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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Urteil verkündet am 16.10.2001
Aktenzeichen: 23 U 212/00
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 713
ZPO § 543 Abs. 1
ZPO § 91 Abs. 1
ZPO § 97 Abs. 2
ZPO § 708 Nr. 10
ZPO § 546 Abs. 2
Bei verletzungsbedingten Dauerschäden (Beinverkürzung, Fehlstellung, Bewegungseinschränkung, mehrere Operationen, Amputationsangst) kann ein Schmerzensgeld von 70.000,-- DM angemessen sein.
OBERLANDESGERICHT FRANKFURT AM MAIN IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

23 U 212/00

Verkündet am 17.10.2001

In dem Rechtsstreit ...

hat der 23. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main durch die Richter am Oberlandesgericht ... aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 29.08.2001 für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das am 16.10.2000 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Gießen wie folgt abgeändert:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger als Schmerzensgeld über die bereits gezahlten 40.000,00 DM hinaus einen Betrag in Höhe von 30.000,00 DM nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 24.6.1999 zu zahlen.

Die Beklagten haben die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Wert der Beschwer beträgt 30.000,00 DM.

Entscheidungsgründe:

Von der Darstellung eines Tatbestandes wird gemäß § 543 Abs. 1 ZPO abgesehen.

Die Berufung wurde form- und fristgerecht eingelegt und ist auch sonst zulässig. Sie hat in der Sache Erfolg.

Das Landgericht hatte lediglich über die Höhe des vorliegend zu zahlenden Schmerzensgeldes zu befinden, da die Haftung dem Grunde nach zwischen den Parteien unstreitig war und ist.

Dabei hat das Landgericht jedoch zu Unrecht entschieden, dass der Kläger von den Beklagten über die vorprozessual bereits gezahlten 40.000,00 DM hinaus nach pflichtgemäßem Ermessen unter Abwägung aller unfallursächlichen psychischen und physischen Beeinträchtigungen kein weiteres Schmerzensgeld beanspruchen kann.

Es hat die Klageabweisung hinsichtlich eines 40.000,00 DM übersteigenden Schmerzensgeldes darauf gestützt, dass die vom Kläger unfallbedingt erlittenen Beschwerden, Unannehmlichkeiten und Schmerzen durch die Verletzung und den komplizierten Heilungsverlauf sowie die verminderten Chancen, am Erwerbsleben teilzunehmen, und ferner die entgangene Lebensfreude durch veränderte Freizeitgestaltung insbesondere im Hinblick auf eingeschränkte Sportmöglichkeiten mit dem bereits vorprozessual gezahlten Schmerzensgeld in Höhe von 40.000,00 DM hinreichend ausgeglichen sind. Dem Landgericht kann in dieser Bewertung nicht gefolgt werden.

Der BGH hat in seiner grundlegenden Entscheidung zur Bemessung des angemessenen Schmerzensgeldes festgestellt, dass Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, Leiden und Entstellungen die wesentlichen Kriterien bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sind (BGHZ 18, 149 (154)), womit im Sinne einer Objektivierung der Leiden insbesondere die Art der Verletzungen, die Zahl der Operationen, die Dauer stationärer und ambulanter Behandlung, die Dauer der Arbeitsunfähigkeit und das Ausmaß des Dauerschadens zu berücksichtigen sind (Slizyk, BeckŽsche Schmerzensgeld-Tabelle, 4. Aufl. 2001, Seite 7). Die Anwendung dieser Kriterien führt vorliegend zu dem Ergebnis, dass der Kläger von den Beklagten ein Schmerzensgeld in Höhe von 70.000,00 DM, d.h. die Zahlung von 30.000,00 DM über die bereits gezahlten 40.000,00 DM hinaus verlangen kann.

Der Kläger hat bei dem unstreitig vom Beklagten zu 1) verschuldeten Unfall eine erstgradig offene Unterschenkelfraktur links erlitten. Auf der Grundlage des eingeholten Sachverständigengutachtens kommt das Landgericht zwar in überzeugender Weise zu dem Ergebnis, dass nur ein Teil der vom Kläger vorgetragenen Verletzungen und Beschwerden auf den Unfall zurückzuführen ist und die übrigen Beschwerden degenerativer Natur sind. Unfallbedingt ist danach aber jedenfalls die Beinlängendifferenz des linken Beines von 7 cm im Unterschenkelbereich. Als weiterer Dauerschaden ist zu konstatieren, dass der Unterschenkelbruch in einer Fehlstellung verheilt ist, weshalb massiv starre Bewegungseinschränkungen des oberen Sprunggelenkes und Wackelsteife im unteren Sprunggelenk gegeben sind. Ferner sind ausgedehnte Narben am Unterschenkel vorhanden, die zu Durchblutungsstörungen führen. Außerdem ist die Zehenbewegung links beeinträchtigt. Zur Vorbeugung von weiteren Schäden ist das Tragen von orthopädischem Schuhwerk erforderlich. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Kläger zudem unwidersprochen über folgende fortbestehenden Beeinträchtigungen geklagt: Häufiges Umknicken, Probleme beim Stehen und Fortbewegen ohne orthopädischen Schuh aufgrund der erheblichen Beinlängendifferenz.

Zur bestehenden und zu erwartenden Erwerbsunfähigkeit des Klägers hat das vom Landgericht eingeholte Gutachten ausgeführt, dass der Kläger bei den vorliegenden Funktionseinschränkungen in der Lage sei, leichte körperliche Tätigkeiten überwiegend sitzend auszuüben. Da der Kläger jedoch keinen Beruf erlernt habe, sei dem Patienten bei konkreter Betrachtungsweise der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen, obwohl bei abstrakter Betrachtungsweise eine vollschichtige Beschäftigung möglich wäre. Ferner gelangt das Gutachten zu dem Ergebnis, dass die Funktionseinschränkung des Klägers einen halben Beinwert" betrage.

Die unfallbedingte Pseudoarthrose, die im Gegensatz zu den Ausführungen des Landgerichts nicht nur für 2, sondern über nahezu 5 Jahre bestand, ist inzwischen ausgeheilt. Sie wurde vom Landgericht zwar im Hinblick auf die schmerzhaften Beschwerden berücksichtigt, jedoch nur für einen unzutreffend kurzen Zeitraum und ist daher bei der Bemessung des Schmerzensgeldes entsprechend erhöhend zu gewichten. Hingegen hat das Landgericht die Beschwerden, die durch das Tragen einer speziellen Schiene sowie die Benutzung von Unterarmgehstützen hervorgerufen worden waren, und die zusätzliche körperliche Anstrengung und Einschränkung des Bewegungsapparates in die Berechnung einbezogen.

Auf dieser Grundlage hat das Landgericht ferner in zutreffender Weise als schmerzensgelderhöhend berücksichtigt, dass sich der Heilungsverlauf kompliziert und langwierig gestaltete, da der Kläger sich über einen Zeitraum von 5 Jahren mehrmals in stationäre Behandlung begeben musste und sich insgesamt 6 Operationen zu unterziehen hatte. Die Beeinträchtigungen des Klägers in seiner Lebensgestaltung durch diesen Heilungsverlauf hat das Landgericht ebenso in Rechnung gestellt wie die erheblichen Auswirkungen des zögerlichen Heilungsverlaufs und der bleibenden Behinderung auf das Erwerbsleben des Klägers. Dabei muss ­ wie vom Landgericht zu Recht unterstrichen - besonders berücksichtigt werden, dass dem Kläger eine körperlich belastende Tätigkeit nicht mehr möglich ist, was sich besonders nachteilig auswirkt, da der Kläger keine Berufsausbildung hat, sondern ein ungelernter Arbeiter ist. Das Landgericht hat hier zutreffend ausgeführt, dass der Kläger durch seine mangelnde Berufsausbildung in der Berufswahl und Berufsausübung ohnehin bereits eingeschränkt gewesen ist. Eine eingeschränkte Berufsausübung in Form von leichten sitzenden Tätigkeiten ist dem Kläger zwar weiterhin grundsätzlich möglich, stößt aber auf Schwierigkeiten bei der Realisierung. Als weiteren wesentlichen Aspekt hat das Landgericht in nachvollziehbarer Weise berücksichtigt, dass die eingeschränkte Bewegungs- und Fortbewegungsfreiheit den Kläger auch psychisch belastet, insbesondere wegen der erheblichen Beeinträchtigung der Sportmöglichkeiten. Eine Tätigkeit als Schiedsrichter ist ihm nicht mehr möglich.

Ein weiterer schmerzensgelderhöhender Umstand ist der Berufung folgend darin zu sehen, dass das Landgericht die psychische Belastung des Klägers vor allem im Hinblick auf die über Jahre bestehende Amputationsangst nicht ausreichend berücksichtigt hat. Allerdings hatte der Kläger in der ersten Instanz eher abstrakt vorgetragen, dass die Gefahr bestehe, dass es zu einer Amputation des Beines kommen könne (Bl. 83 d. A.). Von besonderen psychischen Belastungen für den Kläger, die sich entsprechend schmerzensgelderhöhend auszuwirken hätten, ist jedoch an dieser Stelle ebenso wenig die Rede wie in einem späteren Schriftsatz des Klägervertreters, in dem als Stellungnahme zum eingeholten Sachverständigengutachten wiederum lediglich festgestellt wird, dass es für den Kläger beruhigend" sei, wenn es nicht zu einer Amputation des Unterschenkels komme (Bl. 139 d.A.). Der Kläger hat indessen in der Berufung sein Vorbringen hierzu weiter vertieft und nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass ihm erst mit dem jetzt erfolgten Ausheilen des Bruches nach 6 Operationen die über 6 Jahre andauernde Angst vor einer drohenden Amputation des betroffenen Fußes genommen worden ist, die sich vorher in Krankheitsbildern wie Schlafstörungen und depressionsähnlichen Zuständen ausgewirkt hatte.

Zwar hat das Landgericht den Aspekt der psychischen Entlastung in seinem Urteil ausdrücklich aufgenommen und darauf hingewiesen, dass dem Kläger durch die Feststellung in dem Gutachten die Angst vor einer Amputation genommen sei. Die hieran anschließende Wertung des Landgerichts, beim Kläger sei keine außerordentliche Beeinträchtigung gegeben, die über das Maß dessen hinausgehe, was nach der allgemeinen Erfahrung unter den gegebenen Umständen bei den meisten Menschen zu erwarten sei, kann aber insbesondere angesichts des vertiefenden zweitinstanzlichen Vorbringens des Klägers nicht aufrecht erhalten werden. Vielmehr folgt hieraus, dass das Landgericht den relevanten Gesichtspunkt der Amputationsangst bei der Bemessung des Schmerzensgeldes nicht hinreichend berücksichtigt hat, was zu einer weiteren Schmerzensgelderhöhung zusätzlich zu dem vorgenannten Aspekt der Dauer der Pseudoarthrose führen muss.

Hingegen kann der Berufung nicht darin beigepflichtet werden, dass das Landgericht die psychischen Belastungen durch die unfallbedingten Lebensumstellungen nicht hinreichend berücksichtigt habe. Vielmehr hat das Landgericht ­ wie bereits dargelegt- die von ihm selbst als erheblich qualifizierten Auswirkungen von Heilungsverlauf und bleibender Behinderung gerade auf das Erwerbsleben des Klägers ausführlich dargelegt und entsprechend in Rechnung gestellt, so dass sich dieser Umstand nicht zusätzlich schmerzensgelderhöhend auswirkt.

Auf der Grundlage, dass die Gesichtspunkte der jahrelang bestehenden realen Amputationsgefahr und der vom Landgericht zu kurz angesetzten Dauer der Pseudoarthrose eine Erhöhung des erstinstanzlich festgesetzten Schmerzensgeldes erforderlich machen, erscheint bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände, nämlich der Art der Verletzungen, dem Verlauf der Heilung und der verbleibenden Dauerschäden vorliegend ein Schmerzensgeld in Höhe von 70.000,00 DM als angemessen zum Ausgleich der unfallbedingt aufgetretenen psychischen und physischen Belastungen des Klägers.

Der Senat hat sich dabei u.a. auch an seiner Entscheidung vom 14.6.1995 -Aktenzeichen 23 U 103/92- orientiert, mit der er bei einem nach Art und Schwere annähernd vergleichbaren Fall ein Schmerzensgeld von 75.000,00 DM zugesprochen hat. Auch die vom Kläger zur Begründung der von ihm für angemessen gehaltenen Schmerzensgeldhöhe von 70.000,00 DM herangezogene Entscheidung des LG München I vom 25.9.1998 (Hacks/Ring/Böhm, Schmerzensgeldbeträge, 20. Aufl. 2001, Nr. 2371) betrifft einen ähnlich gelagerten Fall, ebenso die Entscheidung des LG Schweinfurt vom 11.3.1988 (Slyzik, Nr. 1617), bei der einem 17-Jährigen wegen einer offenen Unterschenkelfraktur mit den Dauerschäden Amputationsgefahr, Gehbehinderung, Berufsaufgabe und Tragen orthopädischer Schuhe ein Schmerzensgeld von 60.000,00 DM zuerkannt wurde. Hier ist außerdem nicht zu verkennen, dass diese Entscheidung bereits 13 Jahre alt ist und die Entwicklung der Rechtsprechung zu einer großzügigeren Bemessung von Schmerzensgeld beachtet werden muss. Die vorliegende Entscheidung bewegt sich somit im Rahmen der einschlägigen Rechtsprechung zur Bemessung von Schmerzensgeld.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO; die Anwendung des § 97 Abs. 2 ZPO ist nicht gerechtfertigt, weil das Obsiegen des Klägers nicht allein auf neuem Vorbringen, sondern vielmehr einer Gesamtabwägung aller Umstände beruht.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Der Wert der Beschwer war gemäß § 546 Abs. 2 ZPO festzusetzen.

Ende der Entscheidung

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