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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 05.10.2001
Aktenzeichen: 3 Ws 925/01
Rechtsgebiete: StGB, GG, StPO


Vorschriften:

StGB § 67 d Abs. 3
StGB § 2 Abs. 6
StGB a.F. § 2 Abs. 4
StGB n.F. § 2 Abs. 6
StGB § 63
StGB § 2 VI
GG Art. 103 Abs. 2
GG Art. 2 Abs. 2
StPO § 463 Abs. 1
StPO § 454 Abs. 1 S. 3
Der Fortdauer der Sicherungsverwahrung nach 10 Jahren steht bei einem Sexualstraftäter trotz rückwirkender Schlechterstellung nicht eine Verfassungswidrigkeit des § 67 d Abs. 3 StGB (i.d.Fassung des G. v. 26.01.1998) entgegen.
OBERLANDESGERICHT FRANKFURT AM MAIN

BESCHLUSS

In der Strafvollstreckungssache

gegen ...

wegen versuchter Vergewaltigung

hier: Antrag auf Aussetzung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung

hat der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der 7. Strafkammer - Strafvollstreckungskammer - des Landgerichts Marburg vom 27.8.01 am 05.10.2001 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde wird aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung auf Kosten des Verurteilten ( § 473 I StPO ) verworfen.

Gründe:

Der Verurteilte wurde durch das Landgericht Kassel am 22.10 1982 wegen versuchter Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt Zugleich wurde Sicherungsverwahrung angeordnet. Zehn Jahre der Sicherungsverwahrung waren am 2.8.01 vollstreckt.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat die Strafvollstreckungskammer die angeordnete Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nicht zur Bewährung ausgesetzt und die Maßregel nicht für erledigt erklärt.

Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde des Verurteilten ist zulässig, sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.

Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung kann aus den im angefochtenen Beschluss zutreffend dargestellten Erwägungen weder zur Bewährung ausgesetzt werden, noch ihre Erledigung mit Ablauf von 10 Jahren eintreten.

Die Strafvollstreckungskammer hat sich umfassend und sorgfältig mit dem Lebensweg des Verurteilten, seinen zum Teil einschlägigen Vorverurteilungen sowie seinem Verhalten im Vollzug auseinandergesetzt und daraus den Schluss gezogen, dass bei dem Verurteilten nach wie vor die Gefahr besteht, dass er infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch und körperlich schwer geschädigt werden ( § 67 d Abs.2 und 3 StGB ).

Zwar kann bei langer Haftdauer den Umständen der Taten und dem Vorleben des Verurteilten nur noch eingeschränkte Bedeutung zukommen, eine Erörterung ist aber in den Fällen wie dem vorliegenden unerlässlich, wenn sich daraus Rückschlüsse auf die Persönlichkeitsstruktur eines Verurteilten ziehen lassen.

Die Kammer findet sich bei ihrer Prognoseentscheidung in Übereinstimmung mit dem eingeholten Gutachten der Sachverständigen Drs. M.-I., Sch. und B.. Entgegen dem Beschwerdevorbringen handelt es sich bei den von den Gutachtern diagnostisch und prognostisch verwandten Untersuchungsmethoden ­ worauf schon die Strafvollstrekkungskammer zu Recht hingewiesen hat ­ um Kriterienkataloge die aufgrund langjähriger kriminalpsychiatrischer Erfahrung erstellt worden sind, wobei allein der zur Beurteilung der Wahrscheinlichkeit von neuerlichen Sexualstraftaten von Boer, Hart, Webster und Gautier entwickelte "SVR 20" Katalog noch nicht länger systematisch und wissenschaftlich begleitet eingesetzt wurde. Der Vorwurf einer subjektiven bzw. willkürlichen Bewertung lässt sich hieraus jedoch nicht herleiten, ist der "SVR 20" Katalog doch lediglich als Kontrollmethode angewandt worden.

Soweit der Beschwerdeführer vorträgt, eine mögliche Hirnstörung sei nicht geprüft worden, ist dies in dieser Ausschließlichkeit nicht richtig: vielmehr war eine mögliche hirnorganische Beeinträchtigung gerade Anlass, den Verurteilten sowohl dem Bentonals auch dem Interferenztest zu unterziehen. Dass eine ausgesprochene organische Hirndiagnostik nicht Gegenstand des Gutachtens war, stellt keinen Mangel dar, da eine positiv festgestellte hirnorganische Störung nur als ein weiterer ungünstiger prognostischer Faktor zu werten wäre, da sie die Fähigkeit des Verurteilten zu willentlicher Verhaltensänderung deutlich mindern würde.

Dass das Gutachten der Sachverständigen aufgrund einer Sehschwäche des Verurteilten von einer unzutreffenden Bewertungsgrundlage ausgehe, entbehrt jeder Grundlage: ausweislich Bl.67 f des Gutachtens wurde dem Verurteilten auf seine Intervention hin Gelegenheit gegeben, sich eine geeignete Sehhilfe zu beschaffen und der Test daraufhin von neuem durchgeführt.

Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist seine über Jahre hinweg gezeigte Leugnung jedweder Sexualdelinquenz für die Einschätzung seiner Gefährlichkeit von Bedeutung. Wenn auch das Leugnen der Tat allein für sich nicht ohne weiteres einer positiven Prognose entgegensteht ( vgl. Senatsbeschluss vom 11.3.99 ­3 Ws 218/99 m.w.N. ) hat der in der Vergangenheit massiv wegen Sexualstraftaten in Erscheinung getretene Beschwerdeführer durch sein beständiges Leugnen eine Aufarbeitung seiner den Straftaten zugrundeliegenden Problematik verhindert. Wenn hieraus die Sachverständigen den Schluss weiterer Gefährlichkeit des Verurteilten gezogen haben, ist dies nicht zu beanstanden. Die infolge des Bestreitens wesentlicher Tatumstände eingeschränkte Beurteilungsgrundlage für den Sachverständigen ist von dem Verurteilten hinzunehmen. Ein Sachverständigengutachten, das sich auf eine im Urteil widerlegte Tatdarstellung stützen würde, wäre im Ansatz verfehlt und damit wertlos ( vgl. OLG Frankfurt am Main a.a.O. ). Der Fortdauer der Sicherungsverwahrung steht auch nicht eine Verfassungswidrigkeit des § 67 d Abs. 3 StGB in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.1.1998 entgegen.

Zwar ist bei dem Verurteilten die Sicherungsverwahrung zu einem Zeitpunkt angeordnet worden, als sich die erstmals verhängte Sicherungsverwahrung nach einer zehnjährigen Vollsteckung automatisch erledigt hätte. Insoweit ist der Verurteilte von einer rückwirkenden Verschärfung betroffen. Jedoch verletzt diese ihn diese nicht in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG.

Die Möglichkeit rückwirkender Schlechterstellungen entspricht der Wertung des § 2 Abs. 6 StGB, wonach bei Maßregeln der Sicherung und Besserung das Gesetz zur Anwendung kommt, das zum Zeitpunkt der Entscheidung gilt, es sei denn, es ist gesetzlich etwas anderes bestimmt. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 2 Abs. 6 StGB wie auch der hier anstehenden Problematik inhaltlich noch nicht Stellung bezogen. Die Beschlüsse vom 29.2.2000 (NStZ-RR 2000, 281) und vom 3.12.1998 (NStZ 1999, 156) befassen sich nur mit der Vorfrage der Zulässigkeit bzw. der - für den dortigen Beschwerdeführer im konkreten Fall nachteiligen - notwendigen Abwägung der widerstreitenden Rechtsgüter im Rahmen der beantragten Eilentscheidung.

Jedoch hat der Bundesgerichtshof in einer seit 1971 nicht veränderten Rechtssprechung die Auffassung vertreten, dass § 2 Abs. 4 (a.F.) bzw. Abs. 6 (n.F.) StGB nicht dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG unterfalle. Der Grundgesetzgeber habe eine Strafrechtsordnung vorgefunden, die streng nach Strafe und Maßregel unterscheide. Da die Verfassungsbestimmung nur die Strafe unter das Rückwirkungsverbot stelle, müsse daraus geschlossen werden, dass der einfache Gesetzgeber hinsichtlich der Maßregeln freigestellt sei (BGH NJW 1971, 948).

1975 bekräftigte der Bundesgerichtshof im Zusammenhang mit einer Unterbringung nach § 63 StGB seine Auffassung, § 2 VI StGB sei mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar; Maßregeln seien keine Strafen, sondern in die Zukunft gerichtete vorbeugende Maßnahmen; es komme nicht auf die einzelne Tat an, sondern auf die Eigenschaft des Täters, die in der Tat lediglich ihren Ausdruck gefunden habe (BGH bei Dallinger MDR 75, 722f). Dieser Rechtsprechung wird im Schrifttum weitgehend gefolgt (Kunig in Münch/Kunig GGK III, 3. Aufl., 1996, Art 103 Rdnr. 20, 33; Schmidt/Bleibtreu in Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, 8. Aufl., 1994, Art 103 Rdnr 7, 10; Tröndle/Fischer, 50. Aufl., 2001, § 2 Rdnr. 14; Lackner/Kühl, 23. Aufl., 1999, § 1 Rdnr. 8). Präventive und erzieherische Maßnahmen, zu denen die Maßregeln des Strafgesetzbuches gehören, seien keine Strafen, würden mithin auch nicht von dem Begriff der "Strafbarkeit" aus Art 103 Abs. 2 GG umfasst.

In jüngerer Zeit haben sich gerade im Hinblick auf die hier relevante Problemstellung der Rückwirkung bei der Sicherungsverwahrung kritische Stimmen zur Rechtssprechung gemeldet. Ullenbruch (NStZ 1998, 326) hält die Unterscheidung von Strafe und Maßregel für formalistisch; das moderne Strafrecht unterscheide nicht mehr so streng zwischen Strafe und Vergeltung einerseits und Maßregel und Prävention andererseits, so dass das Rückwirkungsverbot auf alle Rechtsfolgen einer mit Strafe bedrohten Handlung anknüpfen müsse, die in ihrer tatsächlichen Wirkung einer Strafe gleichkämen. Das sei bei der Sicherungsverwahrung erfüllt, da sie in der Art der Vollstreckung und in ihren Auswirkungen einer Freiheitsstrafe gleichstehe. Auf die Funktionsähnlichkeit von Strafe und Sicherungsverwahrung stellt auch Kinzig (StV 2000, 330) ab.

Im Ergebnis vermögen die Argumente Ullenbruchs und Kinzigs nicht zu überzeugen. Allein die in mehrerer Hinsicht festzustellende Ähnlichkeit der Sicherungsverwahrung mit der Freiheitsstrafe rechtfertigt nicht die Gleichstellung beider im Hinblick auf den Begriff der "Strafbarkeit" aus Art 103 Abs. 2 GG. Es bleibt dabei, dass die Maßregeln der Besserung und Sicherung des Strafgesetzbuches einen auf die Person des Betroffenen bezogenen vorbeugenden Charakter haben, der an eine bestimmte Eigenart oder Eigenschaft des Täters anknüpft, sei es als psychische Erkrankung, sei es als Hang zu Straftaten oder als Hang zu berauschenden Mitteln mit der Folge der Straffälligkeit. Eine Repression für die der Anordnung zugrunde liegende Tat ist damit weder verbunden noch beabsichtigt. Art. 103 Abs. 2 GG zielt jedoch auf Strafen ab, die im Gegensatz zu Präventionsmaßnahmen zumindest auch - wenn auch nicht ausschließlich - auf Repression und Vergeltung für ein rechtlich verbotenes und vorwerfbares Verhalten geschaffen wurden (vgl. BVerfGE 20, 323, 331; 26, 186, 204).

Auch das sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebende allgemeine Rückwirkungsverbot steht der Fortdauer der Sicherungsverwahrung über 10 Jahre hinaus nicht entgegen. Dieses Rückwirkungsverbot leitet sich aus dem Grundprinzip der Verlässlichkeit der Rechtsordnung als Grundprinzip freiheitlicher Verfassungen ab. Es würde den Einzelnen in seiner Freiheit erheblich gefährden, dürfte die öffentliche Gewalt an sein Verhalten oder an ihn betreffende Umstände ohne weiteres im Nachhinein stärker belastende Rechtsfolgen knüpfen, als sie zu der Zeit des Ablaufes dieses Verhaltens oder des Eintritts dieser Umstände von dem damals geltenden Recht angeordnet waren. Dies gilt zumal dort, wo die angeordnete Rückwirkung mit einer tatbestandlichen Anknüpfung im Wesentlichen an Umstände der Vergangenheit einhergeht (BVerfGE 72, 200, 258).

In der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Fallgruppen entwickelt worden, die gleichwohl eine Rückwirkung rechtfertigen. Sie sind Ausprägung des Grundgedankens, dass allein zwingende Gründe des gemeinen Wohls oder ein nicht oder nicht mehr vorhandenes schutzbedürftiges Vertrauen des Einzelnen eine Durchbrechung des rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbotes zugunsten der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers rechtfertigen oder gar erfordern (BVerfGE 72, 200, 258).

Solche zwingenden Gründe bestehen hier und wurden vom Gesetzgeber nicht nur gesehen, sondern waren auch tragendes Motiv für die aktuelle Gesetzeslage (BT-Drucksache 13/9062 Seite 10): Es habe sich in Einzelfällen gezeigt, dass auch nach der Verbüßung der Strafe und einer zehnjährigen Sicherungsverwahrung die hochgradige Gefährlichkeit von Tätern fortbestehen kann. In diesen Fällen sei aber die Entscheidung zur Freilassung des Täters mit dem Sicherheitsinteresse der Bevölkerung nicht vereinbar. Wegen des Gewichts der bedrohten Rechtsgüter könne es bei dieser Tätergruppe nicht verantwortet werden, die mit einer Entlassung verbundenen Risiken einzugehen und im Extremfall abwarten zu müssen, bis sich der Täter erneut in schwerwiegender Weise vergangen habe. Dass der Beschwerdeführer vorliegend "nachweislich zu keinem Zeitpunkt das Lebensrecht von Menschen bestritten hat" vermag angesichts der von ihm begangenen schwerwiegenden Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zu keiner anderen Einschätzung führen.

Gemäss §§ 463 Abs.1, 454 Abs. 1 S. 3 StPO ist ein Verurteilter vor einer Entscheidung über die Aussetzung der Unterbringung mündlich zu hören. Der Verurteilte hat jedoch seine Vorführung zu dem anberaumten Anhörungstermin vor der Strafvollstreckungskammer ausdrücklich abgelehnt. Sein Verteidiger wurde hierüber zu Beginn der Anhörung informiert. Weder bei diesem Termin noch im Rahmen der eingelegten sofortigen Beschwerde hat er die Nichtanwesenheit seines Mandanten beanstandet. Auch der Verurteilte selbst ist hierauf in seinem Schreiben an die Kammer vom 21.8.01 nicht weiter eingegangen. Aufgrund der Gesamtumstände war daher von einem Verzicht auf eine mündliche Anhörung auszugehen.



Ende der Entscheidung

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