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Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 07.11.2001
Aktenzeichen: 3 Ws 1022/01
Rechtsgebiete: StGB, StVollstrO, StPO


Vorschriften:

StGB § 20
StGB § 21
StGB § 63
StVollstrO § 44 b
StVollstrO § 44
StPO § 67 III
StPO § 454 II
Die Änderung einer Vollstreckungsreihenfolge (nunmehr: Freiheitsstrafe vor Unterbringung wegen fehlender Therapiemotivation) kann nicht ohne gutachterliche Klärung der Frage erfolgen, ob eine Fehleinweisung vorliegt.
OBERLANDESGERICHT FRANKFURT AM MAIN BESCHLUSS

3 Ws 1022/01

Verkündet am 08.11.2001

In der Strafvollstreckungssache

gegen ...

wegen Vergewaltigung pp,

hier: Vorwegvollzug der Freiheitsstrafe, Erledigung der Maßregel,

hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluß der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Kassel vom 21.8.2001 am 8. November 2001 beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluß wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.

Gründe:

Der mehrfach einschlägig vorbestrafte Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Landgerichts Gera vom 6.6.1996 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem Raub und wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Zugleich wurde die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Dem Urteil lag das auf der Grundlage des schriftlichen Gutachtens vom 7.10.1995 in der Hauptverhandlung erstattete Gutachten des Sachverständigen Dr. S. zugrunde, das offenbar die Ergebnisse des schriftlichen, am 13.5.1996 erstatteten Gutachtens des Psychiaters Dr. G. mit einbezog. In Übereinstimmung mit diesem gelangte das Landgericht jedenfalls zu dem Ergebnis, die abgeurteilten Taten hätten auf einer (Borderline-) Persönlichkeitsstörung (mit Krankheitswert) beruht, welche die Schuldfähigkeit beeinträchtigt habe.

Die Maßregel wurde zunächst in der Zeit vom 25.9.1997 ­ 7.10.1998 in der Klinik für gerichtliche Psychiatrie in H. vollstreckt. Auf Anordnung der beteiligten Staatsanwaltschaften wurden sodann unter Bezugnahme auf § 44 b StVollstrO widerrufene Strafreste aus Vorverurteilungen und anschließend bis zum 25.5.2000 2/3 der zweijährigen Strafe aus einer Nachverurteilung durch das Amtsgericht Butzbach vom 23.4.1998 ­wegen im Vollzug begangener Körperverletzung pp zum Nachteil der Anstaltspsychologin- vollstreckt.

Zuvor und zwar mit forensisch-psychiatrischem Prognose-Gutachten" vom 12.8.1998", u.a. unterzeichnet von ihrem ärztlichen Direktor, hatte die Klinik in H. detailliert dargelegt, es handele sich aus ihrer Sicht bei der Anordnung der Maßregel des § 63 StGB im Falle des Verurteilten um eine Fehleinweisung. Die dem Urteil zugrunde liegende Diagnose der im Erkenntnisverfahren herangezogenen Sachverständigen, der Verurteilte habe an einer Persönlichkeitsstörung mit Krankheitswert gelitten, die ­wenn auch im Zusammenspiel mit weiteren Defekten und Faktoren- zur erheblichen Verminderung seiner Schuldfähigkeit bei Begehung der Tat geführt habe, sei unrichtig. Der Verurteilte habe damals wie heute lediglich Kriterien einer antisozialen/dissozialen Persönlichkeitsstörung aufgewiesen; eine Einschränkung seiner Schuldfähigkeit habe (auch) zum Tatzeitpunkt nicht vorgelegen. Mit weiteren, im Hinblick auf die von den Staatsanwaltschaften beabsichtigte Verfahrensweise gem. § 44 StVollstrO erstatteten Gutachten vom 25.8.1998 schlug die Klinik vor, jedenfalls eine Änderung der Vollstreckungsreihenfolge vorzunehmen, weil keinerlei Einsicht, Interesse, Motivation und Bereitschaft des Verurteilten bestehe, seine dissozialen Denk- und Verhaltensmuster zu verändern. Seine bekundete Therapiemotivation stelle nur ein Lippenbekenntnis" dar. Fortschritte im therapeutischen Prozeß hätten nicht erzielt werden können, weil sich der Verurteilte auf ein therapeutisches Gespräch nicht einlasse. Nicht einmal eine in sich widerspruchsfreie Darstellung seiner Biographie habe die Anstalt von ihm erlangen können. Der Verurteilte betrachte den Maßregelvollzug gegenüber dem Strafvollzug als luxuriösere Variante". Eine Änderung seiner Einstellung sei nur bei entsprechendem Leidensdruck" möglich, der allenfalls erzeugt werden könne, wenn die weitere Dauer des Vollzugs allein von ihm abhänge", also die erkannten Strafen bereits vollstreckt seien.

Unter Hinweis auf letztgenannte Stellungnahme beantragte die Staatsanwaltschaft Gera nunmehr, nachträglich die Vollstreckungsreihenfolge gem. § 67 III StPO zu ändern.

Mit dem angefochtenen Beschluß hat die Strafvollstreckungskammer ­allein auf der Grundlage des zuletzt genannten Gutachtens der Klinik- angeordnet, daß die Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Gera vom 6. Juni 1996 bis zur Erreichung des 2/3 - Zeitpunktes (12.5.2004) vor der Unterbringung des Verurteilten in der Maßregel zu vollstrecken sei.

Hiergegen richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte sofortige Beschwerde des Verurteilten, die in der Sache -zumindest vorläufigen- Erfolg hat.

Die Anordnung des Vorwegvollzugs der Freiheitsstrafe scheidet gegenwärtig aus. Sie verbietet sich, wenn sich im Verlaufe der Vollstreckung ergibt, daß der Verurteilte in Ermangelung einer Störung i.S. der §§ 20, 21 StGB zu keiner Zeit heilungsbedürftig war. Die Prüfung, ob eine Fehleinweisung vorliegt ist damit logisch vorrangig (st. Rspr. des Senats vgl. Beschl. v. 31.5.1999 ­3 Ws 149/99 und v. 30.6.200 ­3 Ws 670/00). Diese Prüfungsreihenfolge hat die Strafvollstreckungskammer außer acht gelassen und damit verfahrensfehlerhaft die Vollstreckungsreihenfolge umgekehrt.

Die Ausführungen im Gutachten das psychiatrischen Krankenhauses in H. vom 12.8.1998 sind hinreichend, um ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit der im Urteil des Landgerichts Gera vom 6.6.1996 getroffenen Unterbringungsentscheidung zu treffen. Allein aufgrund dieser Ausführungen steht indes nicht fest, daß der Verurteilte zur Tatzeit (oder jetzt) nicht (oder nicht mehr) an einem Zustand litt (oder leidet), der durch die in § 20 StGB genannten seelischen Störungen oder Abartigkeiten gekennzeichnet ist, was allein ­und bereits zum jetzigen Zeitpunkt- rechtfertigen würde, die Maßregel für erledigt zu erklären (st. Rspr. des Senats, vgl. NJW 1978, 2397 w.N. im Beschl. v. 30.6.2000 ­3 Ws 670/00). Denn die Unterbringungsentscheidung beruht auf detailreichen und nicht offenkundig fehlerhaften Gutachten (Dr. S. und ­mittelbar- Dr. G.). Ferner handelt es sich bei der Abgrenzung zwischen einer Borderline- Störung mit Krankheitswert und einer (bloßen) antisozialen/dissozialen Störung sowie der weiteren Frage, ob solche Störungen im Zusammenhang mit anderen Defekten und Faktoren die Bejahung der Voraussetzungen des § 21 StGB rechtfertigen, um eine besonders schwierig zu beantwortende Sachverständigenfrage. Schließlich wurde das Gutachten vom 12.8.1998 von eben der Klinik erstattet und von gerade den Personen verfaßt, die mit der weiteren Stellungnahme vom 25.8.1998 die Auffassung vertreten haben, die weitere Behandlung in ihrem Hause sei nicht sachgerecht.

Bei dieser Sachlage darf mithin weder die Maßregel bereits jetzt für erledigt erklärt, noch gar unter Aussparung der Fehleinweisungsfrage die Vollstreckungsreihenfolge geändert werden. Vielmehr ist ein weiteres externes Gutachten einzuholen. Dieses muß sich in erster Linie zu der Frage verhalten, ob mit Sicherheit feststeht, daß der Verurteilte nicht (oder nicht mehr) einer seelischen Störung oder Abartigkeit i.S. des § 20 StGB leidet. Gegebenenfalls werden ergänzende Stellungnahmen der im Erkenntnisverfahren tätigen Sachverständigen einzuholen sein. Falls der externe Gutachter die genannte Frage nicht sicher beurteilen kann, wird er sich allerdings auch zur Frage zu äußern haben, ob der Zweck der demnach nicht für erledigt zu erklärenden Maßregel dadurch leichter erreichbar ist, daß die Reihenfolge der Vollstrekkung für einen gewissen Zeitraum (welchen ?) umgekehrt wird. Zur Beantwortung beider Fragen (primär allerdings der zweiten) ist eine Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt über die zwischenzeitliche Entwicklung des Verurteilten im Strafvollzug hilfreich, die vorsorglich vom Senat bereits angefordert wurde.

Die Vorgehensweise der Strafvollstreckungskammer, statt der gebotenen Einholung eines externen Sachverständigengutachtens zur Frage der Fehleinweisung und zudem auf der Grundlage einer schon lange Zurückliegenden Stellungnahme der Klinik ohne jede Berücksichtigung der zwischenzeitlichen Entwicklung des Verurteilten im Strafvollzug den Vorwegvollzug anzuordnen ist demgegenüber den Fällen vergleichbar, in denen die Kammer es versäumt, ein Gutachten gem. § 454 II StPO einzuholen. Damit liegt ein Verfahrensfehler von besonderem Gewicht vor, der die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Zurückverweisung der Sache an die Strafvollstreckungskammer gebietet (vgl. Senat, Beschl. v. 30.6.2000 ­3Ws 670/00).

Der Senat weist abschließend darauf hin, daß die Vollstreckungsbehörde gehalten sein dürfte, nach der erfolgten Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und solange über die Erledigung der Maßregel oder den Vorwegvollzug der Strafe nicht erneut entschieden ist, entsprechend der gesetzlichen Regel (§ 67 I StGB) die Maßregel (und nicht die Strafe) aus dem Urteil des Landgerichts Gera vom 6.6.1996 zu vollstrecken.



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