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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Urteil verkündet am 11.05.2001
Aktenzeichen: 24 U 231/99
Rechtsgebiete: VVG, AKB, BGB, ZPO


Vorschriften:

VVG § 61
AKB § 12 1. II. e
BGB § 284 Abs. 2
BGB § 286
ZPO § 91
ZPO § 708 Ziffer 10
ZPO § 711
ZPO § 546 Abs. 2

Entscheidung wurde am 30.11.2001 korrigiert: Leitsatz hinzugefügt und Verfahrensgang geändert
Hält ein Versicherungsnehmer zunächst bei Rotlicht an, fährt aber aufgrund einer Fehleinschätzung noch bei Rotlicht wieder los ("Augenblicksversagen"), führt dies (entgg. der h.M.) nicht zur Leistungsfreiheit des Kaskoversicherers nach § 61 VVG (Rev. zugel.).
OBERLANDESGERICHT FRANKFURT AM MAIN IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

24 U 231/99

Verkündet am 11.05.2001

in dem Rechtsstreit

...

Der 24. Zivilsenat in Darmstadt des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 11. Mai 2001 durch die Richter ... für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Darmstadt vom 22.10.1999 abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 26.900,00 DM nebst 4 % Zinsen seit 06.12.1998 zu zahlen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 40.000,00 DM abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Sicherheiten können auch durch selbstschuldnerische und unbefristete Bürgschaften eines als Zoll- oder Steuerbürgezugelassenen deutschen Kreditinstituts erbracht werden.

Die Beklagte ist mit 26.900,00 DM beschwert.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger verlangt von dem beklagten Versicherer Leistung aus einer bei ihm abgeschlossenen Vollkaskoversicherung.

Am 18.10.1998 gegen 6.00 Uhr morgens fuhr der Kläger - unter im übrigen streitigen Umständen - bei Rotlicht in die Kreuzung T.-(P.-)/L.-G.-Straße in D. ein. Auf der - weitläufigen - Kreuzung kollidierte er mit einem von rechts herangekommenen Wagen.

Seiner Bitte, Vollkasko-Entschädigung zu leisten, kam die Beklagte nicht nach; sie verwies darauf, daß der Kläger den Schadensfall grob fahrlässig herbeigeführt habe.

Der Kläger hat vorgetragen, er habe sich der Kreuzung bei "rot" genähert und seinen Wagen deshalb an der Haltelinie zum Stehen gebracht. Links neben ihm - auf der Linksabbiegerspur - habe ein anderes Fahrzeug gestanden. Dorthin habe er geschaut und in diesem Wagen einen Arbeitskollegen erkannt; ihn habe er gegrüßt. Als er den Blick wieder nach vorne gewandt habe, habe er grünes Licht registriert und sei angefahren.

Nunmehr wissend, daß er einem Irrtum unterlegen sei, könne er sich diesen nur so erklären, daß er das Umschalten eines anderen Elements der Ampelanlage mißdeutet habe oder durch das im Rückspiegel registrierte Grünlicht einer hinter ihm - an der zurückliegenden Kreuzung installierten - Ampelanlage getäuscht worden sei.

Der Kläger hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 26.900,00 DM nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 06.12.1998 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen, der Kläger habe objektiv grob gegen die jedem Verkehrsteilnehmer obliegenden Sorgfaltspflichten verstoßen; Gründe dafür, daß dieser Verstoß ausnahmsweise subjektiv zu entschuldigen sei, habe er nicht aufgezeigt.

Die Kammer hat die Klage abgewiesen. Wegen der von ihr gefundenen Gründe sowie des Sach- und Streitstandes erster Instanz im übrigen und einzelnen wird auf deren Urteil vom 22.10.1999 Bezug genommen.

Mit der Berufung trägt der Kläger vor, subjektiv sei ihm sein zum Unfall führendes Verhalten nicht als grobes Verschulden vorzuwerfen. Ohne daß er erklären könne, was der konkrete Anstoß für seinen Entschluß anzufahren gewesen sei, müsse er vermuten, daß er durch das Umspringen einer anderen in seinem Sichtfeld - möglicherweise im Rückspiegel - aufleuchtenden Ampel in die Irre geführt worden sei. Er gehe stets sorgsam mit dem versicherten Gut um, was sich auch darin dokumentiere, daß er - was die Beklagte nicht in Abrede gestellt hat - in 20-jähriger Fahrpraxis keine Eintragung im Bundeszentralregister habe hinnehmen müssen.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des am 22.10.1999 verkündeten Urteil des Landgerichts Darmstadt, Az. 8 O 151/99, die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 26.900,00 DM nebst 4 % Zinsen hieraus seit dem 06.12.1998 zu zahlen. Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie trägt vor, der Kläger habe sich von dem durch seinen objektiven Verstoß indizierten Vorwurf auch subjektiv groben Fehlverhaltens nicht entlasten können.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung einer schriftlichen Aussage des Zeugen J.l; zu dem Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf den Beweisbeschluß vom 12. März 2001 und die schriftliche Antwort des Zeugen J.l o. D. - eingegangen am 12.04.2001 - Bezug genommen. Wegen des zweitinstanzlichen Parteivortrages im übrigen und einzelnen wird auf die vor dem Senat gewechselten Schriftsätze verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist begründet. Der Kläger kann Vollkasko-Entschädigung - wie sie dem Umfang nach unumstritten ist - aus dem Unfallereignis vom 28.10.1998 beanspruchen. Rechtliche Grundlage dieses Anspruchs ist § 12 1. II. e AKB; wie die Beklagte nicht in Abrede stellt, wurde der bei ihr vollkaskoversicherte Wagen des Klägers bei einem Unfall beschädigt.

Der beklagte Versicherer ist nicht deshalb von der Verpflichtung zur Leistung frei, weil der klagende Versicherungsnehmer den Versicherungsfall durch grobe Fahrlässigkeit herbeigeführt hätte (§ 61 VVG).

1.

Zum tatsächlichen Unfallverlauf konnte der Senat die folgenden Feststellungen treffen:

Der Kläger hatte sich der weitläufig angelegten Kreuzung bei Rotlicht angenähert und sein Fahrzeug - deshalb - angehalten. Der frühen Tageszeit entsprechend herrschte wenig Verkehr. Während er an der Ampel stand, bemerkte er links neben sich ein anderes Fahrzeug, schaute in dieses hinein, erkannte einen Arbeitskollegen und grüßte ihn. Als er den Blick wieder nach vorne richtete, registrierte er - gegen die Tatsachen - grün" für seine Fahrtrichtung und fuhr los; auf der Kreuzung stieß er mit einem von rechts herangekommenen, tatsächlich bei grünem Ampelsignal eingefahrenen Wagen zusammen.

Aus diesem Geschehensablauf ist nur ein Element streitig, die Frage nämlich, ob der Kläger in der Tat zunächst an der Ampel angehalten (und den neben ihm wartenden Arbeitskollegen gegrüßt) habe. Daran, daß es in der Tat so war, zweifelt der Senat nicht; er entnimmt dies der im Berufungsverfahren eingeholten schriftlichen Aussage des Zeugen J. einerseits, den zur Sache abgegebenen Erklärungen des Klägers andererseits.

Die schriftliche Aussage des Zeugen J. hat Gewicht; wenn er auf die ihm schriftlich gestellte Frage nach der Richtigkeit der Behauptung des Klägers,

er habe vor dem Einfahren in die Kreuzung bei rotem Ampelsignal angehalten und den neben ihm mit seinem Fahrzeug haltenden Zeugen J. gegrüßt, und er sei erst dann angefahren,

schriftlich geantwortet hat,

die von Hr. G. gemachte Aussage trifft zu. Hr. G. hielt erst an der roten Ampel und fuhr dann auf einmal los",

dann erschöpft diese schriftliche Aussage den zu klärenden Sachverhalt. Irgend welche Hinweise darauf, daß der Zeuge dem Kläger persönlich in einer Weise verbunden wäre, die bei vernünftiger Betrachtung den Verdacht unredlichen "Eingreifens" in die Feststellung des wirklichen Geschehensablaufes rechtfertigen könnten, sind nicht aufgetaucht.

Der Senat erachtet auch den Kläger persönlich für glaubwürdig; diese Beurteilung stützt er auf den persönlichen Eindruck, den der Kläger in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, und auf dessen frühere schriftliche wie nunmehrige mündliche Äußerungen. Der Kläger hat sich, angefangen mit der Schadensanzeige und fortgeführt im Prozeß, zu keinem Zeitpunkt bemüht, irgend welche "durchschlagenden" Entschuldigungen für das in seinem Ergebnis feststehende äußere Fehlverhalten zu konstruieren; er hat durchgängig darauf hingewiesen, daß er persönlich grün" registriert, hierbei aber einem Irrtum aufgesessen sei; er hat weiter darauf hingewiesen, daß er nur versuchen könne, Gründe für diesen seinen Irrtum zu finden, ohne ihn letztendlich erklären zu können. Ganz so hat er sich auch im Senatstermin verhalten, hat insbesondere keinen Versuch unternommen, den objektiven "Mißgriff" zu beschönigen. Deshalb trägt der Senat keine Bedenken, ihm nicht nur - und ganz entsprechend dem, was der Zeuge J. geäußert hat - zu glauben, daß er zunächst bei Rotlicht angehalten, den Zeugen J. gesehen und gegrüßt habe, sondern auch, daß er durch irgend ein nachträglich nicht exakt zu konkretisierendes Signal und dessen fehlerhafte Verarbeitung zu dem gleichsam natürlichen Eindruck gekommen ist, die Ampel sei auf grün umgesprungen.

2.

Dieser Sachverhalt würde, wie das Landgericht folgerichtig angenommen hat, auf der Grundlage der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Begriff der "groben Fahrlässigkeit" Leistungsfreiheit des beklagten Versicherers auf der Grundlage des § 61 VVG begründen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat den Begriff der groben Fahrlässigkeit für alle Rechtsgebiete einheitlich verstanden (BGH VersR 1949, 222; 1966, 1150; BSG BB 82, 559; ihr folgend Hanau in Münchener Kommentar zum BGB, 3. Aufl. 1994, § 277 Rz 3). Inhaltlich ist sie hierbei davon ausgegangen, daß grob fahrlässig derjenige handele, der die im Verkehr erforderliche Sorgfalt durch ein subjektiv unentschuldbares Fehlverhalten in objektiv ungewöhnlich hohem Maße außer acht lasse, oder kürzer, wer das nicht beachte, was in der konkreten Situation jedem hätte einleuchten müssen (BGH VersR 1953, 335; 1988, 474; 1993, 106; 1997, 352; ebenso Staudinger/Löwisch, BGB, 13. Aufl. 1995, § 276 Rz 84).

In diesem Zusammenhang hat die höchstrichterliche Rechtsprechung hervorgehoben, daß vom äußeren Geschehensablauf und vom Ausmaß des objektiven Pflichtverstoßes auf innere Vorgänge und deren gesteigerte persönliche Vorwerfbarkeit geschlossen werden dürfe (BGH VersR 1989, 584; 1992, 1086). Da das Überfahren einer Kreuzung insbesondere bei rotem Ampellicht hohe Gefahren in sich berge und deshalb an die Aufmerksamkeit des Kraftfahrers im Bereich einer ampelgeregelten Kreuzung besonders hohe Anforderungen zu stellen seien, rechtfertige die Tatsache, daß ein Kraftfahrer die auf rot geschaltete Ampel unbeachtet gelassen habe, den Schluß darauf, daß er auch subjektiv unentschuldbar gehandelt habe (BGH VersR 1992, 1086).

Es obliege demjenigen, der sich in objektiver Hinsicht grob fehlverhalten habe, subjektiv ausnahmsweise entlastende Umstände darzutun und notfalls nachzuweisen; ein sog. Augenblicksversagen, eine kurzfristige Geistesabwesenheit", selbst eine schreckbedingte Fehlreaktion entlaste den Unglücksfahrer nicht (BGH VersR 1992, 1086; 1997, 352; ihm folgend die Mehrheit der Oberlandesgerichte, vgl. OLG Köln r + s 1997, 234 f.; OLG Hamm VersR 1995, 92; r + s 1999, 145 und 361; OLG Oldenburg r + s 1997, 149; OLG Frankfurt am Main (14. ZS) OLGR Frankfurt 2000, 44 f.). Diese rechtlichen Einschätzungen würden, würde der Senat ihnen folgen, zur Annahme grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls und damit zur Abweisung der Klage zwingen: Der Kläger hat seine" Ampel bei Rotlicht passiert. Für dieses objektiv grobe Fehlverhalten lassen sich denkbare Gründe nur in einer unbewußten persönlichen Fehlverarbeitung irgend eines äußeren Signals, höchstwahrscheinlich ausgehend von einer in seinem Blickfeld liegenden anderen, gerade nicht für ihn geltenden Ampel, finden. Weitergehende, andersartige entlastende Gründe hat er nicht vorgetragen (nicht vortragen können). Seine Fehlreaktion stellt sich ­ deshalb ­ als ein typisches Augenblicksversagen" dar; auf der Grundlage der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung wäre ohne weiteres von dem objektiv groben Verstoß auf subjektive Unentschuldbarkeit zu schließen.

3.

Sinn und Zweck des § 61 VVG verbieten aus der Sicht des erkennenden Senats aber eine solche Beurteilung.

a) Schon der rechtstheoretische Ausgangspunkt ist aus der Sicht des Senats abweichend von der Einschätzung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu formulieren: Der Begriff der groben Fahrlässigkeit" ist nicht für alle Rechtsgebiete gleich zu bestimmen. Denn die konkrete Bedeutung eines Rechtsbegriffes läßt sich erst aus der - gesetzlichen oder vertraglichen - Norm erschließen, deren Regelungszweck sie verwirklichen helfen soll (Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1977, 50/52).

b) Verknüpft § 61 VVG den Begriff grober Fahrlässigkeit mit der Leistungspflicht des Versicherers, dann müssen Inhalt, Zielrichtung und Reichweite des gesetzlichen Tatbestandsmerkmales orientiert am Zweck der - konkreten - Versicherung beurteilt werden.

c) Zentraler Zweck der Vollkaskoversicherung ist die Deckung des alltäglichen Verkehrsunfallrisikos, dies konzentriert auf Fälle eigenen Versagens des Versicherten. Die Beschädigungs- und Verlustrisiken, die mit dem Erwerb und Betrieb eines Kraftfahrzeuges an erster Stelle verbunden sind, sind die Risiken von Verkehrsunfall und Entwendung. Das Entwendungsrisiko ist im Rahmen der Teilkaskoversicherung abgedeckt; das Verkehrsunfallrisiko ist insoweit, als der Unfallgegner verantwortlich ist, durch dessen Haftpflichtversicherung gedeckt; was als zentraler Zweck der Vollkaskoversicherung verbleibt, ist die andere Seite des Verkehrsunfallrisikos, die wirtschaftliche Absicherung der Folgen selbst verschuldeter Unfälle. Ganz so definiert es übrigens auch - wie aus der allgemein zugänglichen Werbung großer Versicherer bekannt ist - die Versicherungswirtschaft selbst.

d) Will § 61 VVG im Prämieninteresse der Gesamtheit der Versicherungsnehmer das versicherte Risiko dahin eingrenzen, daß besonders grobe Eingriffe des Versicherungsnehmers, besonders grobe Gefährdungen des versicherten Gutes vom Versicherungsschutz ausgenommen werden (Prölss in Prölss/Martin, VVG, 26. Aufl. 1998, § 61 Anm. 1), dann können mit dieser Eingrenzung nicht solche Mißgeschicke gemeint sein, die jedem", auch dem im allgemeinen sorgsamen Versicherungsnehmer unterlaufen können. Denn es ist ja - s. o. c) - gerade der Blick auf das alltägliche Unfallrisiko und damit bei realistischer Sicht vor allem der Blick auf die menschliche Unzulänglichkeit, der die tragende Grundlage für den Abschluß eines Kaskoversicherungsvertrages abgibt. Das Wissen darum, daß auch der im allgemeinen sorgsam handelnde, stets konzentriert fahrende Kraftfahrer einmal einer folgenschweren Fehleinschätzung, einer Ablenkung, einer Schreck- oder Fehlreaktion unterliegen kann, schafft nicht nur das persönliche Motiv zum Abschluß eines Vollkasko-Versicherungsvertrages; in der Absicherung der Folgen typisch menschlichen Fehlverhaltens markiert es den Zweck des Vollkasko- Versicherungsvertrages schlechthin.

Hier wiederum ist es gerade das "Augenblicksversagen", in dem sich die typisch menschliche Anfälligkeit für Ablenkungen, Fehleinschätzungen und Fehlreaktionen besonders anschaulich zeigt. Die Folgen solchen Augenblicksversagens aus dem Kreise der versicherten Risiken auszunehmen, würde eine mit dem Zweck der Vollkaskoversicherung unvereinbare Aushöhlung des Versicherungsschutzes bedeuten.

4.

a) Genau solches aber ist Ergebnis der höchstrichterlichen Rechtsprechung, nach der aus einem objektiv groben Pflichtverstoß - so der Mißachtung roten Ampellichts - regelhaft soll auf die subjektive Unentschuldbarkeit dieses Verstoßes geschlossen werden können (BGH VersR 1992, 1086). Eine derartige Verknüpfung erachtet der Senat schon aus rechtsmethodischer Sicht für unzulässig. So richtig es allgemein ist, daß das äußere Verhalten eines Menschen Rückschlüsse auf seine Bewußtseins- und Willenslage zuläßt, so verkehrt doch die regelhafte Verknüpfung des äußeren Fehlverhaltens mit dem Vorwurf subjektiv unentschuldbarer Verhaltenssteuerung das Merkmal, dessen Beurteilung der Schluß vom Äußeren auf das Innere dienen soll (§ 286 ZPO), in sein Gegenteil: Denn es ist - auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung - anerkannt, daß der Ausschlußtatbestand des § 61 VVG nur dann durchgreift, wenn sowohl die objektiv grobe Mißachtung anerkannter Sorgfaltsanforderungen als auch die besondere subjektive Vorwerfbarkeit positiv festgestellt sind (BGH VersR 1974, 853; 1989, 583). Mit dem regelhaften Schluß vom Äußeren auf das Innere wird das positiv vom Versicherer nachzuweisende Tatbestandsmerkmal aber faktisch in ein negatives Merkmal umgewandelt; es ist nunmehr der Versicherungsnehmer, der das Gericht soll davon überzeugen müssen, daß sein äußerlich grober Mißgriff ausnahmsweise zu entschuldigen sei. Nur am Rande fügt der Senat an, daß die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung angenommene regelhafte Verknüpfung auch nicht mit dem allgemein anerkannten Grundsatz zu vereinbaren ist, daß innere Vorgänge dem Anscheinsbeweis entzogen sind und der Tatrichter sich eine Überzeugung vom Maß des Verschuldens nur aufgrund einer Gesamtwürdigung der konkreten Umstände des Schadensfalles bilden darf (BGH VersR 1970, 588; 1972, 945; 1986, 254; OLG Köln NJW-RR 1991, 480; OLG Nürnberg VersR 1995, 331; Hanau a.a.O., § 277 Rz. 21).

b) Es sind auch ganz lebenspraktische Gründe, die aus der Sicht des Senats dem schnellen Schluß vom groben äußeren Fehlverhalten auf eine persönliche Unentschuldbarkeit entgegenstehen. Wenn der Bundesgerichtshof in der die nunmehr herrschende Auffassung tragenden Entscheidung (VersR 1992, 1085 f.) hervorgehoben hat, daß das Überfahren einer Kreuzung insbesondere dann hohe Gefahren berge, wenn sie für den Verkehrsteilnehmer durch rotes Ampellicht gesperrt ist, dann ist das zwar unbestreitbar richtig. Die Bezeichnung bestimmter äußerer Verstöße als bekanntermaßen besonders "gefahrenträchtig" bleibt aber dennoch im Blick auf das versicherte Risiko - so vor allem: das unfallbedingte Zerstörungs- und Beschädigungsrisiko - ohne eigentlichen Erkenntniswert: Für die Anwendung des § 61 VVG ist von Interesse nur der wirklich eingetretene Versicherungsfall, der wirklich geschehene Unfall. Im Blick auf diesen wirklich geschehenen Unfall aber war jeder unfallursächliche Verstoß gleichwertig, gleich gefährlich; das ergibt sich schlicht daraus, daß er konkret zu einem Unfall geführt hat.

c) Was die besondere Gefährdung, von der § 61 VVG die Versichertengemeinschaft entlasten will, ausmacht, ist nicht der abstrakte Charakter eines Fehlverhaltens, es ist die persönliche Fehlhaltung des Versicherungsnehmers, die Haltung, das nicht beachten zu wollen, was jedem redlichen Versicherungsnehmer einleuchten muß, und die Vorkehrungen für den Schutz des versicherten Gutes nicht zu treffen, die jeder auch nur durchschnittlich sorgfältige Versicherungsnehmer treffen würde. Eine solche Haltung aber kommt in einem Augenblicksversagen", in einer ­ sei es folgenschweren ­ Fehleinschätzung oder Fehlreaktion, wie sie jedem, auch dem im allgemeinen sorgfältigen und verantwortungsbewußten Menschen einmal unterlaufen kann, nicht zum Ausdruck.

5.

a) Will § 61 VVG die wirtschaftlichen Interessen des Versicherers - der Gemeinschaft der Versicherten - durch Ausgrenzung solcher Verhaltenstendenzen schützen, die auf Gleichgültigkeit und Sorglosigkeit beruhen, dann umschreibt dies die wirtschaftlichen Interessen, die gleichsam den Gegenpol zum Entschädigungsinteresse des Versicherungsnehmers darstellen. Eine weitergehenden Entlastungszweck verfolgt § 61 VVG nicht.

b) Nur am Rande fügt der Senat deshalb an, daß das wirtschaftliche Interesse der Versicherer - der Gemeinschaft der Versicherten - ohnedies deutlich geringer zu sein scheint, als es in gelegentlichen Äußerungen in der Literatur zum "Entlastungszweck" des § 61 VVG anklingt (vgl. Prölss in Canaris/Diderichsen, Festschrift für Karl Larenz zum 80. Geburtstag, 1983, 503 f.; vgl. denselben in Prölss/Martin, § 61 Rz 1). Hat nämlich - wie durch mehrere Presseveröffentlichungen allgemein bekannt geworden ist - eine kleine Reihe bedeutender Versicherer auf die Anwendung des § 61 VVG im Kaskoversicherungsverhältnis (Ausnahme: Mißbrauch von Alkohol oder Drogen) verzichtet, dann zwingt dies zu dem Schluß, daß das entsprechende Risiko durchaus kalkulierbar" ist; desto besser kalkulierbar ist es für eine auf den Regelungszweck des § 61 VVG reduzierte Anwendung der Ausnahmevorschrift.

6. Auf der Grundlage der vom Senat gefundenen Rechtsauffassung ergibt sich für die Anwendung des § 61 VVG in dem hier zu entscheidenden Rechtsstreit das Folgende:

Der Kläger hat sich eines objektiv groben Verstoßes gegen die Regeln des Straßenverkehrs geltend gemacht, indem er trotz für ihn roten Ampelsignals in die Kreuzung eingefahren ist; dieser objektiv grobe Verstoß führte den Versicherungsfall herbei.

Subjektive Unentschuldbarkeit aber hat sich nicht feststellen lassen. Der Kläger hat zwar die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht beachtet, hat sich vor dem Anfahren nicht durch einen bewußten Blick auf seine" Ampel davon vergewissert, daß diese auf grünes Licht umgesprungen wäre (§ 276 Abs. 1 Satz 2 BGB). Sorglosigkeit oder Gleichgültigkeit im Umfang mit dem versicherten Gut - seinem versicherten Wagen -, ein Außerachtlassen all dessen, was einem redlichen Versicherungsnehmer als notwendig einleuchten muß, ist ihm aber nicht vorzuwerfen. Belegt dadurch, daß er mit Bußen wegen gewichtigen Verkehrsverstößen nicht erkennbar belastet ist, belegt auch durch den Eindruck eines keinesfalls ungewöhnlich sorglosen Mannes, wie er ihn vor dem Senat machte, läßt sich das Fehlverhalten des Klägers nur durch ein Augenblicksversagen" erklären. Ihm muß, was der Senat für ebenso mißlich wie menschlich hält, eine Fehldeutung irgend eines in seinem Blickfeld liegenden optischen Signals mit der Folge unterlaufen sein, daß er subjektiv von der gleichsam blitzlichtartigen Überzeugung erfüllt war, es sei soeben grün geworden, und daraufhin losfuhr.

Ein - vor allem: erhöhter - Vorwurf ist ihm auch nicht deshalb zu machen, weil er sich, nachdem er an der Ampel angehalten hatte, nach links umsah, seinen Blick also schweifen ließ und nicht konzentriert seine" Ampel fixierte. In diesem Abschweifen des Blickes mit der Folge, daß er durch den Anblick seines Arbeitskollegen abgelenkt wurde, dürfte zwar der Ansatz zu der dann folgenden Fehl-Wahrnehmung und der durch sie veranlaßten Fehl-Reaktion gelegen haben. Daß Kraftfahrer sich während des Wartens an einer Ampel umsehen, entspricht aber ganz dem üblichen Verhalten. Die einzige "Gefahr", mit der der Kraftfahrer aus diesem Verhalten heraus rechnen muß, ist im allgemeinen auch die, verspätet anzufahren, nicht aber - wie hier - verfrüht.

7.

Der Senat läßt die Revision zu, da sein Urteil von der in VersR 1992, 1085 f. veröffentlichen Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 08.07.1992 - IV ZR 293/91 - abweicht (in den wesentlichen inhaltlichen Aspekten auch von der in VersR 1997, 351 f. veröffentlichen Entscheidung vom 18.12.1996 - IV ZR 321/95 -) und die vom Senat abweichend von der Beurteilung des Bundesgerichtshofs gefundene Auslegung des § 61 VVG das Urteil trägt (§ 546 Abs. 1 Satz 2 Ziffer 2 ZPO).

8.

Die weiteren Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 284 Abs. 2, 286 BGB, 91, 708 Ziffer 10, 711, 546 Abs. 2 ZPO.

Ende der Entscheidung

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