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Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 01.11.2006
Aktenzeichen: 3 Ws 977/06
Rechtsgebiete: GG, StPO


Vorschriften:

GG Art. 2
GG Art. 5
StPO § 119 Abs. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

Das Landgericht Frankfurt am Main hat den Angeklagten mit Urteil vom 9.5.2006 wegen Mordes in Tateinheit mit Störung der Totenruhe zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt und die Fortdauer der Untersuchungshaft (Haftgrund: § 112 III StPO) angeordnet. Die Untersuchungshaft wird in der JVA O1 vollzogen. Über die vom Angeklagten eingelegte Revision hat der Bundesgerichthof noch nicht entschieden.

Mit der A ...- GmbH hat der Angeklagte nach Angabe seines Verteidigers "einen Kooperationsvertrag abgeschlossen und seine Einwilligung zur umfassenden exklusiven und weltweiten Vermarktung seiner Lebensgeschichte" durch diese Firma erteilt. Die Firma plant eine TV-Dokumentation über den Angeklagten, den so genannten "...". Sie möchte den Angeklagten in mehreren ausführlichen Gesprächen in der Haftanstalt O1 interviewen. Die Dokumentation solle "nicht nur das Leben und die Tat beleuchten, sondern auch die gesellschaftliche Relevanz insbesondere in Bezug auf die anonymisierte Internetnutzung und der daraus resultierenden Radikalisierung herausstellen. Neben einem ausführlichen Interview mit dem Angeklagten sollen Angehörige, Freunde, Nachbarn, Experten aus den Bereichen Wissenschaft, Internet, Recht und Kriminalistik sowie Prozessbeteiligte zu Wort kommen."

Mit Schriftsatz vom 23.5.2006 hat der Angeklagte beantragt, zur Durchführung des Dokumentarfilmprojekts im Juni, August und Oktober 2006 jeweils für etwa zwei bis drei Stunden einen Raum in der JVA O1 zur Verfügung zu stellen, der Platz für die nötige Technik bietet (zwei Kameras, fünf Personen) und dem Angeklagten zu gestatten, dort die Interviews zu geben.

Mit Verfügung vom 1.9.2006 hat der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer den Antrag abgelehnt. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Angeklagten, der auch der Erfolg nicht zu versagen ist.

Dem Angeklagten stehen auch in der Untersuchungshaft die Grundrechte aus Art. 2 I und 5 I GG zu. Ihm dürfen in der Untersuchungshaft nur solche Beschränkungen auferlegt werden, die der Zweck der Untersuchungshaft oder die Ordnung in der Vollzugsanstalt erfordert (§ 119 III StPO, BVerfG, B. v. 19.7.1995 - 2 BvR 1439/95).

Der Zweck der Untersuchungshaft steht dem Antrag nicht entgegen. Zwar ist - wie das Oberlandesgericht in seinem Haftfortdauerbeschluss vom 22.7.2003 zutreffend ausgeführt hat - Fluchtgefahr nicht auszuschließen, jedoch besteht bei dem Angeklagten weder eine konkrete Flucht- noch eine Verdunkelungsgefahr.

Gerade in solchen Fällen "fordert der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, daß der Richter auch bei Anwendung des § 112 Abs. 4 StPO (entspricht insoweit dem geltenden §112 Abs. 3 StPO) den Zweck der Untersuchungshaft nie aus dem Auge verliert. Weder die Schwere der Verbrechen wider das Leben noch die Schwere der (noch nicht festgestellten) Schuld rechtfertigen für sich allein die Verhaftung des Beschuldigten; noch weniger ist die Rücksicht auf eine mehr oder minder deutlich feststellbare "Erregung der Bevölkerung" ausreichend, die es unerträglich finde, wenn ein "Mörder" frei umhergehe." (BVerfG, 15.12.1965, 1 BvR 513/65). Diese Grundsätze gelten auch im Rahmen der nach § 119 Abs. 3 StPO zu treffenden Entscheidungen.

Soweit die angefochtene Entscheidung ausführt im Falle eines Erfolges der Revision des Angeklagten "bestünde die Gefahr, dass durch die Schilderungen des Angeklagten in den gewünschten Interviews Details wieder anders als zuvor geschildert würden oder bisher nicht genannte Details genannt würden", und es erscheine "nicht völlig ausgeschlossen, dass neu bekannt werdende Details der Tat Einfluss auf eine Revisionsentscheidung haben könnten, wenn sie sich im Unterbewusstsein der zur Entscheidung Berufenen festsetzen" verkennt sie, dass die Untersuchungshaft nicht dazu dient, Einfluss auf das Einlassungsverhalten des Angeklagten zu nehmen, insbesondere einen Wechsel seiner Einlassung zu verhindern oder die Revisionsrichter davor zu bewahren, andere als die Ansichten des erkennenden Gerichts zur Kenntnis zu nehmen.

Die beantragte Genehmigung ist auch mit den Erfordernissen der Ordnung in der Vollzugsanstalt vereinbar. Die angefochtene Entscheidung nimmt insoweit Bezug auf die Einwände des Leiters der JVA O1, der sich auf die negativen Auswirkungen einer solchen Genehmigung auf den Vollzugsablauf beruft. Diese Einwände rechtfertigen die Ablehnung des Antrages jedoch nicht.

Der Umstand, dass der Angeklagte während des Interviews für seine Arbeit in der Wäscherei nicht zur Verfügung steht, kann keine Rolle spielen, denn er ist als Untersuchungsgefangener nicht zu Arbeit verpflichtet. Ohne Bedeutung ist auch, dass Mitgefangene negativ reagieren könnten, denn die Tat des Angeklagten ist den Mitgefangenen mit Sicherheit auch ohne zusätzliche Informationen durch Fernsehberichte hinreichend bekannt.

Auch sind schließlich keine Gründe ersichtlich, weshalb die Organisations- und Betriebsabläufe der Vollzuganstalt durch die beantragten Interviews in nicht mehr hinnehmbarer Weise ( vgl. BVerfG, B. v. 19.7.1995 - 2 BvR 1439/95 ) gestört werden könnten: Entgegen der Auffassung der JVA müsste nicht über 4 Monate hinweg ein Raum für das Filmteam vorgehalten werden, sondern lediglich an drei Arbeitstagen. Die Kontrolle von Besuchern ( hier der Mitarbeiter des Filmteams ) ist in einer JVA ebenso Routine wie das Kontrollieren mitgeführter Gerätschaften ( hier zwei Kameras ). Dabei ist im vorliegenden Fall noch zu beachten, dass sich weder in der Person der Besucher noch in der Person des Angeklagten - wie möglicherweise bei Personen, die wegen Verstoßes gegen das BtMG verurteilt worden sind - Anhaltspunkte für einen Missbrauch finden lassen und insbesondere das Einbringen unerlaubter Gegenstände eher fern liegt. Der mit den Kontrollen verbundene Zeitaufwand ist daher hinnehmbar. Dies gilt auch, soweit die Interviews dazu führen, dass ein Beamter während der Aufnahmen - auch nach Auffassung des Senats - anwesend sein muss. Die Auffassung der JVA, durch das Fehlen dieses einen Bediensteten könne "die Beaufsichtigung der Gefangenen nicht (mehr) in dem erforderlichen Umfang erfolgen", bzw. blieben "Dienstpositionen unbesetzt" und könnten "wichtige Dienstgeschäfte nicht, nur mit Verspätung oder durch Heranziehung von Bediensteten aus anderen Bereichen, die dann in diesen Bereichen wieder fehlen würden", erledigt werden, weshalb die Betriebs- und Organisationsabläufe der JVA in nicht mehr hinnehmbarer Weise gestört sein könnten, vermag der Senat nicht zu teilen. Diese Überlegungen sind nicht durch konkrete Tatsachen belegt.

Ebenso wenig bietet der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz im vorliegenden Fall einen Ansatz, die beantragten Interviews zu versagen. Es hängt in erster Linie von dem Interesse der Öffentlichkeit ab, ob der Angeklagte oder andere Insassen der JVA Gelegenheit erhalten, sich in den Medien zu den ihnen zur Last gelegten Taten zu äußern ( vgl. BVerfG, a.a.O. ). Die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat hat ein ganz besonderes öffentliches Interesse hervorgerufen, dafür, dass sich Anträge dieser Art wiederholen und damit die Möglichkeiten der JVA überfordert würden, gibt es derzeit keine Anhaltspunkte.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 467, 473 III StPO in entsprechender Anwendung.

Ende der Entscheidung

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