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Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 12.03.2009
Aktenzeichen: 3 Ss 71/09
Rechtsgebiete: AufenthG
Vorschriften:
AufenthG § 95 |
Gründe:
Das Amtsgericht Hanau verurteilte den Angeklagten am 19.08.2008 wegen eines Vergehens des unerlaubten Aufenthaltes nach bestandskräftiger Ausweisung nach §§ 95 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1b AufenthG zu einer Freiheitsstrafe von 11 Monaten. Seine Berufung gegen dieses Urteil hat das Landgericht Hanau verworfen. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit der Revision, die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützt ist.
I.
Nach den getroffenen Feststellungen reiste der Angeklagte erstmals im Dezember 1998 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Wenige Monate nach seiner Einreise beging der Angeklagte Betäubungsmitteldelikte und wurde deswegen durch Urteil des Amtsgerichts Freiburg wegen unerlaubten gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in sechs Fällen zu einer Jugendstrafe von 6 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Ein von ihm bei der Einreise gestellter Asylantrag wurde am 26.02.1999 vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge abgelehnt. Die Ablehnung war verbunden mit der Ausreiseaufforderung mit Abschiebungsandrohung (bestandskräftig seit dem 19.03.1999). Am 16.08.1999 erließ das Regierungspräsidium Freiburg eine Ausweisungsanordnung, die seit dem 28.09.1999 unanfechtbar ist.
Seitdem reiste der Angeklagte mehrmals aus dem Bundesgebiet aus und wieder ein.
Die Identität des Angeklagten ist ungeklärt; er verfügt weder über einen Pass noch über ein Passersatzdokument, weshalb er zunächst eine bis zum 30.06.2007 befristete Duldung erhalten hatte. Nach dem 30.06.2007 kümmerte er sich weder um die Verlängerung der Duldung noch um die Beschaffung eines Passersatzdokuments. Er verließ auch nicht das Bundesgebiet, sondern hielt sich hier weiterhin auf.
Am 15.06.2008 wurde er vorläufig festgenommen.
II.
Die Revision ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingereicht und ebenso begründet worden. Sie hat auch in der Sache Erfolg.
Die Feststellungen des Landgerichts Hanau tragen den Schuldspruch wegen eines Verstoßes gegen § 95 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1b AufenthG nicht. Der Angeklagte hat sich zwar entgegen §§ 3 Abs. 1 i.V.m. 48 Abs. 2, 4 Abs. 1, 11 Abs. 1 S. 1 AufenthG auch nach Ablauf der zeitlich befristeten Duldung in der Bundesrepublik aufgehalten und dabei weder einen Aufenthaltstitel, noch eine Duldung besessen noch war er im Besitz eines Passes oder Passersatzdokuments.
Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 06.03.2003 - 2 BvR 397/02 (in StV 2003, 553f.) müssen die Strafgerichte jedoch selbständig prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung im Tatzeitraum gegeben waren. Kommen sie zu der Überzeugung, die Voraussetzungen hätten vorgelegen, scheidet eine Strafbarkeit des Ausländers wegen unerlaubten Aufenthaltes nach § 95 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 1 b AufenthG aus.
Diese Prüfung hat das Landgericht Hanau nicht vorgenommen.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 06.03.2003 ist zwar zu § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG (entspricht § 92 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) ergangen, sie betrifft aber auch die Rechtslage nach dem Aufenthaltsgesetz, das in wesentlichen Teilen mit Wirkung vom 01.01.2005 in der Fassung vom 25.02.2008 an die Stelle des Ausländergesetzes getreten ist (bgl.: dazu OLG Nürnberg, Urteil vom 16.01.2007 - 2St OLG Ss 242/06 -; OLG Frankfurt/M, Beschluss vom 18.05.2006 - 2 Ss 23/06 -).
Während § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG die Strafbarkeit des unerlaubten Aufenthaltes davon abhängig macht, dass die Abschiebung nicht ausgesetzt, d.h. nicht geduldet ist, beinhaltet die Vorschrift des § 95 Abs. 2 Nr. 1b AufenthG eine solche Einschränkung nicht. Trotzdem scheidet eine Strafbarkeit des Ausländers nach § 95 Abs. 2 Nr. 1b AufenthG aus, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung im Tatzeitraum gegeben waren.
Dies folgt aus der vergleichbaren Tatbestandsverwirklichung. Der Tatbestand des § 95 Abs. 2 Nr. 1b AufenthG kann durch Verbleiben im Inland trotz Ausweisung und vollziehbarer Ausreisepflicht verwirklicht werden. Der unerlaubt einreisende Ausländer ist vollziehbar ausreisepflichtig (§ 58 Abs. 2 AufenthG). Wenn die freiwillige Erfüllung der Ausreisepflicht nicht gesichert ist, muss der unerlaubt eingereiste Ausländer abgeschoben werden (§ 58 Abs. 1 AufenthG), es sei denn, die Abschiebung ist nach § 60a AufenthG vorübergehend auszusetzen (Duldung). Die Ausländerbehörde könnte danach durch Untätigkeit dazu beitragen, dass sich der unerlaubt eingereiste Ausländer allein durch sein Verbleiben im Inland wiederholt nach § 95 Abs. 2 Nr. 1b AufenthG strafbar macht. Das ist mit dem im Strafrecht geltenden Schuldprinzips nicht vereinbar (vgl. BVerfGE, a.a.O.).
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist auch auf den Tatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG anwendbar (vgl. dazu OLG Frankfurt/M, Beschluss vom 12.08.2003 - 3 Ws 932-03 m.w.N.; OLG Nürnberg, Urteil vom 16.01.2007 - 2St OLG Ss 242/06 -).
Der Tatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt zunächst voraus, dass der Angeklagte der Ausweispflicht nach § 3 Abs. 1 AufenthG unterliegt, was hier der Fall ist.
Des Weiteren ist zu prüfen, ob sich der passlose Angeklagte unter Umständen auch mit einem Ausweisersatz, also einer mit Angaben zur Person und einem Lichtbild versehenen Duldungsbescheinigung, hätte ausweisen können (§ 48 Abs. 2 AufenthG, "qualifizierte Duldung"). Die Erteilung eines Ausweisersatzes nach §§ 48 Abs. 2, 60a Abs. 4 AufenthG setzt voraus, dass der Ausländer im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung ist und dass er weder einen Pass besitzt noch in zumutbarer Weise einen erlangen kann.
Nach den Feststellungen des Landgerichts besaß der Angeklagte zwar im Zeitpunkt seiner Festnahme weder einen Pass noch ein Ausweisersatzdokument, noch bemühte er sich um die Verlängerung seiner Duldung und die Beschaffung eines Ausweisersatzes. Jedoch hätte das Landgericht nach den Grundsätzen des Bundesverfassungsgericht (BerfVGE a.a.O.) darüber hinaus Feststellungen dazu treffen müssen, ob dem Angeklagten zur Tatzeit eine Duldungsbescheinigung in Form eines Ausweisersatzes zu erteilen gewesen wäre. In diesem Fall wäre der Angeklagte nicht wegen passlosen Aufenthaltes strafbar.
Der neue Tatrichter wird zu prüfen haben, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung im Tatzeitraum gegeben waren. Dabei ist die einschränkende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu berücksichtigen. Danach bleibt der Ausländer strafbar, wenn die Ursache für die (gesetzwidrige) Untätigkeit der Ausländerbehörde (Nichterteilung der Duldungsentscheidung nach § 60a Abs. 2 AufenthG) allein im Verantwortungsbereich des Ausländers liegt, weil er beispielsweise abgetaucht ist, jeden Kontakt mit der Ausländerbehörde meidet und insbesondere von vornherein nicht offenbart, dass er in die Bundesrepublik Deutschland (wieder) eingereist ist (vgl. BGH, Urteil vom 06.10.2006 - 1 StR 76/04).
Ende der Entscheidung
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