk vom 01.10.2004, in dem es u.a. heißt, die Zahlbarmachung der Hilfebeträge werde kurzfristig nur über das A-Verfahren möglich sein, eine Alternative zu dieser Lösung sei bis zum heutigen Zeitpunkt nicht bekannt.

Im ersten Halbjahr 2005 fragte der Antragsgegner bei verschiedenen Softwareanbietern nach Softwarelösungen für das Fallmanagement an, u.a. bei der Antragstellerin und der Beigeladenen.

Hierzu heißt es in einem handschriftlichen Vermerk vom 14.12.2004: "Herr F. (Mitarbeiter des Antragsgegners) hat den Auftrag, Angebote einzuholen. Ihm wurden diesbezüglich Unterlagen zur Verfügung gestellt. Herr F. soll hier Präsentationstermine mit den Regionalteamleitungen vereinbaren....". In der Folgezeit haben die Antragstellerin, die Beigeladene und zwei weitere Anbieter Angebote abgegeben. In einem Vermerk vom 24.10.2006 des Antragsgegners heißt es, im Jahre 2005 hätten vier Softwareanbieter ihre Produkte.... vorgestellt. Als Ergebnis der Präsentation erscheine die Software der Antragstellerin am geeignetsten, da diese Firma eine ganzheitliche Software anbiete, mit der sowohl die Zahlbarkeit wie das Fallmanagement abgewickelt werden könnten. In diesem Einzelfall bestünden gegen eine Auftragserteilung in freihändiger Form keine Bedenken, da schon wirtschaftliche Gründe diese Entscheidung rechtfertigten (Einsparung des Ankaufs weiterer 40 Lizenzen, Einsparung erheblicher Kosten durch zusätzliche Schulungsmaßnahmen beim Wechsel zu einem anderen Anbieter, Einsparung erheblichen Zeitaufwandes durch das Übertragen der Bestandsdaten auf die Bedürfnisse einer anderen Software)".

Am 02.11.2006 schlossen der Antragsgegner und die Beigeladene einen Vertrag über die zeitlich unbefristete Überlassung von Standardsoftware gegen Einmalvergütung, der die Überlassung von 90 Lizenzen zum Inhalt hat, sowie einen Vertrag über die Pflege von Standardsoftware bezüglich 130 Lizenzen. Der Vertrag sollte eine Mindestvertragsdauer von 24 Monaten haben.

Mit Schreiben vom 07.12.2006 teilte die Antragstellerin dem Antragsgegner mit, ihr sei bekannt geworden, dass der Antragsgegner im Begriff sei, Software für die Umsetzung des SGB II zu beschaffen. Es liege die Vermutung nahe, dass beim Antragsgegner eine Umstellung erfolge. Der Umstieg auf ein anderes Softwareprodukt sei ausschreibungspflichtig. Die Antragstellerin forderte eine schriftliche Bestätigung des Inhalts, dass es beim Antragsgegner entweder keinen Umstieg auf eine andere Software gebe oder dass ein solcher Umstieg ausgeschrieben werde. Nachdem der Antragsgegner einen Verstoß gegen Vergaberecht verneinte, sandte die Antragstellerin ihm am 28.01.2007 erneut ein förmliches Rügeschreiben zu und reichte, nachdem der Antragsgegner der Rüge nicht abhalf, unter dem 20.03.2007 einen Nachprüfungsantrag ein.

Die Antragstellerin hat beantragt,

1. den Antragsgegner zu verpflichten, die Beschaffung von Software für den Bereich SGB II sowie zugehörige Dienstleistungen (Pflegeleistungen, Schulungen, Betreuung, Datenmigration) unverzüglich offen und diskriminierungsfrei europaweit auszuschreiben,

2. festzustellen, dass etwaige - ohne Ausschreibung geschlossene - Verträge des Antragsgegners oder von dessen Eigenbetrieben mit A O1 über die Beschaffung von Software für den Bereich SGB II sowie zugehörige Dienstleistungen nichtig sind

3. hilfsweise zu 1. und 2. festzustellen, dass die Unterlassung der Ausschreibung rechtswidrig war und die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt wird.

Mit Beschluss vom 27.04.2007 hat die Vergabekammer den Antragsgegner verpflichtet, die Beschaffung der Software für den Bereich SGB II sowie zugehörige Dienstleistungen (Pflegeleistungen, Schulungen, Betreuung, Datenmigration) unverzüglich offen und diskriminierungsfrei europaweit auszuschreiben und festgestellt, dass die Verträge zwischen dem Antragsgegner und der Beigeladenen vom 02.11.2006 über die zeitlich unbefristete Überlassung von Standardsoftware gegen Einmalvergütung (...) und die Pflege von Standardsoftware (...) nichtig sind.

Wegen der Begründung wird auf den Beschluss der Vergabekammer Bezug genommen.

Gegen den ihm am 15.05.2007 zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner am 29.05.2007 sofortige Beschwerde eingelegt. Zur Begründung trägt er vor, das Nachprüfungsverfahren sei unzulässig, jedenfalls aber unbegründet.

Unzulässig sei der Nachprüfungsantrag bereits deshalb, weil die konkrete Auftragsvergabe unterhalb des maßgeblichen Schwellenwertes liege, so dass die Vergabekammer dem Antragsgegner zu Unrecht die europaweite Ausschreibung aufgegeben habe. Darüber hinaus habe die Antragstellerin ihre Rügeobliegenheit verletzt und einen etwaigen Vergabeverstoß verspätet gerügt.

Jedenfalls sei der Nachprüfungsantrag aber unbegründet, weil der Antragsgegner gemäß § 3 a Nr. 2 lit. e und c VOL/A nicht zur Ausschreibung verpflichtet gewesen sei.

Der Antragsgegner beantragt vorab,

dem Beschwerdeführer und Antragsgegner den Abschluss der Verträge über die zeitlich unbefristete Überlassung von Standardsoftware gegen Einmalvergütung ...) und über die Pflege von Standardsoftware (...) mit A O1 vom 02.11.2006 zu gestatten.

Die Antragstellerin beantragt,

den Antrag nach § 121 GWB analog als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise, ihn als unbegründet zurückzuweisen.

Wegen der weitergehenden Einzelheiten des Parteivortrages wird auf die in der Beschwerdeinstanz gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf Vorabgestattung des Zuschlags analog § 121 Abs. 1 GWB war zurückzuweisen, da er im Ergebnis jedenfalls unbegründet ist.

Gemäß § 121 Abs. 1 Satz1 GWB kann das Gericht unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten der sofortigen Beschwerde den weiteren Fortgang des Vergabeverfahrens und den Zuschlag gestatten. Gemäß § 121 Abs. 1 Satz 2 GWB kann es den Zuschlag auch gestatten, wenn unter Berücksichtigung aller möglicherweise geschädigten Interessen sowie des Interesses der Allgemeinheit an einem raschen Abschluss des Vergabeverfahrens die nachteiligen Folgen einer Verzögerung der Vergabe bis zur Entscheidung über die Beschwerde die damit verbundenen Vorteile überwiegen. Die Parteien sind sich darüber einig, dass eine unmittelbare Anwendung dieser Vorschrift im vorliegenden Fall nicht in Betracht kommt. Denn die Verträge über die zu beschaffenden Leistungen (Software und Softwarepflege) sind bereits geschlossen worden. Allerdings sind sie nach der - wie sogleich darzulegen ist, zutreffenden - Auffassung der Vergabekammer in entsprechender Anwendung des § 13 VgV nichtig, weil der Antragsgegner der Antragstellerin die nach dieser Bestimmung vorgeschriebene Information nicht erteilt hat.

Die Antragstellerin meint, in dieser Situation müsse eine Gestattung des Vertragsabschlusses analog § 121 Abs. 1 Satz 2 GWB möglich sein, weil die Nichtigkeit der Verträge und der damit verbundene Zwang zur Abschaltung der Software zu einer existentiellen Bedrohung von 16.000 ALG II-Empfängern führen müsse. Für den Ausgang der erforderlichen Interessenabwägung könne es keinen Unterschied machen, ob der Vertragsschluss erst noch erfolgen solle oder bereits geschehen sei. Denn wenn es überragende Gründe für eine schnelle Vergabe eines Auftrags gebe, blieben diese auch nach Vertragsschluss bestehen. Die Regelungslücke für die nachträgliche Gestattung von besonders dringenden Vertragsabschlüssen könne durch eine analoge Anwendung des § 121 Abs. 1 GWB geschlossen werden, da eine ähnliche Interessenlage vorliege. Wäre die Antragstellerin noch vor Vertragsschluss am 02.11.2006 gegen den Antragsgegner vorgegangen, so hätte die Möglichkeit bestanden, die Gestattung des Zuschlags zu beantragen. Der Umstand, dass der Nachprüfungsantrag erst nach Vertragsschluss gestellt worden sei, sei dem gleich zu stellen, weil sich die Dringlichkeit der Vertragsfortführung für den Antragsgegner noch erhöht habe.

Gegen eine analoge Anwendung des § 121 GWB in der hier vorliegenden Fallkonstellation dürfte schon sprechen, dass die gesetzlich bestimmte Nichtigkeitsfolge bei Verletzung der Informationspflicht gemäß § 13 VgV nicht durch eine gerichtliche Entscheidung außer Kraft gesetzt werden kann. Selbst eine Gestattung des Zuschlags durch das Gericht und ein nochmaliger Vertragsschluss könnten deshalb nicht zur Wirksamkeit der Verträge führen. Ungeachtet dessen wäre ein solches Verfahren mit Sinn und Zweck der in § 13 VgV angeordneten Nichtigkeitsfolge unvereinbar. Diese Frage kann aber dahingestellt bleiben.

Denn der Antrag hat im Ergebnis jedenfalls deshalb keinen Erfolg, weil das Rechtsmittel des Antragsgegners nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg haben wird. Können die Erfolgsaussichten bereits im Eilverfahren weitgehend abschließend beurteilt werden, weil - wie hier - bei im Wesentlichen unstreitigem Sachverhalt nur die rechtlichen Konsequenzen umstritten sind, so ist eine Interessenabwägung nach § 121 Abs. 1 S. 2 GWB entbehrlich (vgl. Summa in Heiermann/Zeiss/Kullack/Blaufuß, JURIS-Praxiskommentar, Vergaberecht, § 121 GWB Rn. 31 f).

So liegt der Fall hier. Die sofortige Beschwerde des Antragsgegners ist zwar zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt und begründet. In der Sache wird sie aber voraussichtlich keinen Erfolg haben. Die Vergabekammer ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Nachprüfungsantrag der Antragstellerin zulässig und begründet ist.

Der Nachprüfungsantrag ist zulässig, weil bei der vorliegend in Rede stehenden Auftragsvergabe das Verfahrensregime der §§ 97 ff GWB eröffnet ist, die Antragstellerin eine etwaige Rügepflicht nach § 107Abs. 3 GWB nicht verletzt hat und die Erteilung des Auftrags an die Beigeladene in analoger Anwendung des § 13 VgV nichtig und damit das Vergabeverfahren noch nicht abgeschlossen ist.

Die Vergabekammer ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Schwellenwert nach § 100 Abs. 1 GWB, § 2 Nr. 3 VgV überschritten ist. Zwischen den Parteien ist streitig, auf welchen Zeitpunkt zur Festlegung des Schwellenwertes im vorliegenden Fall abgestellt werden muss. Gemäß § 3 Abs. 10 VgV ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Schätzung des Auftragswertes der Tag der Absendung der Bekanntmachung der beabsichtigten Auftragsvergabe oder die sonstige Einleitung des Vergabeverfahrens. Soweit die Auffassung vertreten wird, die Einleitung des Vergabeverfahrens habe vorliegend spätestens im Januar 2005 stattgefunden, als der Antragsgegner vier Anbieter zur Abgabe von Angeboten für eine Software zum Fallmanagement hinsichtlich der Betreuung von AGL II-Empfängern aufforderte. Bei diesem Vorgang habe es sich nicht um eine bloße Markterkundung, sondern vielmehr um den Beginn des Vergabeverfahrens gehandelt. Zu diesem Zeitpunkt sei der Antragsgegner aber von einem Bedarf von lediglich 40 Lizenzen zum Fallmanagement und 80 Pflegeverträgen ausgegangen, um auch die bereits vorhandenen 40 Lizenzen zu erfassen.

Dem vermag der Senat nicht zu folgen. Zum einen spricht viel für die überzeugende Auffassung der Vergabekammer, wonach der Antragsgegner vor Beginn der Durchführung der erweiterten Beschaffung die Schätzung der Auftragssumme aktualisieren musste. Ungeachtet dessen ergibt sich aus den von dem Antragsgegner im Frühjahr 2005 eingeholten Angeboten dreier Wettbewerber ein durchschnittliches Auftragsvolumen, das bereits zu diesem Zeitpunkt den Schwellenwert überstieg, so dass der Antragsgegner weder zu diesem Zeitpunkt noch im Zeitpunkt der tatsächlichen Beschaffung bei der gebotenen vorsichtigen Schätzung von einem Auftragsvolumen ausgehen konnte, das unter dem Schwellenwert lag. Tatsächlich scheint der Antragsgegner davon auch nicht ausgegangen zu sein, weil sich der Vermerk seiner Revisionsabteilung vom 24.10.2006 ausschließlich mit der Frage befasst, ob die Auftragserteilung in freihändiger Form aus wirtschaftlichen Gründen gerechtfertigt sein könne. Derartiger Überlegungen hätte es nicht bedurft, wenn damals von einem Unterschreiten der Schwellenwerte ausgegangen worden wäre.

Die Antragstellerin ist auch nicht wegen Verletzung einer Rügepflicht präkludiert (§ 107 Abs. 3 GWB). Dabei kann der Senat offenlassen, ob bei einer de-facto-Vergabe eine Rügepflicht grundsätzlich nicht besteht (so BayObLG, VergabeR 02, 244; OLG Frankfurt, NZBau 04, 692;OLG Düsseldorf, NZBau 01, 696) oder ob eine Rügepflicht jedenfalls dann besteht, wenn ein (fehlerhaftes) Vergabeverfahren oder gar kein Vergabeverfahren durchgeführt wird und der Unternehmer über diesen Umstand seit langem fortlaufend unterrichtet ist (OLG Karlsruhe, ZfBR 07, 511; OLG Naumburg, Beschluss vom 2.3.2006 - 1 Verg 1/06; VK Sachsen, Beschluss vom 28.02.2007 - 1/SVK/110/06 - II).

Die Unzulässigkeit eines Nachprüfungsantrages wegen Verletzung der Rügepflicht im Sinne von § 107 Abs. 3 GWB kann nur angenommen werden, wenn dem Antragsteller nachgewiesen ist, dass er den behaupteten Vergaberechtsverstoß erkannt und gleichwohl nicht unverzüglich gerügt hat (BGH NZBau 05,290, Beschluss vom 01.02.2005 - X ZB 27/04 m.w.N.). Im Streitfall ist nicht davon auszugehen, dass die Antragstellerin bereits vor November 2006 positive Kenntnis davon hatte, dass der Antragsgegner den streitgegenständlichen Auftrag ohne vorherige Ausschreibung an die Beigeladene vergeben wollte. Zwar war der Antragstellerin infolge ihres eigenen Angebots vom Januar 2005 bekannt, dass der Antragsgegner zur Bearbeitung von Anträgen nach dem SGB II geeignete Software anschaffen bzw. entsprechende Aufträge vergeben wollte. Der gerügte Vergabeverstoß kann jedoch erst als bekannt angesehen werden, wenn die Antragstellerin aus den ihr bekannten Umständen auch geschlossen hätte, dass ein geregeltes Vergabeverfahren erforderlich ist, es hierzu aber nicht kommen würde, oder wenn sie sich dieser Erkenntnis, obwohl sie sich aufdrängte, verschlossen oder entzogen hätte (BGH a.a.O.). Diese Voraussetzungen lagen bei der Antragstellerin aber nicht vor November/Dezember 2006 vor. Da der bisherige Kontakt der Antragstellerin mit dem Antragsgegner auch als eine noch der Erkundung der Möglichkeiten des Marktes dienende Vorbereitungsmaßnahme verstanden werden konnte, kann der Antragstellerin nicht widerlegt werden, erst zu diesem Zeitpunkt einen aussagekräftigen Anhaltspunkt gehabt zu haben, dass es bei dem bisherigen Vorgehen des Antragsgegners verbleiben und ein geregeltes Vergabeverfahren nicht durchgeführt werden sollte. Der Antragstellerin kann deshalb nicht vorgeworfen werden, die Notwendigkeit des bisher unterbliebenen geregelten Vergabeverfahrens nicht früher gerügt zu haben (BGH a.a.O.). Das gilt umso mehr, als ausweislich des bei den Akten befindlichen Vermerks des Antragsgegners vom 18./24.10.2006 im Hause des Antragsgegners zu diesem Zeitpunkt noch Überlegungen hinsichtlich der Notwendigkeit einer öffentlichen Ausschreibung angestellt worden sind, also der Antragsgegner selbst sich hierzu noch keine abschließende Meinung gebildet hatte.

Mit diesem Sachverhalt wäre es unvereinbar, wenn die Antragstellerin gehalten sein sollte, schon zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt die Notwendigkeit einer europaweiten Ausschreibung zu rügen, zumal ihr auch nicht ohne weiteres bekannt sein konnte, ob der Schwellenwert angesichts des ursprünglichen Auftragsvolumens tatsächlich überschritten würde. Eine etwa erforderliche Rüge wäre auch nicht deshalb verspätet, weil nach dem Schreiben der Antragstellerin vom 07.12.2006 jedenfalls zu diesem Zeitpunkt das positive Wissen der Antragstellerin um den Vergabeverstoß vorlag, eine förmliche Rüge aber erst unter dem 28.01.2007 ausgesprochen wurde. Das Schreiben vom 07.12.2006 verdeutlicht vielmehr, dass die Antragstellerin zu diesem Zeitpunkt noch kein sicheres Wissen um die Vertragsvergabe hatte, sondern zunächst klären wollte, ob es beim Antragsgegner bereits einen Beschaffungsvorgang gab oder ein solcher bevorsteht. In dem Schreiben selbst heißt es aber ausdrücklich, für den Fall, dass es einen Umstieg von ... auf ... gegeben habe, sei das Schreiben als Rüge im Sinne des § 107 Abs. 3 GWB zu interpretieren. Damit hat die Antragstellerin einer etwaigen Rügepflicht jedenfalls genügt.

Darüber hinaus stellt sich im Streitfall auch die Frage, ob aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles eine Rüge im Sinne von § 107Abs. 3 GWB überhaupt noch erforderlich war. Sinn und Zweck der Rügeobliegenheit ist es, der Vergabestelle Gelegenheit zu geben, die gerügten Verstöße unverzüglich im noch laufenden Vergabeverfahren abzustellen. Da es hier bereits zu einem (nichtigen) Vertragsschluss gekommen war, bestand für die Vergabestelle eine solche Korrekturmöglichkeit ohnedies nicht mehr, so dass das Festhalten der Antragstellerin an einer Rügeobliegenheit für diesen Fall auf eine bloße Förmelei hinausliefe.

Die Auftragsvergabe ist noch nicht beendet, da der Vertragsschluss wegen Verstoßes gegen § 13 VgV nichtig war. Die Vergabekammer ist zu Recht davon ausgegangen, dass eine analoge Anwendung des § 13 VgV jedenfalls dann geboten ist, wenn die Beschaffung einer Dienstleistung immerhin zur Beteiligung mehrerer Unternehmen, zu verschiedenen Angeboten und schließlich zu einer Auswahl durch den öffentlichen Auftraggeber geführt hat ( BGH a.a.O.). Dagegen wendet sich auch der Antragsgegner nicht. Nach alledem ist das Nachprüfungsverfahren zulässig.

Der Nachprüfungsantrag ist voraussichtlich auch begründet. Da der Schwellenwert überschritten ist, hätte der streitgegenständliche Auftrag europaweit ausgeschrieben werden müssen (§§ 100 GWB, 2 Nr. 3 VgV).Wie die Vergabekammer zu Recht entschieden hat, lag auch kein Ausnahmetatbestand vor, der den Verzicht auf eine förmliche EU-weite Ausschreibung rechtfertigen konnte.

Gemäß § 3 a Nr. 2 lit. e) VOL/A können Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne vorherige öffentliche Vergabebekanntmachung vergeben werden, wenn es sich um eine zusätzliche Lieferung des ursprünglichen Auftragnehmers handelt, die entweder zur teilweisen Erneuerung von gelieferten Waren oder Einrichtungen zur laufenden Benutzung oder zur Erweiterung von Lieferungen oder bestehenden Einrichtungen bestimmt sind, und ein Wechsel des Unternehmens dazu führen würde, dass der Auftraggeber Waren mit unterschiedlichen technischen Merkmalen kaufen müsste und dies eine technische Unvereinbarkeit oder unverhältnismäßige technische Schwierigkeiten bei Gebrauch, Betrieb oder Wartung mit sich bringen würde.

Wie die Vergabekammer zutreffend ausgeführt hat, fehlt es vorliegend am Merkmal der teilweisen Erneuerung der ursprünglichen Lieferung. Die Erneuerung erfasst die Anpassung der ursprünglichen Lieferung oder Einrichtung auf den neuesten Stand der Technik oder den Austausch von Teilen zur Reparatur von Abnutzungserscheinungen. Im Zuge der Erneuerung dürfen nur Teile der ursprünglichen Lieferung oder Einrichtung ausgetauscht werden. Die zusätzliche Lieferung darf die ursprüngliche Lieferung oder Einrichtung nicht als Ganzes ersetzen (Kaelble in Müller-Wrede, VOL-A, 2. Auflage, § 3 a Rn. 213). In Betracht zu ziehen ist daher allein, ob die zusätzliche Beschaffung der 90 Lizenzen eine bloße Erweiterung darstellt und die weiteren Voraussetzungen des § 3 a Nr. 2 lit. e) VOL/A erfüllt sind. Das Verhandlungsverfahren ohne Bekanntmachung ist nur zulässig, wenn die Lieferung eines anderen Unternehmens mit der ursprünglichen Leistung inkompatibel wäre. Diese Voraussetzungen muss der Auftraggeber darlegen. Das Verhandlungsverfahren ohne Bekanntmachung kann gewählt werden, wenn die abweichenden technischen Merkmale zu einer Unvereinbarkeit von zusätzlicher Lieferung und ursprünglicher Leistung führen würden (technische Unvereinbarkeit). Der Gebrauchszweck müsste durch die abweichenden technischen Merkmale vereitelt werden. Davon kann aber nicht ausgegangen werden, weil es sich bei der neu beschafften Software um eine komplette Neubeschaffung mit völlig anderen, erweiterten Funktionen handelt, die speziell auf die Aufgaben des Auftragebers gemäß SGB II zugeschnitten ist.

Auch einen Fall der relativen Inkompatibilität hat der Antragsgegner nicht ausreichend dargelegt. Er ist anzunehmen, wenn im Falle einer möglichen Angleichung der technischen Merkmale die Anpassung technische Schwierigkeiten aufwirft, die entweder nur mit einem unverhältnismäßigen Aufwand behoben werden könnten oder aber den bestimmungsgemäßen Gebrauch und die Wartung nicht nur marginal, sondern erheblich beeinträchtigten (Kaelble a.a.O.). Der Hinweis des Antragsgegners, eine automatisierte Datenmigration von Daten der interimsweise überlassenen Software ... win auf die neu erworbene Software sei möglich, während Fremdhersteller einen solchen Vorgang aufgrund der technischen Programmstruktur von ... win nur unter "erheblichen technischen Schwierigkeiten" durchführen könnten, reicht dazu nicht aus. Er lässt jedenfalls den Schluss zu, dass es an einer absoluten technischen Unvereinbarkeit fehlt. Inwieweit die technischen Schwierigkeiten, von denen der Antragsgegner wegen der Datenmigration ausgeht, einen unverhältnismäßigen Aufwand bedeuten oder den bestimmungsgemäßen Gebrauch nicht nur marginal beeinträchtigten, geht aus dem Vortrag des Antragsgegners nicht substantiiert hervor, so dass der Antragsgegner seiner Darlegungsobliegenheit nicht nachgekommen ist.

Auch die Voraussetzungen des § 3 a Nr. 2 lit. c) VOL/A sind von dem Antragsgegner nicht ausreichend dargelegt worden. Der Auftraggeber hat keine Gründe dargelegt, die zwingend die Vergabe an ein spezifisches Unternehmen erforderlich machen. Dass zwingend nur ein Unternehmen zur Auftragsdurchführung in der Lage ist, muss der Auftraggeber mittels einer sorgfältigen Markterforschung feststellen. Nicht ausreichend ist hingegen die Auffassung des Auftraggebers, dass ein bestimmtes Unternehmen die wirtschaftlichste Leistungserbringung erwarten lässt. Auf die Bekanntmachung kann auch dann nicht verzichtet werden, wenn eine begrenzte Anzahl konkurrierender Unternehmen die Leistung erbringen kann (Kaelble a.a.O., Rn. 178). Hierauf beruft sich aber der Antragsgegner bislang. Er trägt vor, die Alternative, eine völlig neue Software zu beschaffen, habe aufgrund der tatsächlichen, zwingenden Erfordernisse nicht bestanden. Ob im Zeitpunkt der tatsächlichen Beschaffung im November 2006 außer der Beigeladenen kein anderes Unternehmen in der Lage gewesen wäre, die benötigte Software zu liefern, ist danach aber nicht festzustellen. Soweit der Antragsgegner beiläufig auch auf der Beigeladenen zustehende Ausschließlichkeitsrechte für ihre Software verweist, ist der Vortrag ebenfalls nicht schlüssig, um eine rechtliche Beschränkung des Kreises der für die Leistungserbringung in Betracht kommenden Unternehmen darzulegen.

Da nach allem aufgrund des derzeitigen Sach- und Streitstandes eine hinreichende Erfolgsaussicht der sofortigen Beschwerde nicht festzustellen ist, war der Antrag auf Gestattung des Zuschlags analog § 121 Abs. 1 GWB schon aus diesem Grund zurückzuweisen.

Ende der Entscheidung

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